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- 02.01.2011
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Bigger boys and stolen sweethearts
Jeder Atemzug brannte mir in der Lunge, aber ich konnte nicht aufhören nach Luft zu schnappen. Ich kroch auf allen Vieren am Boden, tastete blind wie ein Insekt vor mir herum, nach irgendetwas, einer Tür, einem Fenster, einer Wand; um mich herum nichts als ein aschgrauer Schleier, der mich wie ein Sarg umschloss.
Endlich fühlte ich den Türrahmen, griff zu und zog meinen tauben Körper nach. Der Nebel um mich herum verschwand und das Knistern der Flammen, die sich allmählich durchs Holz fraßen, wurde vom Geschrei der Leute verschluckt. Eine kühle Brise streichelte mein Gesicht, während die Hitze noch in meinen Beinen stach. Draußen. Ich lag am Boden und versuchte den Sauerstoff in mich hineinzusaugen, musste aber sofort husten. Die Silhouetten der Leute schwankte hin und her, so, als wäre ich gerade aus einem Karussell gestiegen.
"Hi– Hilfe ..." Ich presste noch einen Schwall Luft hinunter, aber er befriedigte mich nicht.
"Hilfe!"
Ein paar Hände zogen mich hoch, ich taumelte die Treppenstufen vor der Hütte hinunter, stolperte, fing mich mit den Händen auf dem nassen Rasen ab und sog den ersten befriedigenden Atemzug in mich hinein, und er schmeckte so frisch und kalt und rein wie der erste Schluck Wasser schmecken muss, wenn man wochenlang in der Wüste umhergeirrt war und für jeden Tropfen Flüssigkeit gemordet hätte.
"Komm schon Kurt, wir müssen hier weg!"
Jemand riss mich wieder auf die Beine und zerrte mich ein paar Schritte weiter.
"Alles okay mit dir?"
Ich keuchte schwer, ließ mich rückwärts ins Gras fallen und starrte einige Sekunden lang in die Sterne. Sie funkelten, als zwinkerten sie mir heimlich zu. Ich atmete tief ein und aus, hörte den Puls in meinen Ohren pochen.
"Ja. Geht schon wieder."
Ich setzte mich in die Hocke und sah mich um. Die Leute hasteten umher, einige rannten zum Teich am anderen Ende des Gartens, schaufelten Wasser in Plastikeimer und schütteten es gegen die Flammenwand. Doch es half nichts. Wo vor ein paar Minuten noch lachende Kids im Bass badeten und auf ihre Jugend anstießen, leckten jetzt grelle Flammenzungen in den schwarzen Himmel.
"Patrick?" Eine Stimme krächzte vor mir herum, sie klang verzweifelt. "Hat jemand Patrick gesehen?"
Urplötzlich schlug mir eine eisige Hand in den Magen; etwas schoss die Speiseröhre aufwärts, ich drehte mich zur Seite, rülpste, Wasser zischte mir zwischen den Zähnen vorbei und der stechende Geruch stieg mir in die Nase.
"Ich …–"
Ihre Augen tasteten sich durch den Garten und blieben schließlich auf mir stehen. Glitzernde Tränen schossen ihr das Gesicht hinunter.
"Hast du Patrick gesehen?"
"Ich ...–"
Ich drehte mich zur Seite und würgte noch einen Schwall heraus. Selbst wenn ich wollte, ich würde es ihr nicht sagen können. Ich spürte, wie sich ihr Blick durch meinen Hinterkopf bohrte, so, als könne sie direkt in mein Gehirn blicken und wüsste es bereits. Die Flammen spiegelten sich in meiner Kotze wider und sein Geschrei hörte einfach nicht auf, in meinen Ohren nachzuhallen. Ein schauriges Gefühl biss sich in meinen Nacken fest, ließ mich am ganzen Körper zittern. Der Wind drehte sich und blies mir die schwarzen Überreste des Häuschens einen Augenblick lang ins Gesicht. Scheiße, dachte ich, jetzt ist alles vorbei, das war's dann. Ich hob meinen Kopf. Sie sah mich immer noch an.
"Hast du Patrick gesehen?!"
"Nein."
Die Hitze riss mich aus dem Schlaf. Es brauchte einen Augenblick, bis ich bei klarem Verstand war. Ich fand mich in Klamotten im Bett liegend wieder, nassgeschwitzt.
Es war August und die Depression nagte an mir wie eine Horde nasser Ratten. Ich krabbelte aus dem Bett Richtung Waschbecken, schaufelte ein paar Hände kaltes Wasser in mein Gesicht, ließ die Jalousien herunter, schmiss mich wieder auf die Matratze und steckte mir eine Zigarette an. Ich blies weiße Rauchringe in die Luft, wusste nichts mit mir anzufangen. Ich starrte auf den Wasserfleck an der Decke.
Jemand klingelte an der Tür. Ich starrte weiter auf den Fleck. Er sah ein bisschen wie der junge Bob Dylan aus, wie damals, bevor die Christen ihm die guten Songs austrieben, dachte ich mir. Den Bobby, den mochte sie auch, nachdem wir es getan hatten wollte sie immer I'll be your baby tonight hören. Ein dunkles Loch in meinem Magen sog mir jegliche Energie aus den Knochen.
Das Kreischen der Klingel nahm kein Ende. Ich stand auf und wollte sehen, welcher Penner hier so einen Lärm veranstaltete. Ich schlurfte zum Eingang und riss die Tür auf. Der plötzliche grelle Lichtblitz ließ mich kurz erblinden.
"Kurt, alles klar?", fragte eine Stimme nach ein paar Sekunden.
"Ja ... –", ächzte ich mit zugekniffenen Augen. Jetzt erkannte ich die Umrisse von Wolli und Sven. Sie tasteten mich beide mit dem selben angewiderten Blick von oben nach unten ab, als seien sie eine Person mit vier Augen.
"Bist'e schon fertig?", fragte Sven, und warf Wolli einen genervten Blick zu.
"Fertig? Wozu?"
"Für 'n See. Hatten wir doch ausgemacht, vorgestern."
"Ach so. Klar. Hab' schon die ganze Zeit gewartet", log ich. Im Glas der Tür sah ich meine zerknitterten Klamotten und meine zerzausten Haare.
Wir fuhren mit Svens Auto. Besser gesagt, mit dem Auto von Svens Mutter, denn Sven hatte seine kleine Tretmühle vor einem halben Jahr im Vollrausch gegen einen Baum gesetzt. Jetzt gestikulierte er wild am Steuer, mit Zigarette zwischen den Lippen und Misfits im Kassettenrekorder. Ein stechender Schweißgeruch schlich sich von seinen Achseln zum Rücksitz und in meine Nase.
Wir würden wohl alle nicht gerade die Art von Männern werden, die man mal hinter den Fenstern der schicken Einfamilienhäuser pfeifend Gurken schnippeln sieht, dachte ich mir. Wir waren eher auf dem Weg die zu werden, vor denen uns unsere Eltern früher immer gewarnt hatten: die, die zu viel tranken, zu schnell fuhren, zu wenig arbeiteten und dabei zu viel Glück hatten. Ich musste schmunzeln.
"Hey Kurt", schrie Wolli mit seinem breiten Froschmaul vom Beifahrersitz nach hinten und seine Schweinebacken baumelten aufgeregt hin und her. "Was lachst du denn so? Scheiße Sven, das ist das erste Mal seit Wochen, dass ich Kurts schöne Beißerchen wieder zu Gesicht bekomme!"
"Ha ha, stimmt, was is' denn so lustig Kurti?", sagte sich Sven, trommelte freudig auf dem Lenkrad herum und spitzte in den Rückspiegel.
"Ach nichts. Pass du mal lieber auf, dass du uns nich' schon wieder gegen den nächst besten Baum manövrierst. Noch ein Auto wird Mami ihrem kleinen Sveni wohl nicht zustecken!"
Sven biss mürrisch auf den Filter und presste seinen Fuß aufs Gaspedal.
Als er johlend über den Schotter in eine freie Parklücke schoss, hielten Wolli und ich den Atmen an. Die Folgen seiner überheblichen Fahrweise saß uns noch zu frisch in den Knochen.
Die Kieselsteine klapperten bei jedem Schritt unter unseren Sohlen, so wie sie es schon immer getan hatten, wenn wir hier entlangliefen. Die Sonne stand mittlerweile hoch oben am Himmel und kippte ihr gelbes Licht über den See. Wir trabten zu unserem Stammplatz – einer großen Eiche, abseits von Trubel und Imbissständen. Die Hitze begann mir langsam den letzten Tropfen Speichel aus meinem Mund zu saugen. Ich stöhnte.
"Mensch Kurti, jetzt zieh doch mal nicht so 'ne Friese", sagte Sven, lachte und klatschte mir mit flacher Hand so heftig gegen die Schulter, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. "Der See wird unseren kleinen Miesepeter schon die Mundwinkel nach oben zaubern!" Er trabte ein paar Meter zum Baum vor und setzte sich in den kühlen Schatten.
"Ja ja", keuchte ich und ließ mich neben ihm ins Gras fallen. "Gib mir lieber mal 'was zu trinken, ich verrecke gleich."
Sven kramte in seinem Rucksack herum und rieb mir ein Bier unter die Nase.
Wir setzten uns, ich nippte und schluckte das Zeug herunter. Ein paar Meter neben uns hockten drei pickelige Teenager und starrten sabbernd hinter ihren Sonnenbrillen ein paar Mädchen auf die Brüste. Es tat gut, weg aus dem Haus zu sein und den Leuten beim Leben zuzusehen. Eine friedliche Stimmung lag in der Luft.
"Also los Jungs, was machen wir?", seufzte Sven nach einiger Zeit.
"Lasst uns mal ins Wasser gehen", schlug ich vor.
"Lecker, schaut euch die mal an." Wolli nickte hämisch grinsend in die Richtung einer Mittvierzigerin mit hängenden Brüsten und eingefallenem Gesicht.
"Scheiße Wolli", fauchte ich entsetzt, "was ist eigentlich bei dir schief gelaufen? Das ist 'ne Oma und keine verdammte Milf!"
"Ach, hab dich nicht so", gluckste er, und sein dicker Bauch wabbelte freudig mit, als führe er ein Eigenleben und amüsiere sich über die komischen Vorlieben seines Wirtes.
"Dann doch lieber die da." Ich nickte einer Gruppe zierlicher Brünetten zu, die ich verschwommen in der Ferne im Wasser herumtollen sah.
"Oh ja, die sind ..." Plötzlich blieb Wolli stehen und wurde noch blasser, als er ohnehin schon war.
Jetzt blieben wir anderen auch stehen. Das verdorrte Gras pikste unter meinen Füßen. Es wären nur noch ein paar Schritte bis zum matschigen Schlick des Sees gewesen.
"Ist das nicht ...?"
"Hä? Wer?" Ich hielt mir die Hand schützend an die Stirn, kniff die Augen so weit es ging zusammen, aber die Umrisse wurden nicht scharf genug.
Wolli begann herumzustottern: "Ähm Sven, wollen wir vielleicht woanders ..."
"Ach nun habt euch nicht mal so", warf Sven ein, als auch er die Gruppe Mädchen beäugt hatte. Ich erkannte immer noch nichts.
Wolli druckste herum und warf Sven und mir nervöse Blicke zu.
"Kurt, darf ich vorstellen", begann Sven zu schwadronieren und deutete mit einer leichten Verbeugung auf die Mädchen, als sei er ein Butler in Badehose: "Verena und ihre Freundinnen."
Jetzt erkannte ich sie. Sie alberte mit irgendeinem Typen im Wasser herum, ihre dunklen Locken tanzten im Wind und ihre kleinen Brüste hüpften auf und ab, so wie sie es immer taten, wenn ich früher lüstern an ihnen herumkauen wollte. Mit einem Mal begann der einzige traurige Inhalt in meinem Magen, das Bier von gerade eben, die Speiseröhre aufwärts zu rebellieren. Ich wollte es mir nicht anmerken lassen, wollte den Harten spielen, aber der war ich gar nicht. "Ach, macht nichts, lasst uns 'ne Runde schwimmen gehen."
Ich setzte den ersten Fuß in den kalten See und sank etwas im Boden ein. "Was ist los mit euch?"
"Klar, wir kommen ..."
Wir trabten ein paar Meter ins Wasser. Ich musste mich gegen den unbändigen Drang wehren, meine Blicke in die falsche Richtung zu setzen.
"Hey! Hey Jungs!", hallte es plötzlich herüber.
Wir blieben stehen. Ich blieb stark. Mein Herz trommelte gegen den Brustkorb. Ich sah zu Sven.
Der begann zu grinsen und winkte zurück. Wolli warf mir einen mitleidigen Blick zu. Ich zog den modrigen Geruch des Sees tief in meine Lungen und ließ ihn mit aufgeblasenen Backen wieder entweichen.
"Hey! Kurt!" Jetzt war es unvermeidlich. Ich drehte mich um. Ein Mädchen fuchtelte heftig mit den Armen herum und begann zu uns herüberzuschwimmen.
"Hey. Schön dich zu sehen", log ich, als sie vor mir stand, ihre kleinen Füßen waren halb im Schlick versunken. Ich versuchte mein Gesicht so zu verformen, wie in meiner Vorstellung ein freudiges Gesicht aussehen müsste. Es fühlte sich ungesund an.
"Hey Jungs." Sie tastete uns mit ihren runden Rehaugen ab, blieb kurz bei Wollis angehenden Männerbrüsten stecken, fing sich aber wieder und lächelte schüchtern vor sich hin. "Schön euch mal wieder zu sehen."
Wir nickten fleißig. Ich wollte schlucken, aber ein Kloß in meinem Hals ließ den Speichel nicht gewähren. Jetzt sah auch Verena etwas unbeholfen drein. Ihre Pupillen schnellten aufgeregt hin und her, und ihre Zunge fand die richtigen Worte anscheinend nicht.
"Was macht ihr so?", fragte sie.
"Och nichts besonderes, w–", fing ich an, aber Sven unterbrach mich.
"Na ein bisschen unsere Sixpacks kaltstellen!" Er tätschelte gegen seine Rippen und zog ein Grinsen bis unter beide Ohren. Ich kratzte mich am Hinterkopf und beobachtete, wie die Bändel meiner Badehose im Wasser herumtollten.
Plötzlich flog mir mit einem lauten Knall ein Schwall kaltes Nass ins Gesicht, und das Geräusch von Körpern, die in Wasser plumpsen, hallte eine Sekunde lang in meinen Ohren nach. Ich zuckte zusammen, riss die Arme instinktiv vor die Augen. Ehe ich die Lage überblicken konnte, durchbrachen zwei kreischende Gestalten die Wasseroberfläche, spritzten mich erneut voll.
"Oh Patrick!"
"Ha ha ha ha ha!"
Verena presste einen Schwall Wasser aus ihren Backen und stieß einen grellen Schrei aus, den ich bei ihr nie hatte auslösen können, wie ich gekränkt feststellen musste.
"Das kriegst du zurück!" Sie lachte und faltete ihre Hände zu einer Schaufel, tauchte sie ins Wasser und knallte eine volle Ladung gegen zwei stramme Brustmuskeln.
"Ha ha ha!"
Der Kerl, der anscheinend Patrick hieß, grapschte mit seinen Bärenhänden nach Verenas Hüfte, zog sie an sich heran und presste seine Lippen auf ihre. Ich stand wie ein geblendetes Reh daneben, verstand nicht, was geschah.
"Das ist übrigens Patrick!", sagte Verena und lachte laut, während er sie versuchte hochzuheben. "Nee', lass mich mal runter!"
Sie nahm wieder Haltung an und drehte sich zu uns drei.
"Habt ihr heute Abend schon was vor?"
Ich sah zu Wolli und Sven, und die drückten sich genauso hilflos wie ich die Beine in den Arsch.
"Wir ... ähm ..."
"Hört zu, ich feier heute Abend bei meiner Oma im Schrebergarten 'ne kleine Feier, also was heißt klein, ich hätte schon Lust, dass viele kommen." Versonnen lächelte sie an mir zu Sven und Wolli vorbei. Dann schaute sie mir tief in die Augen. "Kommt doch auch vorbei, wird sicher lustig."
Ich schluckte. Es tat weh. Der Kloß rieb wie ein scharfer Stein in meinem Hals.
"Danke, aber wir haben schon was vor, Verena", murmelte ich.
"Ach Quatsch Kurt, das ... das verschieben wir gerne!" Sven zwinkerte mir von hinten zu, tätschelte mir aufgebracht auf die Schulter.
"Ne' ne', wir können nicht. Trotzdem danke."
Verenas Blick schwankte zwischen mir und Sven hin und her. Sein Tätscheln entwickelte sich immer mehr zu schmerzhaften Schlägen.
"Doch, klar können wir!" Sven zog die Augenbrauen weit nach oben. Wir tauschten aufgebrachte Blicke aus.
"Also, wie auch immer, wenn ihr Lust habt wisst ihr ja wo die Gärten sind." Patrick druckste hinter ihrem Rücken herum und wartete nur darauf, sie wieder befummeln zu können. Ich versuchte ihn nicht anzusehen.
"Wir gehen dann mal wieder zu den anderen, bis heute Abend dann." Verena warf mir mit ihren schwarzen Augen einen letzten Blick zu, drehte sich um und paddelte kichernd mit Patrick davon.
Meine Schockstarre wurde von einem plötzlichen Adrenalinstoß durchbrochen.
"Verdammt, spinnst du?!"
"Hä, was meinst du Kurti?"
Ich drehte mich um und warf Svens Hand von meiner Schulter.
"Ich hab' sicher keinen Bock den Abend mit der Verena zu verbringen, Alter!"
"Ach komm schon", stöhnte Sven und verdrehte die Augen, "mach mal halb lang. Die siehst du da gar nicht. Und irgendwann musst du die Alte auch mal vergessen."
Das Blut kochte in meinen Adern, stieg mir in den Kopf.
"Und außerdem:" Wolli kratzte sich am Bauch und nickte schmutzig grinsend in die Richtung, in die Verena gerade verschwunden war. "Schau dir mal die Freundinnen an!"
"Ja!" Sven packte mich fest an beiden Schultern, so, als wolle er mich gleich aus einem bösen Albtraum wachrütteln. "Das sind echt heiße Mädels! Komm schon Kurti, was für ein Freund bist du, wenn du uns das vermiesen willst?"
Eine Mischung aus Wahnsinn und blinder Geilheit blitzte durch Svens Augen.
"Nee', also ohne mich, Jungs. Da hab' ich echt gar keinen Bock drauf."
"Aber stell dir doch mal vor, du würdest mit einer von denen was starten! Stell's dir bloß mal vor! Was denkst du, wie das das Verenchen wurmen würde, wenn du eine ihrer süßen Freundinnen 'n bisschen anknabberst?"
Ich blinzelte zu der Gruppe Mädchen hinüber, versuchte es mir vorzustellen, verwarf den Gedanken aber schnell wieder und schüttelte den Kopf. "Ach komm schon Sven, glaubst du wirklich, die würden das tun?"
"Na klaaar!" Jetzt begann er mich tatsächlich leicht zu schütteln. "Klar wollen die das! Die sind heiß auf so was! Damit können sie vor ihren Freundinnen angeben und so!"
Ich warf Svens Hände von mir ab und sog die kühle Luft, die immer über solchen Gewässern hängt, tief in meine Lungen. Wolli und Sven durchbohrten mich mit erwartungsvollen Blicken.
"Ich weiß nicht ..."
"Komm schon, ich geb' dir 'ne Bratwurst aus, dann sieht die Welt schon ganz anders aus." Aus irgendeinem Grund glaubte ich Wolli. Wir ließen das Bad sausen und trabten zu einem Imbiss nicht weit entfernt vom Wasser.
Als die Sonne zum Horizont sank und alles in orangerotem Licht badete, schlich Sven ungewohnt vorsichtig mit seinem Auto durch ein paar Seitenstraßen und um ein paar Ecken, blinzelte ständig in den Rückspiegel und schien sichtlich erleichtert zu sein, als wir endlich auf einer kleinen Wiese vor den Gartenanlagen zum Stehen kamen. Am Steuer mit einer so miesen Fahne wäre der Lappen wohl endgültig weg gewesen.
"So Jungs, Endstation!"
Wir schmissen die Autotüren hinter uns zu und begannen in die Richtung zu marschieren, von wo aus Musik leise auf dem Wind zu uns herüberwehte.
Es dauerte eine Weile, und mit jedem Schritt verdrängte der dröhnende Bass immer mehr das Zirpen aus den Gebüschen.
Sven drückte die Klinke der Gartentür nach unten und zwei grölende Typen wankten an uns vorbei, saugten einen Moment an ihren Flaschen, holten ihre Schwänze heraus und pissten in den Nachbargarten. Wir tappten einige Stufen abwärts, liefen an einem kleinen Teich vorbei und standen schließlich vor einem Holzhäuschen, aus dem der stupide Rhythmus irgendeines Technosongs pochte. Ein paar Dutzend Leute quetschten sich in der Hütte aneinander und wippten gleichmäßig mit ihren Köpfen. Von überall her hallte das Klirren der Flaschen und das Gelächter der Betrunkenen durch die anbrechende Sommernacht. Ein paar Fackeln standen herum und tauchten alles in ein angenehmes Rot.
Sven drehte sich mit einem breiten Grinsen zu uns um.
"Yeah! Ich checke uns mal ein paar Becher aus!"
Er hob den Arm und deutete mit übertriebener Geste auf das Gartenhäuschen.
"Alles klar!"
Wir begleiteten ihn bis zu der Menschentraube, die sich vor dem Gebäude herumtrieb, schüttelten ein paar Bekannten die Hände und Sven verschwand durch die Tür zu unseren heiß begehrten Drinks. Wolli zog mich am Ärmel.
"Mann, schau dir mal die ganzen Tussis hier an", sagte er, grinste und ein übel riechender Atem zog aus seinem Mund, "lass uns mal ein paar anquatschen!"
"Ach ich weiß nich', lass uns erst mal auf unsere Drinks warten."
Ich hatte mehr als einen Zungenlöser nötig. Meine Hände kribbelten und ich konnte nicht aufhören daran zu denken, dass hier irgendwo dieser Mistkerl mein Mädchen ableckte.
Wollis dicke Backen plumpsten enttäuscht nach unten. Ich seufzte.
"Also na gut. Und welche willst du anquatschen?"
Ich kniff die Augen zusammen und schwenkte meinen Kopf einmal im Halbkreis.
"Die da!" Wolli streckte seinen Zeigefinger auf eine Clique kichernder Mädchen, die sich die Beine in ihre prallen Hintern pressten. Er strich mit seinen Wurstfingern seine Frisur zurecht, prüfte seinen Hosenlatz und atmete tief ein.
"Alles klar? Was sagst du?"
Er trippelte aus seinen Füßen herum. "Ich ähm ..."
"Hey! Wollt ihr schon ohne mich anfangen?!", ächzte es plötzlich von hinten, und Sven drückte uns jeweils einen riesigen Plastikbecher Rumcola in die Hände. "Welche Miezen wollen meine lieben Freunde hier ohne mich bezirzen?"
Wir grinsten und stießen so fest an, dass das Gesöff überlief und einen klebrigen Film um meine Finger legte.
"Die da drüben." Ich nickte in die Richtung.
"Uh, lecker. Wollis Wahl, oder?" Sven zwinkerte der Mädchengruppe zu und hob grüßend den Becher.
"Und wenn schon", protestierte Wolli, "lass mir gefälligst auch eine übrig!"
"Macht ihr nur mal", sagte ich, und spülte meinen Worten ein paar kräftige Schlücke Rumcola nach, "ich geh' mal pissen."
Ich ging ein paar Meter vom Menschenmob weg und blieb stehen, um noch einen Schluck zu nehmen. Der kalte Alkohol sickerte meine Speiseröhre hinunter und es fühlte sich für eine Sekunde lang so an, als lägen Eiswürfel in meinem Magen. Ich kippte den Rest auf meine Zunge, fummelte eine Fluppe aus meiner Hemdtasche und schmiss den Becher auf den Boden. Ich lief noch ein paar Meter vom Trubel weg in die Dunkelheit, in der Hoffnung, bald auf ein Gebüsch zu stoßen. Als ich mich kurz umdrehte sah ich, wie Sven und Wolli bei der Gruppe Mädchen standen, Wolli mit den Händen in den Hosentaschen, und Sven fuchtelte wild mit einer der vielen Fackeln umher, die die Dunkelheit vor der Hütte verscheuchten. Ich brachte die Zigarette in meinem Mund zum Brennen und stellte erschreckt fest, dass ich fast in den Teich gelaufen wäre, an dem wir vorhin vorbeigekommen waren. Ich bückte mich, zog eine Büchse Bier aus dem Wasser, riss sie auf und nahm einen großen Schluck. Es tat gut. Ich bückte mich noch einmal, zog eine zweite Dose heraus, klemmte sie mir unter dem Arm, bevor ich meinen Reißverschluss herunterzog, meinen Pimmel herausholte und mit einem lauten Stöhnen den Teich aufzufüllen begann.
"Hey!"
Erschrocken zuckte ich zusammen, die zwei Dosen fielen klappernd ins Gras. "Was machst du denn da?"
"Ich ähm ..." Ich drehte mich panisch vom Teich weg und fummelte an meiner Hose herum.
"Hi hi hi", kicherte es ein paar Meter weiter vertraut aus der Dunkelheit heraus und ich begann die Umrisse eines zierlichen Körpers zu erkennen. "Na so lange du nicht in den Teich pinkelst, ist ja alles gut."
"Ja, ähm, werde ich nicht machen." Mein Herz pochte schneller als der Technosong, der gerade aus der Anlage herüberdröhnte, und ein leichter Schwindel brachte mich kurz aus dem Gleichgewicht.
"Kurt? Bist du's?"
Jetzt erkannte ich sie.
"Hey Verena. Hatte dich gar nicht gesehen."
"Ich dachte mir schon, dass du es bist. Hab' dich gerade beobachtet, wie du hier hinter gelaufen bist."
"Oh."
Ich fummelte immer noch verzweifelt an meinem Reißverschluss herum. Das scheiß Ding hatte sich in meine Boxershort gebissen und wollte nicht mehr aufgehen. Eine peinliche Stille schlich sich zwischen uns.
"Ich, äh, ich hab' nicht in den Teich gepinkelt, ich hab hier hin ..." Ich streckte meinen Zeigefinger in irgendeine Richtung aus und deutete auf den schwarzen Rasen, "... hier hin. Oder auch da hin. Keine Ahnung."
Sie sagte nichts. Sie stand einfach da. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht lesen, es war zu dunkel. Stille.
"Naja, ist ja eigentlich auch egal."
"Mhm. Ja. Stimmt."
Jetzt ging er endlich auf. Mit einem lauten Surren riss ich den Verschluss wieder nach oben.
"Sag mal gehst du mir aus dem Weg?", fragte sie plötzlich.
"Was? Nee'. Wie kommst du denn da drauf?"
"Keine Ahnung, heute am See ... es kam mir einfach so vor. Wir sind doch noch Freunde, oder?"
Ich schluckte. Ich war froh, dass da jetzt wenigstens kein Kloß war.
"Klar sind wir noch Freunde."
"Gut!" Ich konnte in der Dunkelheit ein Lächeln erraten. "Dann ist ja alles gut zwischen uns. Und geh' bitte auf das Klo im Gartenhaus. Meine Oma wird sonst stinkig, wenn ihr Jungs hier morgen alles vollgemacht habt."
Ich versuchte zu lächeln, bückte mich und tastete den Rasen nach meinen Dosen ab.
"Also wir sehen uns, okay?", sagte sie, und ich dachte mir, wäre es plötzlich wieder letzter Sommer, würde ich dir jetzt meine Zunge in den Hals stecken, deinen süßen Arsch in meine Hände nehmen und die Welt wäre wieder in Ordnung.
"Alles klar. Ich komme gleich." Ich fand die Büchsen und hob sie auf.
Ich blieb noch ein paar Sekunden stehen, nippte am kühlen Blech und sah zu, wie sich ihr kleiner Hintern auf ihren Zahnstocherbeinen davonschlängelte. Der Alkohol fiel wie ein warmer Schleier vor meine Augen und ließ die Welt unwirklich aussehen, wie einen fremden Ort, dem man allerdings mit jedem Schluck lethargischer gegenüberstand.
Ich ging ein paar Schritte in die Richtung, in der ich Wolli und Sven das letzte mal gesehen hatte. Wieder kniff ich die Augen zusammen und suchte noch aus der Dunkelheit heraus nach meinen Freunden.
Plötzlich zuckte ich zusammen. Dieses kantige Kinn, die dunklen Haare, ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt, so mit T-Shirt, dachte ich mir. Er lachte und nippte an einem roten Plastikbecher, wie ihn die Jungs aus den Highschoolfilmen immer in den Händen halten, als Verena zu ihm herüberkam und ihre Arme um seinen Hals schlang. Ein Gefühl blinder Wut brannte in meinem Bauch. Ich fummelte in meiner Hemdtasche nach einer Fluppe und steckte sie mir an. Ich würgte den Rauch voller Hass hinunter und konnte nicht anders, als die beiden zu beobachten. Mit einer grauen Wolke pustete ich den Großteil meiner leidenschaftlichen Abneigung heraus, und was blieb, war ein Loch, das in meinem Bauch klaffte. Dieses blöde Stück, dachte ich mir, wie kann sie bloß auf so einen Penner reinfallen. Von wegen, das hier sei was ganz Besonderes. Ich stellte mir einen Augenblick lang vor, wie es wäre, jetzt einfach hinzugehen, sie wegzureißen und ihm meine knochige Faust zwischen die Zähne zu schieben. Es kribbelte in meinen Händen. Mir gefiel der Gedanke. Meine Augen brannten wütend, aber ich musste irgendwie schmunzeln. Er würde sofort umfallen, meinen rechten Haken hat keiner so einfach wegstecken können, damals in der Siebten hat das Steve, diesem ekligen Schönling, den letzten Milchzahn gekostet. Ich sah es genau vor meinem inneren Auge, da vorne, da würde er nach hinten umfallen, die Leute würden sich schockiert die Hände vor dem Mund halten, und ihr würde es vielleicht sogar gefallen. Hatte sie nicht einmal gesagt, sie mag Typen, die um ihr Mädchen kämpfen? Ich stopfte mir die Zigarette in den Mund, rieb mir ein paar Tropfen aus den Augen und schaute mich dabei hektisch in der Dunkelheit um. Wäre ja noch schöner, dachte ich mir, wenn mich jemand sieht, wie ich bei dieser Eule im Gebüsch hocke und herumheule. Ich spülte die peinliche Situation mit einem kräftigen Schluck Bier hinunter und wartete noch einen Moment ab, bis ich mir sicher war, dass meine Augen ihr verräterisches Rot abgelegt haben mussten.
"Hey Kurti!" Sven winkte mich aufgeregt zu sich. Ich schlurfte die letzte Meter über das Gras und schnipste den Kippenstummel in die schwarze Nacht.
Sven zeigte auf die drei Mädchen, die ich schon aus der Entfernung gesichtet hatte.
"Das sind: Hanna, Sophia, Julia."
Ich nickte ihnen zu, schaute sie aber gar nicht an. Alles was ich sah, waren ihre braunen Locken und ihre weißen Arme, wie süß sie nach dem Aufwachen immer neben mir aussah und wie sich die Zunge dieses Bastards jetzt gierig in sie bohrte. Eine Mischung aus Hass und Ohnmacht schoss mir durch die Venen und zog mich nach unten in den Boden. Eines der Mädchen erzählte irgendetwas, aber ich konnte nicht zuhören, ich stand da und schien hier gar nicht mehr dazuzugehören. Ich drehte mich um. Überall lachende Kids, mit ihren glatten Gesichtern und ihren 30-Euro-Haarschnitten. Und irgendwo dazwischen stand sie und fiel auf einen von ihnen herein. Ich hasste sie. Ich hasste sie für ihre Schönheit und ich hasste sie für ihre sorglose Jugend, die sie mir geraubt hatte. Wie gern würde ich es dir sagen, allen sagen, dachte ich mir, aber sie würden es nicht verstehen, sie würden darüber lachen. Der Garten entfernte sich immer mehr von mir und ich machte mir langsam ernsthafte Sorgen, den Verstand zu verlieren. Ich kippte mit zittriger Hand das letzte bisschen Bier aus der Dose herunter und knackte die nächste Büchse ein. Ich stand da, beobachtete die Horde Menschen im Garten. Es war ein großes Theaterstück in dem alle mitspielten und ich war der einzige Zuschauer.
"Mensch Kurt!" Ich zuckte zusammen. "Die Julia geht auch aufs Goethe-Gymnasium, hast du sie nicht schon mal da gesehen?"
Ich drehte mich wieder zur Gruppe zurück und sah dem Mädchen das erste Mal ins Gesicht. Sie war nichts Besonderes, ihre Haare hingen an ihrem Kopf herunter wie bei jeder anderen, und wenn sie schiss schwamm da wohl auch die gleiche Pampe wie bei jeder anderen. Sie nuschelte irgendetwas, ich vernahm die Worte, hörte aber nicht zu.
"Leute, ich bin gleich wieder da, ich muss mal eben da rein."
"Schon wieder?", fragte Wolli und verzog skeptisch sein Gesicht. "Alles klar?"
"Ja, ja. Bin gleich wieder da."
Ich taumelte über die Wiese, rempelte ein paar Leute zur Seite, griff nach dem Geländer und schwankte die Treppenstufen nach oben. Der Alkohol und der Tag am See hatten mir ordentlich Schlagseite verpasst. Plötzlich packte mich eine Hand an der Schulter.
"Mensch, Alter!" Eine modrige Bierfahne schoss mir ins Gesicht und ich erkannte Sven hinter mir. "Was is' denn los mit dir? Die Miezen da unten sind scharf auf uns!"
"Schon okay, ich hol mir 'nen Drink."
Sven beäugte mich einen Moment lang, durchbohrte mich mit seinem Blick.
"Alter, heulst du?"
"Laber nicht so 'ne Scheiße." Ich schüttelte seine Hand von mir ab und lief weiter.
Ich quetschte mich durch die tanzende Menge im Haus, immer weiter quer durch den Raum, bis zu einer Tür auf der groß WC stand.
Ich schmiss die Tür hinter mir zu und schob den Riegel vor. Atmete durch. Es tat gut hier zu sein, allein. Die tausend Augen da draußen machten mich verrückt, sie alle schienen mich anzustarren und zu sehen, was für ein Weichei ich wirklich war. Tränen schossen mir über die Wangen und ich konnte ein Schluchzen nicht verhindern. Ich klatschte mir mit der flachen Hand gegen die Backe und holte tief Luft. Komm schon, dachte ich mir, beherrsche dich Junge, das kannst du nicht bringen, nicht hier. Mit meinem Ärmel wischte ich mir die Augen trocken und fummelte schließlich eine Fluppe aus meiner Hemdtasche. Ich sah mich um. Es war ein kleines Klo, kaum zwei Quadratmeter groß, bloß ein Waschbecken und die Schüssel. Ich biss auf die Zigarette, kramte ein Feuer aus meiner Hose und sog den Rauch gierig durch den Filter. Mein Herz begann wieder etwas besonnener zu schlagen und einen Moment lang hörte ich dem Dröhnen des Basses und dem Gemurmel der Leute da draußen zu. Ich nahm noch einen Zug und ließ ihn nachdenklich aus meinen Nasenlöchern entweichen. Dieses gottverdammte Mädchen, dachte ich mir, das will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Ich dachte kurz an den letzten Sex den wir hatten, wie sie starr wie eine Leiche dalag und ich wie ein nekrophiler Idiot auf ihr herumturnte. Der Qualm füllte langsam den Raum, und für einen Augenblick fragte ich mich, was ich überhaupt an ihr fand, ehe der Gedanke daran, wie sie es jetzt wohl mit diesem Patrick trieb, wie eine stinkende Katze unter der Tür hervorkroch und mir ins Gesicht sprang. Ich steckte mir die Kippe zwischen die Lippen, zog die Hose herunter, setzte mich aufs Klo und fing an zu drücken. Ich hasste sie. Ich hasste ihn. Er hat sie mir gestohlen, dachte ich mir, er ist gekommen, hat sie mir weggerissen und will sich jetzt seinen glattrasierten Pimmel in sie stecken. Und kaum kannte sie mich richtig gut, ist sie abgehauen und lässt sich von Armleuchtern ficken. Ich presste und presste und es tat gut, es fühlte sich an, als würde ich ihm direkt einen Haufen auf seine 30-Euro-Frisur legen.
Dann plötzlich ein Knall, nein, eher ein ohrenbetäubendes Donnern von draußen. Wo vor ein paar Sekunden noch Lachen und Gläserklirren zu hören war, durchschnitt jetzt Kreischen die Luft, ein Geräusch, so intensiv wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Es war das pure Entsetzen, das aus ihren Mäulern schoss. Ich zuckte vor Schreck so zusammen, dass es mich beinahe von der Schüssel geschmissen hätte. Was war da los? Jetzt das panische Getrampel hunderter Füße, immer noch Schreie und im Hintergrund das stupide Pochen des Elektrosongs: Bumm-bumm-bumm.
Ich riss ein Stück Toilettenpapier vom Halter, wischte mir hastig den Hintern ab und zog mir die Hose wieder hoch. Irgendetwas muss da draußen passiert sein. Ein kratziger Geruch schlich sich unter der Tür durch und stieg in meine Nase. Ich ging einen Schritt vor, schob das Schloss zurück und drückte die Klinke nach unten. Plötzlich prallte eine graue Mauer gegen mich, brachte meine Augen so zum Brennen, dass ich sie instinktiv zu einem Schlitz zusammenkniff, kletterte mir den Hals hinunter und schnitt mir Rachen und Lunge auf. Das Einzige, was ich in dem kurzen Moment aufschnappen konnte, war ein Holzbalken, der von der Decke hing und von orangeroten Flammenzungen aufgefressen wurde. Ich schmiss die Tür wieder zu und hustete den Dreck aus meiner Lunge heraus, schnappte nach frischer Luft. Mein Herz hämmerte, wie ein Paukenschlag raste es mir durch den Körper und brachte alles zum Beben. Scheiße, dachte ich mir, was mache ich, der Balken liegt direkt zwischen mir und dem Ausgang. Ich blickte nach unten und beobachtete, wie dünne Rauchfäden durch den Spalt unter der Tür krochen und sich nach oben schlichen. Das alles passierte wie in Zeitlupe, meine Gedanken rasten hin und her. Ich drehte mich um und sah mir den kleinen Raum an, in dem ich festsaß. Dann hatte ich plötzlich eine Idee: Ich erinnerte mich an irgendeinen Katastrophenfilm, den ich einmal gesehen hatte, da waren Leute in einem Hochhaus von Flammen eingeschlossen und benutzten nasse Laken, um die Türen vor dem Rauch abzudichten. Ich riss mir mein Hemd von den Armen, drehte den Wasserhahn auf und hielt es unter den Strahl. Den feuchten Lumpen schmiss ich zwischen Boden und Tür. Ich stand da und starrte einige Sekunden auf meine improvisierte Erfindung. Die weißen Fliesen starrten mich von den Wänden aus an und kamen langsam immer näher. Der Geruch stieg mir weiterhin in die Nase und kratzte bei jedem Atemzug.
"Fuck, fuck, fuck!"
Ich riss das nasse Hemd vom Boden, holte tief Luft, stülpte es mir vor Mund und Nase, und drückte die Türklinke nach unten. Sie war glühend heiß und ich verbrannte mir schrecklich die Finger, aber ich nahm keinen Schmerz wahr. Dann wieder die schwarze Mauer, die mich in Sekundenschnelle wie ein schwebendes Leichentuch umarmte. Ich presste die Augenlider fest zusammen, so fest, dass ich gerade noch sehen konnte. Alles lief automatisch ab, ich schien gar nicht anwesend zu sein, das war nicht ich der da funktionierte, ich war bloß ein Zuschauer, jemand der von einem Meter über den Boden aus den Kerl da unten beobachtete. Ich rannte ein paar Schritte vorwärts, eine stechende Hitze biss sich in mein Gesicht und in meine nackten Beine. Ich nahm einen kleinen scharfen Atemzug und versuchte nicht zu husten, immer im Blickfeld der lodernde Balken in der Mitte des Raumes, an dem ich irgendwie vorbeikommen musste.
"Hey!"
Ich stoppte und versuchte mich umzusehen, konnte außer ein paar grelle Flammen allerdings nichts erkennen.
"Hey du! Hilf mir!"
Ich taumelte einen Meter auf den Mast zu und wollte sehen, wie ich ihn umgehen konnte. Plötzlich bohrte sich etwas in meinen rechten Knöchel und schmiss mich beinahe um. Ich versuchte es wegzuschütteln, weiterzulaufen, aber es klammerte sich wie besessen an mir fest.
"Hey!"
Ich senkte meinen Kopf und erkannte zwischen dem Rauch ein paar weiße Finger an mir kleben.
"Hallo?!", schrie ich, und erst kam nichts zurück, dann stachen mir zwei funkelnde Augen ins Gesicht, die unter dem Balken eingeklemmt lagen und verzweifelt nach meiner Aufmerksamkeit lechzten.
"Hilfe ...", schluchzte es, und der Druck an meinem Fuß ließ etwas nach. Der Rauch bereitete mir langsam einen leichten Schwindel, jede Sehne meines Körpers schrie danach weiterzulaufen, weg von hier, raus, an die frische Luft, doch ich bückte mich, um der Gestalt etwas näherzukommen und mehr zu erkennen. Ich schluckte. Eine unsichtbare Faust grub sich in meinen Magen. Ich blickte in ein vertrautes Gesicht und spürte seine Finger in mich bohren, als würde er flehen: Nimm mich mit, nimm mich mit!
Er schaute so hilflos aus, wie er dalag, wie er den Qualm aus seinen Augen zu blinzeln versuchte, sich wie ein Affenbaby an mich klammerte, und ich sah ihn wie er bei ihr stand, wie er in ihr steckte, ihn in sie reinhämmerte, sie fast in der Mitte durchschnitt, teuflisch dabei lachte und sie schrie, schrie vor Freude, flüsterte ihm das gleiche zu, was sie mir immer ins Ohr geflüstert hatte, ich sah wie sie beide grau dasaßen, alt, auf einer Veranda in einer Hollywoodschaukel, lachend ...
Die Atemzüge, die ich meinen Rachen hinunterwürgte, befriedigten mich nicht mehr, es war, als ob ich gar nichts einatmen würde, nur brennende Luft. Ich musste hier raus, brauchte unbedingt Sauerstoff, ehe sich der Nebel endgültig in meine Lungen fressen und mich verschlucken würde. Ich versuchte mir die Hand vom Fuß zu kicken, schaffte es nicht, holte mit dem anderen Bein aus und schleuderte meinen Schuh direkt in sein Gesicht. Schlagartig verließ die Finger jegliches Leben und ich taumelte nach links weiter, am Balken vorbei, stolperte, verlor die Orientierung, band mir das nasse Hemd provisorisch über Nase und Mund, krabbelte wie ein besoffener Hund am Boden herum, im Kreis, wollte einfach nur raus, atmen, ...
"Hier unterschreiben", murmelte er, rieb mir sein Klemmbrett unter die Nase und streckte seinen Zeigefinger auf eine weiße Stelle unten rechts. Ich kratzte meinen Namen ins Papier. Er nickte mit leeren Augen, drehte sich um, und das Klacken seiner Latschen hallte bei jedem Schritt von den kahlen Wänden wider. Ich hatte Krankenhäuser nie leiden können. Als ich die Drehtür passiert hatte, konnte ich einen Augenblick auf die ganze Stadt hinunterblicken. Ein nebliges Grau hing über den Dächern und Straßen. Die Müdigkeit nagte an meinen Knochen, lähmte mein Gehirn.
Ein grelles Hupen durchschnitt den trüben Augustmorgen.
"Hey Kurt!"
Ich drehte mich um, hob grüßend die Hand, schlenderte auf die andere Straßenseite und stieg ein.
"Na, alles wieder gut bei dir?"
Sven trat aufs Gaspedal und ich wurde in den Sitz gedrückt.
"Ja. Der Doc wollte mich noch einen Tag drin behalten, aber ich hatte da keinen Bock mehr drauf", murmelte ich vor mich hin.
"Oh. Aber nicht, dass dir noch was passiert." Er blinzelte kurz zu mir herüber. "Farbe hast du ja schon wieder im Gesicht."
Ich lächelte verlegen. So viel mütterliche Fürsorge war ich von Sven nicht gewohnt.
"Danke, dass du mich abholst."
"Hey, das ist doch das Mindeste, was ich tun kann. Deine Eltern sind noch im Urlaub?"
"Ja, bis nächste Woche. Die wollten kommen, aber ich hab' gesagt, dass ich schon wieder fit bin."
"Mhm."
Sven schoss über den Asphalt, Zigarette zwischen den Lippen, die eine Hand am Schaltknüppel, die andere hing am Lenkrad.
"Stört dich der Rauch?", haspelte er plötzlich, riss sich die Kippe aus dem Mund und schmiss sie durch das offene Fenster.
"Ne' ne', kein Stress."
Er pustete den letzten Zug behutsam nach draußen und kurbelte das Fenster hektisch zu.
"Weiß man schon etwas von ...", begann ich, brachte es aber doch nicht ganz über die Lippen. Sein Gesicht blitzte mir vor die Augen und eine eisige Hand biss sich in meinen Nacken.
"Von?"
"Na du weißt schon, was Neues vom Brand."
Brand. Ich spürte mein Herz schlagen.
Sven schluckte, strich sich mit der Hand durch seine blonden Haare und übersah ein Stoppschild. "Nee', nichts."
Eine Stille schlich sich zwischen uns. Sven drehte das Radio auf. Ich konnte beobachten, wie er die Lippen unsicher spitzte und sich an seinen Barthaaren zupfte, bevor er zum Rädchen griff und John Lennon wieder verstummen ließ. "Kann ich irgendwas für dich tun? Brauchst du was?"
Ich schaute ihn mit skeptischer Miene an. Jetzt wurde er mir allmählich wirklich unheimlich. Hatte er etwas gesehen? Nein, dachte ich mir, und verdrängte den Gedanken schnell wieder, man konnte nicht mal da drinnen einen Meter weit sehen.
"Ne' danke, danke, mir geht's echt wieder gut", sagte ich und nickte dabei mit dem Kopf, als wollte ich mir selbst zustimmen.
Der Wagen knurrte ein paar Straßen weiter und kroch schließlich den letzten Hügel zu meinem Haus hoch.
"Na dann", sagte ich und strecke ihm meine Hand hin.
"Also ... also ist alles wieder gut, oder?", fragte er mich ängstlich, und drückte seine knochige Hand in meine.
Wir schwiegen einen Moment und sahen uns tief in die Augen; es fühlte sich an, als müsste noch irgendetwas gesagt werden, als stünde noch irgendetwas im Raum, tausende Gedanken schossen mir durch den Kopf: Hatte ich ihm benebelt etwas gesagt? Erzählte man sich schon Dinge über mich? Ich wollte nach Hause, endlich schlafen können, aufwachen, darüber lachen, was für einen skurrilen Albtraum ich geträumt hatte. Ich schüttelte seine Hand ab.
"Na sicher. Bis dann."
Ich schmiss die Tür hinter mir zu und eine drückende Leere gähnte in meinem Bauch. So einsam fühlte ich mich schon lange nicht mehr. Ich drehte den Schlüssel im Schloss um, zog mir Schuhe und Hose aus und ließ mich aufs knarzende Bett fallen. Wie wir hier immer herumlagen, dachte ich mir, sie mit ihren Bananenhaaren, die hatte sie wirklich, als sie damals dieses Shampoo entdeckt hatte ... Die Übermüdung zog unangenehm an meinen Gliedmaßen. Ich faltete meine Hände unter meinem Kopf zusammen und starrte auf den Wasserfleck an der Decke. Irgendwas muss da undicht sein, dachte ich mir, denn dort wo der junge Dylan mir noch vor Kurzem zugelächelt hatte, fraßen sich jetzt ein paar dunkle Kreise ihren Weg durch die Tapete. Ich sah mir den Fleck genauer an. Plötzlich blitzten sie vor mir auf, ich sah sie ganz deutlich, zwei Augen, groß und schwarz, dieser hilflose Blick und dann hörte ich es ganz laut von meinen Wänden hallen: “Hilfe!”
Ich zuckte zusammen, keuchte schwer. Ich drehte mich um, auf die Seite. Es dauerte einige Zeit, bis sich der Puls in meinem Hals wieder beruhigt hatte. Ich schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. Langsam versank ich in der Matratze. Bananenhaare ...
Ich sprang auf, rannte zum Fenster und versuchte einen Blick auf die Straße zu erhaschen. War da nicht gerade etwas gewesen? Die Sonne stand hoch oben am Himmel und tauchte die Nachbarhäuser in ein schimmerndes Gold. Irgendein Geräusch muss da gewesen sein, dachte ich mir, ein Pochen, Knarzen, oder war es einfach die Klingel? Ich kniete mich auf den Boden, sodass nur noch meine Augen über dem Fensterbrett zu sehen waren. Polizei? Seine Eltern? Er selbst? Aber was hätte ich schon machen können, ich wäre doch selbst draufgegangen, raste es mir durch den Kopf. Mir zog es den Speichel aus dem Mund. Ich eilte vom Fenster weg, stand einige Zeit einfach nur regungslos da und kam schließlich zum Entschluss, dass ich mir das Geräusch eingebildet haben musste. Doch dann ein leises Surren. Es kam aus meinem Zimmer, es war hier drinnen. Adrenalin schoss mir durch die Beine. Ich ging zu meiner Hose und zog mein Handy aus der Tasche: eine neue Nachricht.
Ich atmete tief ein.
'Hey Kurt, geht's dir wieder gut? Komme gleich mal vorbei, Verena'
Ich schluckte. Ein kribbeliges Gefühl sackte von meinem Hals in den Bauch. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich las die Worte noch einmal: Komme gleich mal vorbei. Es fühlte sich gut an, sie zu lesen. Es fühlte sich falsch an, ich schämte mich dafür. Aber was hätte ich machen sollen, dachte ich mir, er hätte mich wahrscheinlich mit in den Tod gerissen. Ich atmete schwer, mir war schwindelig. Ich ging in die Dusche, schrubbte jedes Stückchen Haut gewissenhaft mit Seife ab, putzte mir die Zähne, schiss in die Schüssel, brachte meinen Körper wieder auf Vordermann.
"Hey."
"Hey." Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und zog mich fest an sich heran. Ein vertrauter Geruch stieg mir in die Nase, ein unbeschreiblicher Geruch, einer, den nur sie hatte. Sie drückte mich sanft von sich weg, streifte ihre Hände bis zu meiner Hüfte herunter und musterte mein Gesicht. "Gut schaust du wieder aus."
Ihre Augen sahen müde, traurig, vertraut daher, und ihr Mund formte sich zu einem schwachen Lächeln.
"Danke, du aber auch." Mir fuhr ein Schmunzeln über die Lippen. Dann verfinsterte sich ihre Miene wieder. "Tut gut dich zu sehen. Wirklich. Kann ich reinkommen?"
Wir nahmen die Hände voneinander und ich trat einen Schritt zurück.
"Na klar. 'nen Kaffee?"
"Gern."
Die graue Hitze tänzelte langsam aus unseren Tassen und verbreitete einen wohligen Duft.
"Weißt du", sagte sie, und ihre Augen begannen traurig zu glitzern, "weißt du, ich habe ihn zwar nicht lange gekannt, aber ich habe ihn echt gern gemocht." Sie senkte ihren Blick auf die Tasse, die sie unruhig hin und her schob. "Aber weißt du, an wen ich als Erstes gedacht habe, als plötzlich alle rausgerannt sind?" Ihr Blick schnellte nach oben und bohrte sich durch meinen Schädel. "An dich."
Ich hob die Tasse und nahm einen großen Schluck. Es war heiß und bitter. Es schmeckte nicht.
"An mich? Aber er –"
"Ja ich weiß", würgte sie mich ab, "und es tut mir ja auch leid, aber so war es nun mal." Eine Träne quoll ihr aus dem Auge und krabbelte die Wange hinunter. "Sei bitte ein bisschen für mich da, ich brauche dich jetzt."
Ich trippelte unter dem Tisch mit den Füßen herum. War es der richtige Augenblick? Ich musste es ihr sagen. Ich atmete tief ein.
"Weißt du, ich ..."
Sie starrte mich erwartungsvoll an. "Ja?"
Ich räusperte mich und nippte nochmal am Kaffee. Das schwarze Gesöff brannte sich tief in meine Zunge. Ich musste es endlich loswerden, ehe ich noch platzte. Ich konnte gar nichts mehr machen, es war ein Unfall, ich war unschuldig.
"Ich muss dir irgendwie was sagen, weißt du", begann ich langsam, und es fühlte sich falsch an.
"Was gibt's denn?" Sie sah verwirrt zu mir herüber.
"Naja ..."
Ihre dunklen Augen saugten mich fragend auf, ich ekelte mich vor mir selbst, ich war ein Weichei, wie lange hatte ich davon geträumt, und jetzt griff ich nicht zu. Ich konnte es ihr nicht sagen, niemals, die würden mich in den Knast stecken, in die Klapse, ich war ein Mörder, ein Triebtäter.
Sie legte ihre Hand auf meine, aber ich zog sie schnell weg.
"Was ist los?"
"Schon okay. Ich glaube du solltest jetzt besser gehen."
"Gehen?" Sie saß da und starrte mich an, als spräche ich suaheli.
"Es tut mir leid, aber weißt du, da ist nichts mehr zwischen uns, gar nichts."
Wir starrten uns einige Sekunden lang an, drifteten langsam auseinander, und es war ein solcher Augenblick, von dem man schon ehe er vergangen ist weiß, dass er einem noch ewig in Erinnerung bleiben wird.
Ich ging auf und ab, musste es endlich loswerden. Sie muss es wissen, dachte ich mir, danach würde ich mich bestimmt besser fühlen. Ich hatte keine Wahl, ich musste mich selbst retten, schließlich wäre ich da drin ja beinahe erstickt. Ich konnte sie noch riechen, ihr Geruch, er hing noch in der Luft, dort drüber, über dem Tisch. Aber was dann? Sie würde mich für immer in die Wüste schicken, würde es der Polizei sagen. Der Schweiß quoll mir aus der Stirn und kitzelte in meinem Gesicht. Ich musste etwas tun. Ich riss die Tür auf, ging um die Ecke, sprang auf mein Fahrrad und trat in die Pedalen.
"Kurt?"
"Hey Sven, hast du kurz Zeit?"
Sven sah verschlafen aus; seine Haare hingen wirr auf seinem Kopf herum, das Gesicht zerknittert, aus seinem Mund eine müde Bierfahne.
"Ja klar, sicherlich ..."
Wir gingen in die Küche. Ich hockte mich auf einen Holzstuhl. "Fuck Sven, ich glaube ich habe echt Scheiße gebaut."
Sven sackte gegenüber von mir auf die Eckbank und mir fiel auf, dass er keine Hose trug. Er starrte abwesend auf den Boden.
"Naja, auf jeden Fall ..." Es drückte in meinem Bauch, es wollte heraus, es musste heraus, ehe es mir noch erste Risse in die Schädeldecke sprengte. Ich holte tief Luft.
"Scheiße Kurt", winselte es plötzlich von der anderen Seite des Tisches herüber, "ich weiß, wer Schuld ist, dass Patrick gestorben ist."
Ich erstarrte, konnte mich nicht bewegen, nicht ausatmen.
"Du weißt es?!"
Jetzt hob er seinen Kopf, und ihm lief die Soße übers ganze Gesicht.
"Scheiße, ich hab das Drecksding abgefackelt!" Er vergrub die Augen hinter seinen Händen und schluchzte fürchterlich.
"Was? Wie, du das Haus abgefackelt?!" Ich saß mit weit aufgerissenen Augen da, konnte es nicht fassen.
"Naja es war so", sagte er, streifte sich die Tränen aus den Augen und fingerte eine Marlboro aus seiner Schachtel. "Diese Kleine da, eine von den drei Freundinnen, Sophia, weißt du, ich wollte mit der hinters Haus gehen. Und da habe ich eine von den Fackeln einfach mitgenommen, ich hab' mir ja nichts dabei gedacht, da hinten ist's so dunkel ... und dann dachte ich mir, scheiß drauf, tu's einfach, ich hab' die Fackel in die Erde unters Dach gerammt und ihr meine Zunge in den Hals gesteckt. Das ging auch gut, aber das scheiß Ding, das war uralt, hast du mal das Dach davon gesehen, das Holz war mehr als morsch ..."
Ich saß immer noch wie eingefroren da und konnte nicht glauben, was ich hörte.
"Naja auf jeden Fall drehe ich mich um, es ist keine Minute vergangen, und auf einmal steht das ganze Drecksdach in Flammen." Wieder bedeckte er mit beiden Händen sein Gesicht und versuchte sich zu beruhigen.
"Und dann?", fragte ich. "Dann seid ihr einfach abgehauen?"
"Es ging so schnell", nuschelte er und seufzte leise. "Keine drei Minuten, dann war das Ding schon voll am Lodern, und der Mast hat den armen Kerl da drinnen erschlagen ... Ich hab' die Fackel aus dem Boden gerissen und vorne hingeschmissen."
Wir saßen einige Minuten schweigend da, starrten vor uns hin. Mein Herz sprang auf und ab. Mir war kotzübel.
"Und das Mädchen?", fragte ich.
"Was meinst du?"
"Hat das Mädchen was gesagt? Diese Sophia?"
"Keine Ahnung. Ich hab die nich' wieder gesehen."
"Scheiße."
"Fuck Kurt, wenn die mich dran kriegen", winselte er und rang um Fassung, "wenn das einer herausfindet, ich habe mal gegoogelt, auf Totschlag gibt's nicht unter fünf Jahre ..."
Ich schluckte.
"Und dann kommt auch noch Brandstiftung dazu ... Scheiße Kurt, ich wollte das alles gar nicht ... Wenn die das rauskriegen, bin ich tot."
Ich starrte vor mich hin. Ein hässliches Gefühl biss sich in meinen Nacken und drückte gegen meinen Magen. Jetzt auch noch Sven.
"Kurt." Er nahm die Hände herunter und blickte mich mit eiserner Miene an. "Das darfst du keinem erzählen. Versprich's mir. Ich habe das nicht mal Wolli erzählt."
Ich beobachtete die Zigarette, die zwischen seinen Fingern vor sich hinglimmte. Blaue Rauchfäden kletterten aus der Glut und tanzten davon.
"Okay, Mann. Versprochen."
Die Sommerluft schoss mir durch die Nasenlöcher. Es roch nach frisch gemähten Rasen, so wie es hier schon immer an solchen Tagen gerochen hatte. Ich schob mein Fahrrad neben mir her und sah den grauen Pflastersteinen dabei zu, wie sie unter meinen Füßen vorbeizogen. Ich konnte nicht alleine sein, nein, nicht jetzt. Ich wollte die Zeit zurückdrehen, ihn packen, herauszerren, aufwachen und feststellen, dass alles nur ein großes Hirngespinst war, ein Bad Trip, wie damals bei den Pilzen. Sie brauchte mich und ich brauchte sie, es war egal was passiert war, früher oder später wäre alles so gewesen wie es nun mal sein soll.
Ich drückte die Klingel und wartete einen Augenblick. Jemand riss die Tür auf.
"Was willst du denn hier?!", fauchte sie, ihr Gesicht eine Maske des Hasses.
"Kann ich ... kann ich mit Verena sprechen?"
Im Hintergrund hörte ich ein lautes Schluchzten.
"Nein, sie will dich jetzt nicht sehen."
"Ich, ich ...", stotterte es aus meinem Mund.
Sie kam um die Ecke und schob ihre Mutter zur Seite.
"Ist schon gut Mama. Was is' Kurt?"
Ich sah sie an, ihre waren Augen rot, das Gesicht fahl, mehr grau als blass, ein zerknülltes Taschentuch in ihrer Rechten. Wir starrten uns an. Ich wusste, was ich wollte, wusste es so sicher wie noch nie in meinem Leben, jede Sehne meines Körpers flehte danach. Doch etwas stand zwischen uns, mehr als am See oder im Garten zwischen uns stand. Er lag genau da, auf der Türschwelle vor unseren Füßen, sie schaute blind über ihn hinweg, doch ich konnte ihn sehen, wie seine Augen nach meiner Aufmerksamkeit lechzten, ich spürte, wie seine Finger sich in meinen Knöchel fraßen.
Ich konnte es nicht sagen. Sie gehörte gar nicht mehr mir, sie war jemand anderes, nicht die Verena mit den Bananenhaaren, mit der ich daliegen und I'll be your baby tonight hören würde.
"Nichts. Sorry."
Ich drehte mich um, nahm mein Fahrrad von der Hauswand, schob es ein paar Meter, blieb stehen. Ein Schwall schoss aus meinen Mund und es schmeckte so scharf und widerwärtig wie die Tage zuvor.
Das Fahrrad knarzte, als ich mich darauf schwang und mein Gewicht in die Pedalen stemmte. Es war schwierig, einer von ihnen zu sein. Einer, der zu viel trank, zu schnell fuhr. Zu wenig arbeitete. Und dabei zu viel Glück hatte.