Big Brother
Großer Bruder
Schuld gehört zum Leben wie der Mensch. Wieviel ich annehme, entscheide ich selbst. Aber wenn du noch extra Schuld oben drauf schichten möchtest, dann tauche ich weg. Wegtauchen ist besser als untergehen. Doch eine Schuld muss ich tragen, eine Schuld so schwer, wie die Bomberjacke im eichenfurnierten Einbauschrank im Kellerzimmer. Schlammig grün, brauner, echter Fellbesatz, authentisch und unheimlich f* cool.
Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal hineintauchte in die Jacke, sie mir überstreifte wie ein zweites Leben. Unverzüglich fühlte ich mich groß, mutig, stark, auch wenn mir die Ärmel bis zu den Knien hingen und das Gewicht schon damals auf meinen Schultern lastete wie ein zweites Gewissen. Ich wusste, mit dieser Jacke konnte ich aufrecht bleiben, musste ich aufrecht bleiben. Ich straffte meine Haltung. Bauch rein, Brust raus, Kopf hoch, Augen gerade. So hatte die Schuld keine Chance.
Mein Bruder Jan hatte mir gezeigt, wie man mit der Bomberjacke im Keller in ein anderes Leben schlüpfen konnte. Jan mit seinen zarten Händen, der schon verschwand in den weiten Klamotten, die er am liebsten trug und in der Bomberjacke so verletzlich aussah, als müsste der robuste, raue Stoff ihn beschützen. Auch ich war klein für mein Alter, eher schmächtig, musste Brille tragen und oft war mir einfach zum Weinen zumute. Ob ich tatsächlich gehänselt wurde oder mir alles nur einbildete ist heute eigentlich egal. An was ich mich genau erinnere ist nur die Reaktion meines Vaters. Denn für ihn war nur ich alleine schuld an meinem Weinen. „Echte Kerle weinen nicht“, sagte er und ignorierte was auch immer ich ihm gern erzählt hätte.
Bevor mein Schluchzen schlimmer werden konnte, zog Jan mich in den Keller, ließ mich in die Fliegerjacke schlüpfen und wir verbrachten Stunden auf gemeinsamen Expeditionen und Abenteuerreisen. Abwechselnd durfte dann derjenige die Jacke tragen, der mit der nächsten bahnbrechenden Idee die Geschichte vorantrieb. Meist war es Jan. Doch das störte mich nicht. Ich liebte seine Geschichten und seine Art, mich durch seine Fantasiewelt aus der Realität zu entführen. Denn Jan war nie überheblich oder bevormundend, er war feinfühlig und fürsorglich und machte mich in unseren gemeinsamen Abenteuern zum noch viel größeren Helden als sich selbst. Jan hatte die Jacke verdient. Denn er hatte schon damals mehr Mut, war damals schon mehr Mann als ich es vermutlich je sein werde.
Im Zweiten Weltkrieg hatte der Großvater die Jacke getragen. Luftwaffe. Vater war stolz darauf. „Das war Fliegen, das waren noch echte Männer“, erklärte er immer wieder. „Ohne Kompass und Geräte. Die Piloten von heute, das sind doch nur bessere Omnibusfahrer. Dein Großvater ist mit den Sternen geflogen.“ Und gemeinsam simulierten Jan und ich mit dünnen, ausgestreckten Armen einen Kampfflieger der unter dem Bombenhagel des Feindes wegtauchte und dann abhob in Richtung Venus, Mars oder Nordstern. Vater und Großvater zeigten uns lachend mit ihrem brummenden Bass die Richtung. „30 Grad Südsüdwest, Achtung - Angriff, abtauchen, Jetzt Sturzflug. Nase nach unten, durchstarten jetzt, schnell Jungs - ab nach oben!“ Schnell Jungs, ich erinnere mich an das breite Grinsen, dass sich bei diesen Worten immer auf Jans Gesicht abzeichnete. Ich weiß nicht, ob Vater und Großvater es bemerkten. Ob sie überhaupt bemerkten, wie wichtig ihre Aufmerksamkeit, ihre Bestätigung für Jan war. Während ich; ich wäre am liebsten ihren durchdringenden Blicken durch eine dichte Wolkendecke entschwunden, samt meiner Brille und meinen schmächtigen Jungs Armen, die nie im Leben als Flügel getaugt hätten.
Damals hatte ich keine Worte dafür, aber heute weiß ich, dass schon immer ein dichter grauer Schleier zwischen uns hing. Ein Schleier gesponnen aus Unverständnis und unerfüllten Erwartungen. Erwartungen, die sich schnell hätten auftürmen können zu einem dunklen Gebilde - Blitz und Donner spuckend, wären sie eingefordert worden. Gerne hätte ich mehr gewusst über diese Zeit als Großvater über den Wolken über allem erhaben war. So erschien es uns als wir Kinder waren. Großvater, der Pilot, der Held, der Mann. Die Wahrheit, das Schweigen, die Schuld, das alles konnten wir uns erst zusammenreimen, als wir in der Schule mehr über die Zeit des Zweiten Weltkriegs lernten. Da waren Bomben auf unschuldige Zivilisten geworfen worden, statt auf militärische Ziele, eben weil es keine Navigationsgeräte gab – und die Piloten die Sterne vermutlich doch nicht immer richtig lesen konnten oder sich an falschen Ortsmerkmalen orientierten. Ich erinnere mich, wie die vielen Fragen in mir begannen sich zu einem dicken Knoten zusammenzuschnüren. Denn aus Angst vor den sich entladenden Sturmwolken konnte, ja durfte ich sie nicht stellen. Meinem Vater nicht. Und Großvater erst recht nicht. Manchmal fragte ich mich, ob sie eigentlich selbst viel voneinander wussten. Oder ob es auch zwischen ihnen dunkel war und still. Für immer: Die Ruhe vor dem Sturm.
Vater und Sohn, Stein und Felsen, hart und noch härter. Männer der Tat. Steingraue Augen, der eine Bart braun meliert, der andere bereits silbergrau. Und Hände, riesige Hände. Ich brauchte sie nur anzusehen, um mich in Sicherheit zu fühlen. Diese Hände konnten alles, Drachen reparieren, Vogelhäuschen bauen, verrostete Ketten wieder zum Laufen bringen und wir waren stolz auf sie, mit Sicherheit nach außen. Denn da ließ sich vieles zeigen. Unser Baumhaus, die Seifenkisten, das zusammengeschweißte Kettcar. Stolz grinsten wir auf den Fotos vor den hochglanzpolierten Sportpokalen unserer Väter, huckepack von ihren starken Schultern vor majestätischen Gipfelketten. Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass wir viele gute Erinnerungen an unsere Kindheit haben. Nur Innen, da hätten wir uns mehr Zärtlichkeit gewünscht, Wärme, Geborgenheit. Die zeigte sich fast nie, und wenn nur sehr verhalten. Vermutlich stimmt es nicht, aber ich glaube mich an jede Gelegenheit erinnern zu können, wenn diese großen schwieligen Hände mir sanft durchs Haar strichen. Und jedes Mal fragte ich mich, was sie dabei spürten. Ob sie überhaupt etwas spürten?
Spürten sie den stillen Aufschrei meines Bruders, der als meine Schwester geboren nie akzeptieren konnte, dass seine Hände so zart waren, seine Schultern so schmal. Der so verloren war mit dieser inneren Dissonanz, dass er nicht die Stimme finden konnte, diese zu artikulieren. Vielleicht wäre einzig die Fliegerjacke als Beweisstück schwergewichtig genug gewesen, um sichtbar zu machen, was so unaussprechbar war. Aber das wusste ich damals nicht. Oder vielleicht wusste ich es, aber wollte es mir nicht eingestehen. Denn ich wollte die Jacke, ich war der Mann, dem der nächste Bart wachsen und dessen Hände schwielig und schwarz werden würden von der Arbeit mit Lötkolben, Schmiere und Öl. Und Jan? Der wusste ja selbst nicht was er war.
Ich war der einzige, der wusste, dass Jan kein Mädchen sein wollte, kein Mädchen war. Aber was war er dann? Mit seinen zarten Händen und schmalen Schultern war er mittlerweile einen guten Kopf kleiner als ich. Und obwohl ich immer noch eher schmächtig war und zu schnell in die Höhe geschossen recht schlaksig und unbeholfen daherkam, war ich doch längst um einiges stärker als Jan.
Ich dachte an die großen, schwieligen Hände von Großvater als ich Jan klarmachte, dass niemals er um die Jacke bitten konnte. Wir mussten zu diesem Zeitpunkt beide Teenager gewesen sein, jedenfalls längst zu alt für Fantasiereisen im Keller. Es war Zeit für mich mein zweites Leben nach außen zu tragen, das, in dem ich stark war und mutig, ein Pilot, der nicht nur nach den Sternen greifen, sondern sich auch an ihnen orientieren konnte. Kurz: Ich hatte mich in die ersten Mädchen verguckt und diese Fliegerjacke schien mir die einzige Möglichkeit, sie von meiner wahren Männlichkeit zu überzeugen. Aber Jan gab nicht klein bei. Schließlich sei er der Ältere, ihm stehe die Jacke zu. Außerdem sei er derjenige, der die Jacke entdeckt und der mich eingeweiht hatte in die Welt von Heldentum und Männlichkeit.
Du bist doch gar kein richtiger Mann und du wirst auch nie einer sein. Warte, bis ich Vater und Großvater von Jan erzähle.
Das saß. Jan starrte mich stumm und wütend an. Das wirst du nicht.
Doch schon hatte ich mir die Jacke geschnappt und stürmte wie ein Düsenjet die Treppen nach oben, wo Vater und Großvater sich gerade ein Hockeyspiel reinzogen.
Wir brauchen eine Entscheidung, keuchte ich völlig außer Atem. Wer erbt die Jacke, Janine oder ich? Vater und Großvater sahen sich fragend an.
Der nächste Mann in der Familie sagen sie dann. Wie erwartet.
Im Rückblick kann ich Jan noch genau vor mir sehen wie er dastand. Er sagte kein Wort, die zarten Hände zu Fäusten geballt, die schmalen Schultern angespannt. Ich glaube in diesem Moment hätte ich jeden Kampf gegen ihn verloren. Aber ich kämpfte nicht, gab ihm nicht mal die Chance, mich herauszufordern. Stattdessen schaute ich weg, tat so, als würde auch mich auf das Hockeyspiel konzentrieren. Dabei fühlte ich mich furchtbar. Weshalb schaffte ich es nicht in diesem Moment ein wenig feinfühliger zu sein. Ich hätte Jan einfach die Jacke überreichen können, ich hätte ihm – wie er damals mir – die Möglichkeit geben können mit der Jacke in ein zweites Leben zu schlüpfen, in eine andere, in seine echte Identität. Aber ich tat nichts, starrte nur mit glasigen Augen auf das Spiel, das Vater und Großvater lautstark kommentierten. Aus dem Augenwinkel sah ich wie Jan mir einen verächtlichen Blick zuwarf. Dann streckte er die Arme aus wie zu unseren besten Kampffliegerzeiten und segelte nach draußen. Es sah dermaßen dämlich aus. Mir war alles andere als nach fliegen zumute. Abgeschossen fühlte ich mich. Die Jacke kratzte, war schwer, mir war heiß, meinen Wangen glühten. Ich wünschte, mir hätte jetzt einfach jemand eine runtergehauen. Aber es geschah einfach nichts. Nur die Jacke wurde schwerer und schwerer. Ich straffte meine Haltung. Bauch rein, Brust raus, dachte ich. Kopf hoch, Augen gerade. So hatte die Schuld keine Chance.