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Big Brother, die alte Sau
Wir taten es immer bei Kai auf dem Dachboden.
Äußerste Vorsicht war geboten, nicht auszudenken, seine Eltern hätten uns dabei erwischt. Da sie in der Partei waren, hätten sie uns wohl, ohne mit der Wimper zu zucken, verpfiffen.
Ja, es waren harte Zeiten für Freigeister und Experimentierfreudige.
„Ich weiß nicht, kann ich nicht erst mal nur zugucken?“
„Paula, jetzt hab dich nicht so! Du wirst sehen, es ist die natürlichste Sache der Welt.“
Es war heute ihr erstes Mal. Jetzt waren wir schon zu dritt. Nicht ohne Stolz hatte ich sie Kai vor der Haustür präsentiert. Seinen skeptischen Blicken zum Trotz, schob ich sie an ihm vorbei, die Treppe hoch, wo Kai die Dachbodenleiter schon heruntergeklappt hatte.
„Warum machen wir es denn auf dem Dachboden?“, fragte Paula.
„Willst du etwa, dass wir durchs Fenster beobachtet werden? Außerdem würden heruntergelassene Rollläden bei den Nachbarn nur unnötiges Aufsehen erregen“, entgegnete ich.
„Na gut“, seufzte sie und schob ihr nacktes Hinterteil die Leiter hoch.
„Hast du die Tüte?“, fragte ich Kai.
„Hier“.
„Lass mal sehen“, gierte Paula. Sie schien langsam aufzutauen.
Es waren zwei T-Shirts, eine bunte Batikstoffhose und – für mein Empfinden schon ziemlich verdorben - eine gerippte Herrenunterhose mit Schlitz.
„Ich will zuerst!“
Voller Aufregung hüpfte ich auf einem Bein und versuchte dabei, die mir etwas zu enge Unterhose hoch zu ziehen. Die anderen nahmen sich auch ein Kleidungsstück und die Anprobe konnte beginnen. Sie stellten sich dabei nicht weniger blöd an.
„Du Idiot, das ist eine Hose!“
Kai war schon mit den Armen durch und suchte nun stöhnend nach dem Kopfloch. Ich musste bei dem bescheuerten Anblick lachen und steckte auch Paula damit an.
Sie sah so verdammt gut aus in dem T-Shirt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, sich zu bedecken. Sie war schon ein richtiges Luder.
Kai hatte aufgegeben und warf die Hose in die Ecke.
„Scheißteil, warum klappt' s bei mir nicht? Muss man sich vorher einölen oder so?“
„Du musst es anders herum nehmen, es ist für die Beine und deinen …“
„Was ist denn hier los?“
Der Kopf von Kais Mutter war plötzlich in der Luke erschienen.
Mit offenen Mündern standen wir da.
„Erwin, sie haben sich … angezogen!“, schrie die Mutter, deren Entsetzen sich zunehmend in blanke Wut wandelte.
„Waaas?“, hörten wir Erwin brüllen.
Oh Mann, wir waren am Arsch, so viel war sicher.
…
„Wo haben Sie das her?“
Mit einer riesigen Zange hob der Beamte mir die Unterhose vor die Nase.
„Ähm, von so einem Typen, hab' ihn nur das eine Mal getroffen.“
Die Funzel erhellte so gut sie nur konnte die Betonwände des Verhörzimmers. Der einzige Wandschmuck stellte das allseits bekannte Portrait Unseres Verführers da. Er schien sich über das Häufchen Elend, was ich nach vier Wochen Untersuchungshaft darstellte, sichtlich zu amüsieren.
„Wo war das?“
Der fette und behaarte Bauch des Beamten drückte sich gegen den Schreibtisch.
„Im Stadtpark.“
„Uhrzeit?“
„So um die Mittagszeit“, gab ich kleinlaut zu.
„Was? Am helligsten Tage? Sie wissen doch bestimmt, dass der Park erst um 22.00 Uhr öffnet.“
Ich war den Tränen nahe. Einerseits hoffte ich, durch meine Kooperation mir Pluspunkte einhandeln zu können, andererseits sprachen die Fakten gegen mich. Der Bulle blies sich jetzt zu seiner vollen Größe auf.
„Wieso können Sie es nicht wie ein anständiger Bürger nachts in den Hecken treiben? “
„Ich schwöre, ich mach' s nie wieder“, heulte ich los.
Genüsslich holte er eine Zigarette aus seinem Brustbeutel und steckte sie sich an. Das hier schien ihm echt Spaß zu machen.
„Zu spät für Reue, mein Lieber. Diese Schandtat wird selbstverständlich zur Anzeige gebracht.“
Er blies mir den Rauch ins Gesicht.
„Unser Geliebter Verführer, immer das Wohl des Volkes im Sinn, hat im Gesetzbuch unmissverständlich angeordnet, dass ein jeglicher Missbrauch von Kleidung mit der öffentlichen Demütigung des Verbrechers und nicht unter fünf Jahren Zuchthaus mit anschießender Sozialisierungsmaßnahme in einem staatlichen Freudenhaus zu ahnden ist. Waren Sie sich dessen nicht bewusst, bevor Sie sich mit Ihresgleichen … vergnügt haben?“
Ich nickte.
Vor meinem geistigen Auge sah ich mich schon durch die Straßen ziehen, mit gesenktem Haupt und dem Schild um den Hals:
„Kleiderträger sind Attentäter!“
Alle Welt würde wissen, was ich getan hatte. Ich war nun ein Sittenstrolch und würde mich erst nach jahrelangem Zwangsgeschlechtsverkehr von diesem Ruf befreien können.
All meine Ideale, mein feines Schamgefühl, alles hoffnungslos verloren!
Der Beamte lächelte. Er hatte mich genau da, wo er mich haben wollte. Schließlich sagte er langsam:
„Es gäbe da aber noch eine Möglichkeit … .“
…
„Hast du den Stoff?“
„Und hast du die Kohle?“
Langsam öffnete er die Brusttasche. Er tat mir irgendwie leid, dieser Teenager. Mag sein, er war nur ein Opfer der Gesellschaft. Aber Gesetz war Gesetz. Wo kämen wir hin, wenn jeder seinen Neigungen nachginge?
Als ich das Geld in der Hand hielt, zählte ich kurz und sagte beiläufig:
„Zugriff!“
In Sekundenschnelle schossen aus sämtlichen dunklen Ecken Regierungsbeamte hervor. Noch bevor der Teeny „auf was?“ sagen konnte, lag er mit Handschellen an den Gelenken auf dem Bauch.
„Tja, Kleiner. Verbrechen lohnt sich nicht. Du bist hiermit verhaftet. Heil dem Verführer!“
Das war mein Standardsatz. Zeit sich vom Acker zu machen.
...
„Konstantin, reichst du mir die Butter rüber?“
„Jawohl, mein Vater!“
Wir saßen am Frühstückstisch. Annegret, meine Frau, lächelte mir zu.
„Weißt du, dass unser geliebter Verführer heute Abend im Fernsehen eine Ansprache hält? Das wird bestimmt ein prachtvoller Anblick“, sagte sie.
„Gut, dass wir letzte Woche das 3-D-Fernsehgerät gekauft haben, mit High Defenition!“
„Ich bin so stolz auf dich, mein Mann. Kein Wunder, dass du von der Partei ausgezeichnet worden bist.“
Ich blickte auf den eingerahmten Zeitungsartikel an der Wand.
„Ich war nicht immer der Vorzeigegebruder von heute. Aber, ich habe aus meinen Fehlern gelernt.“
Mein Sohn schaute mich mit fragendem Blick an.
„Guck nicht so!“ herrschte ich ihn an. „Du isst jetzt dein Müsli auf, dann wirst du hoch auf dein Zimmer gehen und dir brav einen runter holen!“
Es klingelte an der Wohnungstür. Annegret kam mit einem Brief in der Hand zurück.
„Er ist von der Alleroberwichtigsten Parteizentrale!“
Ich öffnete das Schreiben mit dem Messer.
„Gebruder Soundso, es ist uns eine Ehre blablabla …!
„Sag schon, was steht drinnen!“
Ich schaute sie fassungslos an.
„Ich wurde eingeladen, zu Ihm!“
Wir blickten auf das XXL Gemälde unseres Verführers über dem Fernseher. Wohltuend und gnädig lächelte er auf uns herab.
…
Mit feierlichem Scheitel und frisch gestutzten Schamhaaren wurde ich vom Kammerdiener in Empfang genommen. Ich betrat das Portal des Hauptturmes der Alleroberwichtigsten Parteizentrale, welcher die Nachahmung eines gewaltigen Phallus darstellte. Ich war schon ein richtiger Glückspilz. Zu Propagandazwecken wurde jedes Jahr ein gewöhnlicher Gebruder wohlgesonnener Art zum Verführer geladen. Ich hatte dies stets als reine Publicity abgetan und die Überraschung war nun um so größer, dass das Los ausgerechnet auf mich gefallen war.
„Setz' dich, Gebruder!“
Ich nahm brav auf der Sitzgelegenheit platz, die Ähnlichkeit mit einem Frisörstuhl hatte.
„Während der Fahrt nicht heraus lehnen und angeschnallt bleiben!“
Ich nickte stumm. Im selben Moment schoss der Stuhl samt mir durch ein winziges Loch in der Decke und kam nach einigen Sekunden abrupt wieder zum Stillstand. Er stand nun mitten in einem festlich pompösem Saal, der vor lauter Goldgeplänkel und Schnörkeln geradezu strotzte.
Allmählich löste sich mein verkrampfter Griff um die Armlehne und ich schnallte mich ab.
„Ah, da ist er ja!“
Als ich mich umdrehte sah ich einen Mann auf mich zu kommen. Er wies eine frappierende Ähnlichkeit mit mir selbst auf und war - ich rieb mir die Augen und schaute ein zweites Mal - bekleidet, und zwar von Kopf bis Fuß! Schnell senkte ich meinen Blick.
„Na kommen' s schon. Ich beis' net.“
„Bringen Sie mich zu Unserem Verführer?“, fragte ich verlegen.
„Naa, ich bin' s doch!“
„Aber im Fernsehen...“
„Ah geh, des is' doch nur ein Schauspieler, ein recht überzeugender, finden' s net?“
„Ja, ja, er ist sogar auf der Bettwäsche meines Sohnes.“ Ich war nun doch einigermaßen verärgert, ob so einer Massenverblödung. Dies sollte also unser Verführer sein? Ein Kleiderträger mit österreichischem Dialekt?
„Sein' s ma net bös! Ich steh nun mal net so gern vor der Kamera. Stelln' sich' s vor, wie des ausschauen würd', mit all den Kleidern.“
„Aber, „Nacktheit für alle!“ So steht' s doch im Gesetzbuch und das haben doch Sie verfasst!“ Jetzt war ich richtig sauer.
Er tätschelte meine Schulter.
„Lieber Freund, sie g' fallen mir. Sie haben Mumm, net wie die andern. Und gut schaut er auch noch aus. Na kommen' s, ich erklär' s Ihnen!“
Wir gingen die Halle herunter, bis wir an seinem Büro angelangt waren. Dort nahmen wir an dem kolossalen Schreibtisch platz, auf dem ein geschmackloses Porzellaneinhorn stand.
„Ein G'schenk meiner Mutter. G'fallt' s Ihnen?“
Ich lächelte bemüht.
Er gab mir eine Zigarre und steckte sich auch eine an. Schmauchend und zur Decke blickend sagte er:
„Jetzt sann ma unter uns. Schauns, es is' ganz einfach: Wenn man der Große Verführer sein will, muss man als aller erstes selbst davon überzeugt sein, verstehen' s?“
„Ja sicher ...“
„... Und deshalb hab' ich mir das Kleiderverbot einfallen lassen.“
Er schmunzelte. „Wie könnt' man auch glaum, dass einem a Haufen Nacktärsch' g'fährlich wer' n könnt?“
„So jetzt reicht' s!“ Ich donnerte die Zigarre auf den Tisch.
„Ja was hat er denn auf ein mal?“, fragte der Verführer unbeeindruckt.
„Sie, Sie sind eine alte Sau!“
„Z-z-z, aber bittschön, nun sein' s do' net so fahrig!“. Ein süffisantes Lächeln zeichnete sich bei ihm ab.
Genug war Genug! Ich sprang auf den Schreibtisch, griff nach dem Einhorn und hielt es bedrohlich dicht vor sein Auge.
„Ausziehen, und zwar alles!“
Nur noch eine verkrampfte Unterkiefermuskulatur blieb vom seinem Lächeln übrig. Das hatte er wohl nicht von mir erwartet. Langsam rann eine Schweißperle die Schläfe herab.
„Aber, wieso denn, mein lieber Freund?“
„Schnauze halten und Kleider her!“
…
„Mein Verführer, melde gehorsamst, dass alles vorbereitet ist. Die Massen sind angeheizt und die Fernsehkameras auf Position. Sie können nun mit der Ansprache beginnen.“
Ich gähnte. Lange schon war mir die Lust an solchen Veranstaltungen vergangen. Als ich den Schauspieler gefeuert hatte und das Volk seinen neuen Diktator feierte, war es noch irgendwie amüsant. Aber dann wurde es Alltag und es kamen die Kopfschmerzen. Es widerte mich an, dieses grölende Pack. War wohl mal wieder an der Zeit, die Gürtel enger zu schnallen, natürlich nur im übertragenden Sinne.
„Doppelgänger!“ rief ich.
„Ja, mein Verführer?“
„Erzählen Sie denen was von einer neuen Front, Rückschläge und so weiter. Dass wir jetzt sparen müssen und mit weiteren Kürzungen zu rechnen ist. Ich hab' heut' Migräne.“
„Jawohl, mein Verführer.“
„Und, Doppelgänger?“
„Ja. Mein Verführer?“
„Ja hopp, beeilen Sie sich g' fälligst a bissal!“