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Beziehungs-Weise
- Ein Tag wie jeder -
Der Abspann des Sonntagabendfilms flimmert über den Bildschirm. Tom gähnt und streckt sich.
„Ich geh‘ jetzt Zähne putzen“, sagt er, „würd‘ mich freuen, wenn Du mich joinen würdest.“
Der Satz sickert durch meinen Kopf. Was hat er da gerade gesagt?
„Was hast Du grade gesagt?“
„Würd‘ mich freu‘n, wenn Du mich joinen würdest.“
In meinem Hirn rattert's. „Warum soll ich Dich Joy nenn‘n?“, frage ich ihn betont langsam und deutlich.
Nun schaut er mich mit fragendem Blick an. „Du willst mich Joy nenn‘n?“
„Du hast doch grad gesagt, du würdest Dich freu‘n, wenn ich Dich Joy nenn‘n würde!?“
Gelächter bricht aus. Viel eher bricht er in Gelächter aus, bis ich plötzlich auch verstehe und wir beide Tränen lachen.
Das macht er immer. Er liebt es, Worte neu zu erfinden. Er schafft es, sie bis zur Unkenntlichkeit so zu verändern, dass andere ihn für einen Wort-Legastheniker halten, der nicht einmal im Ansatz die deutsche Sprache zu beherrschen scheint.
Als ich endlich fertig bin im Bad, liegt Tom schon im Bett und döst. Ich brauche immer länger als er. Ein Pickelchen hier, ein Pickelchen dort, nochmal Pippi, Nägel schneiden, Cellulite betrachten und sich darüber ärgern.
Ich setze mich auf die Bettkante und ziehe mir die Socken aus. Oskar, unser Kater, beobachtet mich bei meiner alltäglichen Prozedur, als würde es, abgesehen von einem laufenden Wasserhahn, nichts Spannenderes auf der Welt geben.
Kaputt lasse ich mich rückwärts aufs Bett fallen und kuschle mich - und vor allem meine Füße - in die Decke ein. Sie hängen jeden Abend eisblockartig an meinen Beinen, als würden sie nicht mehr zu mir gehören. Ein Phänomen, das viele Frauen begleitet. Endlich, denke ich bei mir. Der Kater schmeißt sich mit der Eleganz eines Nilpferdes auf meinen Bauch und schnurrt wie ein Brummkreisel. Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob er sich seiner Herkunft und Tierart bewusst ist. Ob er wohl weiß, dass er eine Katze ist?
Die Schlafzimmertür steht offen. Die Zeitschaltuhr des Flurlichtes legt alles in Dunkelheit.
Alles? Genervt fällt mein Blick auf die Tür des Heizungsraumes. Ihr Spalt wirft Licht auf den Laminatboden im Flur.
„Schatz!", quengel ich und hole durch die Nase Luft, "stört es Dich, wenn ich das Licht im Heizungsraum jetzt ausstelle?“ Die vorwurfsvolle Ironie in meiner Stimme ist unverkennbar. Oder?
„Ja. Machst Du bitte das Licht aus?“, nuschelt er, „ich hab‘s ja schließlich schon angemacht!“
Und damit dreht er seinen Kopf, gräbt ihn ins Kissen und schläft weiter.
Willkommen in meiner Welt.
Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Karla, Mittdreißigerin, kinderlos, ledig, berufstätig, aber stolze Besitzerin zweier Katzen und eines hochgewachsenen Franken.
Ich habe - abgesehen von etlichen Wollmäusen und dem ein oder anderen Silberfischchen - drei Mitbewohner: Hexe, Oskar und Tom.
Tom ist zuerst bei mir eingezogen. Ihm folgte Hexe, unsere erste gemeinsame Katze. Zu guter Letzt vervollständigte Oskar unsere WG, ein kleiner Kater.
Ich habe Tom über eine der zahlreichen Singlebörsen im Internet kennen gelernt. Er mit dem Nicknamen „kino_freak“, ich mit „Diätunterbrecher“. Wir haben ein paar Tage lang Mails und SMS‘ hin und her geschrieben und stundenlange Telefonate geführt, bis wir uns schließlich spontan zu einem Treffen entschieden. Ein Sonntagabend, Mitte März. Ich schlug einen See in meiner Nähe vor. Auf dem Weg dorthin telefonierte ich mit meiner Freundin.
„Ja, echt. Wir treffen uns jetzt!“ Ich verspürte ein Kribbeln in meinem Bauch.
„Und wo?“
„Am Blauen See.“
„Was? Wo?“, Caro war entsetzt, „es is‘ arschdunkel und da gibt‘s keine Laternen, das kannste doch nich‘ machen. Was, wenn der dich verschleppt oder so? Sei bloß vorsichtig.“
Ich hielt es für eine romantische Idee – bis zu diesem Zeitpunkt. Ich kam ins Grübeln.
„Meinste? Hab mir da gar keine Gedanken drüber gemacht.“
„Nee. Echt ma'. Trefft euch doch lieber inner Stadt, wo vielleicht auch‘n paar Leute sind oder so. Wer weiß, was das für Einer is‘. Du kennst ihn doch gar nich‘.“
Ich musste schmunzeln. Da war sie wieder, meine übervorsichtige Freundin. Aber ich lenkte ein und wir überlegten uns einen neuen Treffpunkt. Dann gab ich Tom schnell per SMS Bescheid. Es stellte gar kein Problem für ihn dar, insgeheim war er sogar erleichtert – aber mehr dazu später.
Das machten Caro und ich immer so: Wenn ein Date mit einem dieser Typen aus dem Internet anstand, gab ich alle Infos, die ich über ihn hatte, an sie weiter, besprach mit ihr Ort und Zeit, und wir vereinbarten, dass sie alles in die Wege leiten und einen Suchtrupp losschicken würde, wenn ich nicht wiederkäme. Wir witzelten darüber in einer Albernheit, die es nur zwischen zwei Freundinnen geben kann. Dennoch fühlten wir uns so sicherer.
Wir trafen uns auf dem Parkplatz einer Kleinstadt. Tom stieg aus. Eine witzige Kombi, dachte ich: Jeans, Chucks, ein weißer sportlicher Kapuzenpullover und ein langer schwarzer, sogar richtig schicker Boss-Mantel. Dass er sich in diesem Outfit aus einem Porsche pellte, fiel mir überhaupt nicht auf. Ich war in erster Linie erleichtert, dass er keinen bayrischen Bierbauch vor sich her schob.
Das ist das Fatale mit Internet-Bekanntschaften, da glaubt man beim ersten Treffen nicht selten, der vom Profilbild sei eine andere Person. Das ist eine Erfahrung, auf die ich gut und gerne hätte verzichten können. Aber dieses Mal war es anders. Zwar glich Tom nicht exakt den Fotos, aber seine Grübchen waren – oder vielmehr sind – unverkennbar. Ich wurde magisch von seinem charmanten Lächeln angezogen. Sympathie vom ersten Augenblick an. Nicht mal seine Brille störte mich. Es war nämlich mein erstes Date mit einem Brillenträger.
Wir begrüßten uns mit einer flüchtigen Umarmung und marschierten ohne Ziel drauf los. Die Stadt schlief. Ein paar Reklameschilder und die ein oder andere Straßenlaterne legten die Innenstadt in gedämpftes Licht. Hier und da einzelne Passanten. In einer Bar saßen sogar noch zwei Gäste. Die Nebengassen waren gänzlich dunkel. Aber ich hatte keine Angst. Ich fühlte mich nicht unbehaglich – allein, mit diesem fast zwei Meter großen unbekannten Mann an meiner Seite.
Ihm ging es da ganz anders, wie sich hinterher herausstellte. Als ich ihm damals vorschlug, wir könnten uns an einem See treffen - abends, im Dunkeln, im März -, da wurde ihm ganz anders. Folgendes Szenario spielte sich in seinem Kopfkino ab: Wie er aussteigt, mich nur schemenhaft von weitem wahrnimmt, plötzlich Männer aus dem Dunkel auf ihn zu schießen, ihn überwältigen, ausrauben, windelweich prügeln und mit mir und seinem Auto davon brausen. Ade, Karla. Ade, Porsche. Ade, Brille. Da spielte sich ein ganzer Krimi in seinem Köpfchen ab.
Drei große Brüder hätte ich ja zu bieten, aber an der Kriminalitätsbereitschaft müssten sie noch arbeiten, um solchen Vorstellungen gerecht werden zu können. Seither betitelt er meine Familie als Mafia-Bande.
Wie dem auch sei - eine Woche später folgte der erste Kuss, zwei Wochen später der erste gemeinsame Urlaub, sechs Monate später eine gemeinsame Wohnung und nach sieben Monaten Hexe.
Es ist Montagmorgen, halb sechs. Es vergeht kein Tag, an dem ich diesen verfickten Wecker nicht verfluche.
Oskar turnt über unsere Körper, versucht, meine Haare zu fressen und geht auf Fußjagd. Tom ist genervt. „Jetzt reicht’s, Kollege Stinkfurz!“, zischt er Oskar an und reißt seine Füße hoch, um den Kater aus dem Bett zu katapultieren.
Stinkfurz, Scheißer, Krümel, Purzel, Eimer, Pepples, Monster. Oskar hat viele Namen und es werden beinahe täglich mehr; da ist Tom genauso erfinderisch wie im Worte-neu-erschaffen. Er benutzt auch gerne Synonyme, am liebsten „Dings“, das Universal-Synonym. Dann müssen seine Zuhörer kreativ werden, um seine Sätze mit Sinn zu füllen. „Dings“ setzt Tom für alles und jeden ein, egal in welchem Zusammenhang.
Ich stelle den Wecker um fünf Minuten weiter. Ich brauche das morgens. Es ist toll, dem Weckton innerlich den Stinkefinger zu zeigen und weiter zu schlummern. Der große Franke neben mir stöhnt. Ich zwinkere und versuche, meine Augen mehr als nur einen Schlitz offen zu halten. Er drückt auf sämtliche Körperstellen. Offensichtlich tun sie ihm weh.
„Was machst Du da?“
„Ich habe überall blaue Flecken vom Spiel gestern.“
„Und warum drückst Du dann drauf rum?“
„Ich lokalisitiere.“
Typisch Mann, denke ich. Typisch Tom. Auf dem Basketball-Feld den Helden spielen und zu Hause den „wehleidigen Zubemitleidenden“. Ich muss schmunzeln.
Er ist einer der witzigsten und schlagfertigsten Menschen, die ich kenne. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er sich dessen bewusst ist. Wenn wir uns streiten, schaffe ich es in der Regel nicht, ihm länger als zehn Minuten böse zu sein – selbst dann nicht, wenn ich es will. Sein Humor hat mich von Anfang an überzeugt und bestochen. Das rollende „R“, das seinem Dialekt erhalten blieb, tut ein Übriges. Manchmal klingt er dadurch wie ein Italiener, der seinen italienischen Dialekt zu unterdrücken versucht.
Tom steht auf, während ich noch eine Runde mit dem Kater schmuse.
Nach fünf Minuten kommt er zurück.
„Ich hab‘ jetzt mal sportswear für die Trikots genommen.“
Ah, er war wohl schon im Internet, denke ich mir.
„Nur neununddreißig Minuten bei 800 geschwuppelt am Ende.“
Ich werde stutzig. Wovon zum Teufel spricht er eigentlich? „Kannst du mal in ganzen Sätzen reden?“
„Na, die Waschmaschine.“
Es rattert förmlich in meinem Kopf. „Ah… du meinst geschleudert?“
„Nein. Geschwuppelt.“
„Das Wort gibt’s doch gar nich‘!“
„Doch, im Fachjargon heißt das so.“
„Is‘ klar.“
„Echt. Das wissen aber nur die Leute, die da arbeiten.“
„Und woher weißt du das dann?“
„Ich hab‘ meine Leute…“, betont er hochwichtig und macht sich auf den Weg ins Bad. Ich folge ihm und mir der Kater. Hexe ist inzwischen auch aufgewacht. Sie hat ihren Schlafplatz im Gästezimmer. Sie ist sozusagen aus dem Rest der Wohnung ausgezogen. Seit Oskar zu unserer kleinen Familie zählt, wird sie ihrem Namen in aller Form gerecht. Sie frisst und schläft in unserer Wohnung, geht aber ansonsten ihrer Wege und macht draußen die Nachbarschaft unsicher. Gelegentlich liegt sie auch bei unserm Nachbarn im Bett oder auf dem Sofa meiner Eltern, wenn diese ihre Haustür offen stehen lassen. Sie ist uns, insbesondere mir, gegenüber ziemlich mies gelaunt, was sich durch Fauchen, Knurren und manchmal sogar Schläge mit ausgefahrenen Krallen bemerkbar macht. Seither ist mir der Begriff „die Krallen ausfahren“ noch viel deutlicher geworden.
In meiner Nase kribbelt es. Sofort suche ich Licht. Irgendeins. Ich starre in die Lampe überm Badspiegel. Das Kribbeln wird stärker und dann – lautes Niesen beendet dieses Kitzelgefühl.
Bis vor kurzem habe ich gedacht, dass es ganz normal sei; dass ein Blick ins Licht jedem hilft, zu niesen, wenn die Nase kribbelt. Ich war sogar fest davon überzeugt – bis ich auf Leute stieß, die mich fragend und witzelnd dabei beobachteten und überhaupt nicht verstanden, was ich da tat. Meine kleine Welt geriet für einen kurzen Moment aus den Fugen. Wie konnte ich glauben, ich sei normal?
„Gesundheit!“, stammelt Tom mit der Zahnbürste im Mund.
„Danke!“ sage ich und verschwinde in der Dusche.
Oskar hängt währenddessen am Wasserhahn in der Badewanne und stillt seinen Durst. Hexe sitzt, vor sich hin knurrend und murmelnd, vor der Badezimmertür und wartet auf ihr Frühstück.
Als ich aus der Dusche komme, steht bereits ein Kaffee für mich auf der Heizung. Diesen Luxus genieße ich fast jeden Morgen. Gelegentlich stecken zwei Löffel in meiner Tasse, aber ich habe aufgegeben, solche Dinge zu hinterfragen. Ich denke, das ist einer der Gründe, warum wir so gut zusammenpassen –konfuse Chaoten.
„Kannst du nachher dings kaufen?“, fragt Tom.
„Dings?“
„Du weißt schon…“
„Nein, mein Schatz, auch dieses Mal weiß ich nicht, was du mit dings meinst.“
„Na, Katzenstreu.“
Diese Art der Dialoge sind bei uns Alltag.
Tom dreht sich in Richtung Waschküche und ist im Begriff, zu gehen.
„Ähm, kannst du das bitte mit in den Müll nehmen?“ Ich drücke ihm eine leere Shampoo-Packung in die Hand.
„Aber der ist doch voll!“, entgegnet er mir frech – ganz nach dem Motto: das passt nicht mehr, wechsle mal erst den Beutel und mach‘s dann selber! Um Ausreden ist er nie verlegen.
Neun Uhr dreißig. Meine Kollegin und ich setzen uns ins Auto, um einen Außentermin anzusteuern. Wir unterstützen Kindertagesstätten bei der Gesundheitsförderung der Kinder und deren Eltern. Die Fahrt wird etwa eine halbe Stunde dauern. Kurz vorm Ziel stehen wir vor einer roten Ampel. Eine alte Dame kommt auf uns zu gestürmt und fuchtelt wild mit den Armen. Meine Kollegin fährt die Fensterscheibe runter. Die alte Dame brüllt beinahe, sie ist völlig außer sich.
„Verfolgen Sie den Mann!“ Hysterisch deutet sie auf einen jungen Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Der Mann hat eine Bank überfallen! Verfolgen Sie den Mann!“
Ratlos blicken wir uns an. Die Ampel schaltet auf grün. Wir müssen weiter fahren. Na toll. Der Mann biegt rechts in eine Straße. Er rennt nicht, er schlendert viel eher. Seine Hände sind in die Hosentaschen vergraben. Immer wieder abwechselnd fragen wir uns, was wir tun sollen. Wie ernst kann man diese Dame nehmen? Ist sie dement? Hat sie Wahnvorstellungen? Oder sollte sie etwa tatsächlich Recht haben?
Im Bruchteil einer Sekunde müssen wir uns entscheiden. Wir schauen uns um und biegen in die Straße ab, in der der vermeintliche Bankräuber seinen Fluchtweg fortsetzt.
Wo ist die Kamera? Das ist doch bestimmt „Verstehen Sie Spaß?“ oder so. Oder eine Reportage, in der Passanten getestet werden, wie es um ihre Zivilcourage steht. Aber wir können kein Kamera-Team entdecken. Wir sehen auch niemanden, der eine Verfolgung aufnimmt.
Ich sitze am Steuer und lenke das Auto an ihm vorbei.
„Schau ihn nicht an!“, sage ich beinahe barsch zu meiner Kollegin. Ich habe nun plötzlich weiche Knie. Es ist unerklärlich, aber: wir lachen die ganze Zeit. Verzweiflung. Ratlosigkeit. Schließlich biege ich in eine Einfahrt und stelle den Motor aus. Der junge Mann, höchstens Anfang zwanzig, passiert unser Auto und geht unauffällig weiter. Er dreht sich nicht um, schaut nicht rechts, nicht links.
„Scheiße! Was machen wir denn jetzt?“ Ich nehme einen merkwürdigen Schauer in mir wahr.
Ich steige aus und rufe die Polizei an. Ich stammele.
„Ähm, ja hallo, Karla Friebe mein Name. Mir ist da gerade eine ganz schräge Geschichte passiert und ich weiß nicht, wie ernst ich die nehmen soll.“
Ich brabbele einfach drauf los. Die Polizistin am anderen Ende versucht, meine Sätze zu sortieren und fragt mich, wo ich sei. Ich renne ein kleines Stück, um ein Straßenschild zu finden und gebe ihr den Namen durch. In meiner Nervosität rede ich unaufhörlich.
Die Polizistin sagt: „Stopp!“
Ich verstehe aber „Ort“ und sage: „Burgdorf.“
Wieder: „Stopp!“
„Burgdorf.“
„Stopp!“
„Burgdorf.“ So langsam frage ich mich, ob ich derart undeutlich spreche, dass sie ständig nachfragen muss.
Nun brüllt sie fast: „Sie müssen auch mal aufhören zu reden, wenn ich STOPP! sage und mir zuhören!“
Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Zum Glück ist hier niemand, der mich beobachtet, denke ich.
Meine Kollegin ist mit Krücken unterwegs, seit sie sich vor sechs Wochen ein Bein brach, und wartet deshalb im Auto auf mich.
Ich weiß immer noch nicht, wie es weiter geht, ob ich wirklich die Verfolgung eines Bankräubers aufgenommen habe. Die Straße verläuft in einem leichten Knick, hinter dem der junge Mann verschwindet.
„Folgen Sie dem Mann“, dringt die Stimme durch mein Handy.
Insgeheim denke ich: „Geht’s noch? Wer weiß, ob das überhaupt ein Bankräuber is‘!? Und wenn… was, wenn der mich sieht?“
Dann aber die entscheidende Info: „Der Fall ist hier bereits gemeldet und wird bearbeitet.“
Ich glaub es nicht. Die Alte hat doch tatsächlich die Wahrheit gesagt. Ohne nachzudenken, renne ich los, bis zum Straßenknick. Aber hier ist niemand zu sehen. Er ist verschwunden. Ich renne weiter. Vorbei an ein paar Stichstraßen. Hier müsste er zeitlich abgebogen sein, geht es mir durch den Kopf. Die Polizistin begleitet mich die ganze Zeit am Handy. Ich biege ab und sehe ein paar Männer vor einem Haus stehen. Ich bin völlig außer Atem.
„Entschuldigung“, meine Worte überschlagen sich, „haben Sie einen jungen Mann hier lang gehen sehen? Blonde Haare, kinnlang, schwarze Kleidung, sehr dünn…“.
„Ja“, antwortet einer von ihnen, „er ist gerade hier rein gegangen.“ Er deutet auf eine Hofeinfahrt. Ein zweiter Mann geht einen Schritt auf mich zu: „Was ist passiert? Ich bin Polizist!“
Siebzehn Uhr.
„Ein Tag wie jeder“, versuche ich mir einzureden. Nachdem der Polizist, der dort eine Brandschutzermittlung durchführte, das Telefonat mit der Notruf-Zentrale an meinem Handy übernahm, ging alles ganz schnell. Überall Polizei-Fahrzeuge, ein Hubschrauber, Hunde. Das volle Programm. Aber der Täter wurde nicht geschnappt. Ich kann immer noch nicht fassen, dass mir so was außerhalb einer Fernsehsendung passiert.
Zu allem Überfluss ist heute auch noch „Halloween“. Himmel, wird da heute ein Rummel drum gemacht! Das hat es in meiner Kindheit nicht gegeben. Tom hat aber gut vorgesorgt und ein paar Süßigkeiten eingekauft. Er liebt Kinder.
Es klingelt und ich öffne die Haustür. „Süßes oder Saures!!!“, brüllt’s mir entgegen.
Grusel-Gesichter blicken mich an. Schaurige Kostüme umhüllen die kleinen Monster, die sie als echte Monstergestalten erscheinen lassen. Sie bedanken sich höflich für die Süßigkeiten und verschwinden.
Wieder klingelt es. Ich öffne. „Süßes oder Saures!!!“, rufen die Kinder. Innerlich verfinstert sich meine Miene. Diese Kinder kenne ich. Es sind fünf Geschwister unterschiedlichen Alters, die stets im Rudel auftreten. Dagegen ist ja grundsätzlich nichts einzuwenden, aber diese Kinder, so denke ich, sind einer der Gründe, warum ich mir noch reichlich überlege, selbst welche in die Welt zu setzen. Sie pöbeln meine Nichte vor der Schule an, lungern in Supermärkten rum, streunen durch die Straßen. Faszinierend ist, dass ein Kind dem anderen gleicht. Sie sind Klone ihrer selbst, als würde sich diese Familie „Inzest“ auf die Fahne schreiben. Ich weiß ja, dass sie im Grunde nichts für ihren Lebensstil können, aber ich kann mich nicht gegen diese Abneigung wehren. Völlig ungeschminkt und kostümlos stehen sie da und schauen mich erwartungsvoll an.
„Verdammt, seid Ihr gut verkleidet, ich habe mich richtig erschrocken!“, liegt es mir auf der Zunge. Aber ich kann es mir gerade noch verkneifen. Sie hätten es eh nicht gecheckt. Also lächle ich allein, in mich hinein, und weise sie noch darauf hin, dass man an Halloween Kostüme tragen sollte. Sie grabschen in den Süßigkeiten-Korb und ziehen von dannen.
Tom kommt nach Hause. Er gibt mir einen Kuss, dreht mich zur Seite, schleudert meinen Oberkörper nach hinten, küsst mich erneut und trällert: „Hollywood-Kiss!“ Sein Grinsen reicht bis zum Mond. „Meine Heldin!“, fügt er noch hinzu.
Natürlich haben wir heute schon telefoniert. Ich musste ihm sofort von meinem Abenteuer berichten.
Wir stehen in unserer nagelneuen Küche. Sein Blick fällt auf die Wand neben dem Ofen.
„Schade, dass wir dort nicht auch Steckdosen eingebaut haben“, sagt er.
Ungläubig starre ich auf die Wand. Fragezeichen ziehen an mir vorbei. Nun fällt es mir auch auf. Im Fliesenspiegel sind keine Löcher neben dem Backofen.
„Aber…“, stammele ich, „dort waren ganz sicher Steckdosen eingezeichnet, bevor ihr den Fliesenspiegel gemacht habt.“
Wir schauen uns an. Eine Mischung aus Ärger und Schmunzeln überkommt mich. Ich schüttele den Kopf. Nicht aufregen, sage ich mir.
„Nicht schön, aber mit Liebe von deinem Papa und mir“, lautete die SMS, die er mir mit Bildanhang ins Büro schickte, als sie stolz das Anbringen des Fliesenspiegels beendeten. Das schwirrt mir im Kopf herum. Und es ist niemandem aufgefallen, dass die Löcher hinter den Fliesen verschwanden.
Tom klopft die Wand ab. Und tatsächlich, hier klingt es hohl.
„Wenn Männer ihres Amtes walten“, feixe ich.
Er ruft sofort meinen Vater an, der über uns wohnt, und die beiden machen sich umgehend daran, das Versäumte nachzuholen. Der Bohrer durchdringt die Fliesen kreischend, und nochmal, um dann festzustellen, dass sie zu weit rechts gebohrt haben. Ich kann es nicht fassen. Oder doch? Eigentlich erschüttert mich nichts mehr.
„Hm“, sagt Tom, „dann machen wir halt ‘ne Dreifachabdeckung drauf. Aus dem dritten machen wir ‘nen Danger-Button.“ Er ist und bleibt unverbesserlich.
Einundzwanzig Uhr.
Endlich liegen wir auf dem Sofa. Ich erkundige mich nach dem Bootsregal, das er ohne mein Wissen bestellt hat. Er druckst rum.
„Ähm… ja, also, ich hab‘s gar nicht bestellt. Ich wollt nur mal wissen, wie deine Reaktion is‘, wenn ich‘s bestellen würde – also, ob du dich freu‘n würdest.“
So ein kleiner Gauner. Ich tue bewusst empört: „Du bist ein Lügner!“
„Nein. Ich bin kein Lügner!“
„Wie würdest du‘s denn sonst nennen? Natürlich bist du‘n Lügner! Du hast mich angelogen!“ Ich spiele fassungslos.
„Hm, ich würde es nicht Lüge nennen. Ich zaubere.“
„Du zauberst???“
„Ja. Ich erzeuge Illusionen in deinem Kopf.“
Es läuft eine seiner Lieblings-Sendungen im Fernseher. „Frauentausch“ und sämtliche Kochsendungen zählen dazu. Wir liegen ineinander verkeilt. Er zieht mein rechtes Bein nach links, das linke schiebt er zwischen seine Beine. Er zupft hier, zupft da, schiebt mich wie eine Gummipuppe in ständig andere Positionen.
„Was machst Du denn da?“ frage ich ihn, langsam der Ungeduld verfallend.
„Ich versuche, dich bequem zu machen“, bekomme ich zur Antwort.
Er verdient sich damit einen Klaps auf den Kopf. „Was hast du eigentlich für Samstag geplant?“
„Ich werd‘ den Porsche auf Hochglanz bringen.“ Seine Augen glänzen, als hätte er mit der Politur dort schon angefangen.
„Ach, schade. Ich dachte, wir könnten Shoppen gehen oder so!? Aber verstehe schon…“, werfe ich ihm mit einem liebevollen Augenzwinkern vor, „das Auto ist wohl wichtiger als ich…“.
„Naja“, sagt er, „das Auto habe ich quasi immer, Du(!) musst ja zwischendurch arbeiten und einkaufen gehen…“.
Was hatte ich anderes erwartet?
Wir wechseln vom Sofa ins Bad, vom Bad ins Bett. Heute habe ich mich beeilt, damit wir gemeinsam ins Bett gehen können, oder vielmehr gleichzeitig. Trotzdem:. binnen Sekunden schlummert er weg. Ich beneide ihn darum. Ich wünschte, ich könnte das auch. Er beginnt, leicht zu schnarchen, beziehungsweise zu schnorcheln.
„Ey, du schnarchst!“ Ich ruckele an seinem Arm.
„Ja.“ Tom erschrickt. „Aber anders kann ich nicht so schön einschlafen.“ Er liegt mir zugewandt, seine rechte Hand unter mein Kopfkissen geschoben, seine linke angewinkelt an seinem Körper.
„Du hast noch gar nicht Gute Nacht gesagt.“ Er weiß, dass mir das immer sehr wichtig ist. Ich kenne selber nicht den Grund dafür, aber es ist mir wichtig, sich sozusagen voneinander in die Nacht zu verabschieden.
„Ja“, sagt er, „weil… ich spontan eingeschlafen bin.“
Als würde er das nicht jeden Abend, sobald er in die Waagerechte kommt, denke ich. Er gibt mir einen Kuss und schläft weiter.
Ich liebe ihn, geht es mir durch den Kopf, beziehungsweise unsere Beziehungs-Weise.
Gute Nacht!