Bezahlen
Sie standen an der Kasse. Das Mädchen hielt in ihrer Hand eine Tafel Schokolade. Es war ihre Lieblingssorte. Vollmilch mit Krokant, das mochte sie schon immer, seit sie Schokolade essen durfte. Er hatte eine Tafel Nuss-Nougat ausgesucht. Nun warteten sie darauf, an die Reihe zu kommen, um ihre kleinen Schätze zu bezahlen.
Es war so normal, in einem Geschäft zu stehen und etwas zu bezahlen. Ganz einfach, keine große Sache. Das Leben funktioniert auf diese Weise. Man hat ein bisschen Geld in der Hand und gibt es dafür her, dass man etwas anderes in die Hand nehmen darf.
Noch vor kurzem war sie auf Sardinien. Dort war das Meer blau und der Sand war weiß. Es roch nach Rosmarin. Die Luft war wie ein Gewürzregal. Wenn der Wind sanft die Pflanzen streichelte, stoben ganze Duftwolken durch die Luft und kräuselten sich um die Nasen der Besucher. Abends roch es ganz anders als tagsüber. Abends roch alles viel intensiver. Die Sonne verlor an Kraft und die Gerüche wurden nicht mehr von ihr verbrannt.
Alle saßen zusammen auf einer Terrasse, schauten auf das Meer, sahen die Sonne versinken, tranken, lachten, plauderten über vieles. Der dunkle Himmel breitete sich als ein Tuch über ihnen aus und wie kleine Löcher im Stoff strahlten Sterne.
Das Mädchen hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt und schaute die Sterne an. Wie weit sie entfernt sind, die Sterne. Wie kann es sein, dass sie nicht zu zählen sind? Wie fühlt sich die Unendlichkeit an? Klein und unbedeutend fühlte sie sich in diesem Moment. Und genau da zeigte sich eine Sternschnuppe. Hell leuchtend zog sie quer über den Himmel und ausser ihr bemerkte sie kein anderer. Es war die erste Sternschnuppe ihres Lebens. Sie verriet sie nicht, nahm sie in ihre Gedanken und wünschte sich von ganzem Herzen ein paar Riemchensandalen.
Nun war sie an der Reihe, ihre Schokolade zu bezahlen.Sie ging einen Schritt vor, ihre Füße rutschten in den Riemchensandalen nach vorn, denn sie musste Strümpfe tragen. Es war so kühl geworden. Erst gestern waren sie zurückgekommen, noch nicht daran gewöhnt, wie kühl der Sommer auch sein kann. Sie reichte ihre Münzen der Kassiererin herüber. Diese nahm sie, sortierte sie in ihre Kasse und reichte den kleinen weißen Zettel. Das Mädchen schüttelte den Kopf, dabei löste sich eine kleine Träne aus ihrem rechten Auge und rann still über ihr Gesicht. So winzig klein war sie, dass keiner sie sehen konnte.
Auch der Junge bezahlte seine Schokolade. Gemeinsam gingen sie schweigend aus dem Laden. Die Kassiererin sah ihnen hinterher. Kurz blieben sie ihr im Gedächtnis, dann entfielen sie ihr wieder.
Die beiden gingen in langsamen Schritten den Bürgersteig entlang. Nur wenige Autos fuhren auf der Straße. Ein paar Menschen eilten an ihnen vorbei. Das Mädchen ging ganz nah neben dem Jungen, achtete darauf, dass sich ihre Schultern stets berührten. Wenn er den Schritt änderte, tat sie das auch, eng wie ein Schatten. Ein Fuß vor den anderen setzend, schaute sie immer wieder diese Sandalen an. Riemchensandalen. Genau diese Sandalen hatte sie sich gewünscht. Hatte diesen Wunsch, den sie sich mit der Entdeckung der Sternschnuppe verdiente, hergegeben für sie.
Gestern wurden sie abgeholt. Der Flughafen war riesig, es waren so viele Menschen dort. Und trotzdem konnte der Großvater sie finden, in all dem Durcheinander. Er führte sie zum Auto und fuhr sie durch eine Landschaft, die sie in den vergangenen drei Wochen fast vergessen hatte. Alles war grün, ein dunkles Grün, von dem man ahnte, dass es bald braun sein würde. Sie öffnete das Fenster einen Spalt und lies sich die Luft in die Nase wehen. Es roch nach wenig. Ein bisschen Benzin, ein bisschen Asphalt. Sie drehte das Fenster wieder hoch und schaute den Großvater an. Er war blass. Er war still.
Sie kamen am Haus an und gingen hinein. In der großen Küche waren alle versammelt. Sie lachte, freute sich, dass alle zusammengekommen waren, die Urlauber zu begrüßen.
Die Erschütterung spürte sie unter der Haut. Zwischen der Haut und dem Fleisch ihres Körpers war es erst ein Zittern, ganz zart, dann stärker, bis es ein Beben wurde. Dann schloss sie ihre Ohren. Wollte nicht hören, was gesprochen wurde. Schaute nur ihre Mutter an, die am Küchenfenster stand. Hinausstarrte. Sich nicht bewegte. Warum bewegte sie sich nicht mehr? Warum kam sie nicht zu ihr? Warum konnten sie nicht gemeinsam einfach gehen und nichts war geschehen?
„Er hatte einen tödlichen Unfall.“
Wann sie ihn sehen könne, hatte sie gefragt. Wann sie ihn besuchen könne. Und verstand nicht, warum es keine Antwort gab. Tödlich, es war doch nichts tödlich. Das Leben war doch wie immer. Lebendig. Wie sollte denn jemand sterben, wo alle im Raum noch atmeten. Jemand sagte, es würde ihm nun bestimmt besser gehen, da wo er jetzt wäre. Aber es ging ihm vorher nicht schlecht. Es ging ihm doch gut. Und als sie genau hinhörte, sprach niemand mehr.
Das Mädchen und der Junge bekamen ein paar Münzen in die Hände. Und gingen Schokolade kaufen. Die Welt war, wie sie immer war. Und wie sie immer bleiben wird. Das Mädchen schaute sich ganz genau um. Schokolade kaufen ging, wie es immer ging. Die Menschen liefen herum, wie sie immer herum laufen. Der Himmel war grau, die Sonne schaffte es nur, als blasses Rund zu schimmern. Wieder kam eine kleine Träne. „Wie kann denn alles bleiben, wie es war?“, donnerten die Gedanken in ihrem Kopf. Wo die Welt doch eine andere war.
Ihre Füße schmerzten bei jedem Schritt. Die Sandalen passten nicht richtig. Sie scheuerten. Sie hatte Blasen, die bald bluten würden. Sie würde die Sandalen so lange tragen, bis ihre Füße nicht mehr hineinpassten. Und wenn es noch so sehr schmerzte, blutete, quälte.
Sie hatte sich die Sandalen gewünscht. An dem Abend, an dem er für immer verschwand. Hatte die Sternschnuppe für Sandalen genutzt. Dann sollte sie diese auch tragen.