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Beyond here be dragons
Jemand stößt mich an und reicht mir einen Becher Kaffee. Was soll das? Wo bin ich? Aber gut, immerhin Kaffee! Den hatte ich aber nicht bestellt oder? Ich kann nun wirklich nicht behaupten, ganz bei mir zu sein. Gedankenverloren nehme ich einen Schluck und bemerke erst jetzt, wo ich eigentlich bin. Flug 749 nach Denpasar, Bali, Indonesien. Meine Gedanken sind wie immer bei dir. Vor kurzem noch habe ich dich im Arm gehalten. Wie unendlich fern dieser Moment jetzt erscheint. Doch ein Teil von mir sitzt noch immer an deinem Bett und hält dich eng umschlungen.
Vielleicht bin ich auch hier nur der verworfene, weil zu deprimierende Alternativplot der Geschichte. Ihr wisst nicht, was ich alles geben würde für nur einen weiteren Tag, eine Stunde, eine Minute oder sei es nur flüchtiges Lächeln. Nur ein geflüstertes Wort. Aber selbst wenn ich deine Stimme noch einmal hören würde, wäre es doch nur die unwirkliche Botschaft einer Toten. Vielleicht gibt es noch irgendwo mein wahres Ich, welches jetzt an deinem Küchentisch sitzt. Und wir reden, wie wir es immer getan haben, während du deine so einmalige Gurkenpfanne für mich kochst. Diese Möglichkeit erscheint mir nun so wahr, dass mir meine jetzige Situation als nur flüchtig und irreal erscheint. Der Gedankenstrom assoziiert ungebremst und läuft in verschiedenste Richtungen. Wo bist du nur mit meinen Gedanken? Fragt mich mein Alter Ego vom Küchentisch. Der feine Herr, der überhaupt nicht ahnt, was für ein Glück ihm gerade zu Teil wird. Jetzt sitze ich hier, die Urne mit deiner Asche vor meinen Füßen. Wie sich das anfühlt, fragt man mich? Nun ja, ich würde mal sagen, it is preferable not to travel with a dead man. Das gilt nun in besonderer Weise für die eigene Mutter. Wenn ich die Urne zum Durchleuchten auf das Förderband lege, lasse ich meine Augen keine Sekunde davon. Wehe, einer wagt es, sie anzufassen. So als könne mit dir noch schlimmeres geschehen.
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Angekommen empfangen mich liebe Freunde und fahren mich einmal quer durch diese Insel der Götter und Dämonen. Es ist wie heimkommen. Ich weiß, dass hier Wunder geschehen können. Doch nicht jetzt und erst recht nicht für mich. Die Gedanken sind wie so oft nicht hier. Viel zu unruhig und aufgewühlt. Und währenddessen verkochte Prezident ihren Fisch.
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Wir tauchen ein in ein geschäftiges Treiben, welches bereits rund um und auch in unserem Haus stattfindet. Mal sollen wir dieses, mal jenes anziehen, mal dieses und mal jenes tun. Man ist freundlich, ermuntert und hilft uns. Die Zeit dehnt sich und dann muss doch alles plötzlich ganz schnell gehen. Jam Karret, Gummizeit wie man uns lächelnd versichert. Doch schließlich geht es los. Wir wissen nicht genau, was geschieht, aber bemühen uns, lassen es geschehen. Selbst das posthume Glaubensbekenntnis zum Hinduismus kommt mir stellvertretend irgendwie über meine Lippen. Beeindruckt von der Anteilnahme und Spiritualität, aber dennoch fremdbestimmt. Nun werden wir von den Touristen zur Touristenattraktion. Das ganze Dorf ist anwesend, die Straßen gesperrt, wenn die Prozession über die Hauptstraße läuft. In der Hitze wird mir schwindelig. Doch ich halte Schritt inmitten all der Menschen. Ein weißes Tuch wird über mir gespannt, vor meiner Brust trage ich eine Schale mit Opfergaben. Man hat uns in schulterfreie gelbe Gewänder gekleidet, eine Schärpe um die Schultern. Ich bin müde und schlapp, aber gleichzeitig aufgewühlt. Wir fahren mit einem Boot raus aufs Meer und verstreuen die Asche im Wasser. Doch dieser Moment rauscht an mir vorbei, fühle dabei nichts als Leere. Ich wünschte, ich könnte mich in mein Bett legen und einfach schlafen. Aber auch das kann ich nicht. Am liebsten wäre ich nirgendwo, könnte alles einmal kurz anhalten und verstummen lassen.
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Ich kann hier nicht bleiben. Doch was wartet Zuhause auf mich? Eine Arbeit, die mich in diesem Zustand überfordert, und ein Mensch, dem ich das Herz gebrochen habe. Ich möchte jetzt keine Verantwortung, keine Rechtfertigung. Bitte, ich kann nicht zurück, ich muss weiter.
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Die kleine Propellermaschine setzt unsanft auf der Landebahn auf. Ich schrecke auf und brauche einen Moment, bis ich wieder weiß, wo ich bin. Labuan Bajo auf der Insel Flores. Ich hatte geträumt von Ungeheuern, die mich durch die Flure der Universität jagen. Spontan und unbedacht habe ich einen Flug gebucht. Kaum bin ich aus der Maschine ausgestiegen, spricht mich jemand an. Jack, er kann mich in die Stadt fahren und mir eine Unterkunft besorgen. Ich lasse mich darauf ein, das Zimmer ist schäbig, im Bad läuft permanent ein Wasserhahn und das Frühstück ist kaum der Rede wert. Jack fragt mich, ob ich nicht eine Bootstour nach Komodo machen wolle. Dafür sei ich doch schließlich hier? Ja, das wollte ich, aber organisiert habe ich es noch nicht. Ich beschließe, diesem windigen Gauner zu vertrauen. Morgen Früh soll es losgehen.
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Mit an Board ist auch eine etwas ältere holländische Lady. Sie reist ebenso mit ihrer toten Mutter, auch wenn ihre Urne etwas klassischer geschnitten ist. Ihre Mutter stammte ursprünglich aus Indonesien und sie möchte sie gerne heimbringen. Wir halten in Sichtweite eines schönen, rot gefärbten Strandes. Eilig kommen von allen Seiten kleine mit hölzernen Komodowaranen beladene Boote auf uns zu. Man hält sich an unserem Boot fest und beginnt, die Waren auf dem Deck auszubreiten. Ein Verkäufer ist besonders hartnäckig und harrt tapfer aus, als seine Kollegen schon längst aufgegeben haben. Die holländische Lady hat indessen die Urne ausgepackt und beginnt, unter dem wachsamen Auge von Mikke’s Digitalkamera, damit, die Asche ihrer Mutter in die See zu verstreuen. Der verbliebene Verkäufer wirkt etwas ratlos als ihm klar wird, dass hier erst mal kein Geschäft zu machen ist. Ich bleibe bewegungslos und betrachte die Szenerie. Indem Moment bin ich ganz bei ihr und erlebe einen entspannenden Moment von Selbstvergessenheit. Es ist so, als erlebe ich nun diesen Moment auf dem Boot, der so an mir vorbeigehuscht ist. Während sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wird, steigen auch mir die Tränen in die Augen. Doch darf ich mich so zeigen? Ich kann es nicht, selbst jetzt nicht. Ich bleibe ihr fern, eine Berührung findet nicht statt. This mess we’re in.
Der Verkäufer erkennt, dass er sein Geschäftsvorhaben erst einmal unterbrechen muss und ihm spontan keine Anpassung seiner Verkaufsstrategie gelingen mag. So schaut er gleichermaßen interessiert wie mitfühlend zu und wartet auf die Dinge, die da kommen mögen. Oder eher nicht kommen, da niemand von uns momentan ein Bedürfnis nach handgeschnitzten Komodowaranen hat. Ich sitze anschließend auf dem Deck und schaue in die See. Doch auf einmal spüre ich ...
Eine starke unbekannte Präsenz taucht in meinem Bewusstsein auf. Ein Gefühl, was ich nicht benennen, nicht verstehen kann. Es lässt nach und nach alle anderen Gedanken und Empfindungen verstummen. Mir wird schwindelig, etwas zieht mich nach unten. Ich schrecke auf, bemerke, wie ich weit nach vorne gebeugt über der Reling hänge. Wie kurz davor war ich, ins Wasser zu fallen? Ich setzte mich auf. Was ist gerade passiert? Hat mich jemand berührt? Was hat mich zurückgeholt? Es ist, als ob jemand da wäre. Bist du es? Ich hoffe es.
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Und dann sind wir endlich da, auf der Insel der Drachen. Direkt am Steg empfängt uns ein, passenderweise, in grün gekleideter Parkwächter und weicht für die Dauer des Aufenthaltes nicht von unserer Seite. Zunächst werden wir in ein kleines Bürogebäude geführt. Hier geht es um das Wichtigste: die Bezahlung. Und das, was wir hier alles nicht dürfen: nicht alleine unterwegs sein, nur auf den vorgegebenen Routen bewegen und erst recht nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Neben dem schicken Grün umfasst ihre Ausrüstung nur einen langen Stock mit einer gegabelten Spitze. Eine nicht sehr vertrauenserweckende Verteidigung gegen urzeitliche Bestien. Aber wer hört hier schon auf mich? „We have nothing“ sagt er in gebrochenem Englisch. „No weapons, no medicine, no nothing.“ Wir machen uns auf zur kleinsten und meiner Meinung nach langweiligsten Route. Aber auch in dieser Frage scheint meine Einschätzung nicht allzu gefragt zu sein. Und jetzt erst sehe ich sie. Neben dem Büro, neben dem kleinen Restaurant und vor allem direkt an dem Küchengebäude. Unbeweglich liegen sie dort, diese grobschlächtigen Gestalten. Wir können nah an sie heran gehen. Sie wirken unbeteiligt, reagieren fast nicht auf uns. Dafür bin ich um Welt geflogen? Mir diese lethargischen Langweiler anzuschauen? Langsam laufen wir unter dem Schutz der Bäume zu einem Pfad, der uns zu einem kleinen grasbewachsenen Hügel führt. Plötzlich sehe ich eine Bewegung im hohen Gras vor uns. Dann hören wir ein tiefes und bedrohliches Fauchen. Ein massiger, aber dennoch erschreckend agiler Körper schießt aus dem Gras hervor und stellt sich uns in den Weg. Wir erschrecken. Doch schon stürzt er sich auf einen, im Schatten eines Baumes liegenden Artgenossen links von uns. Fauchend und beißend ringen sie miteinander. Doch so plötzlich wie die Attacke kam, so schnell ist sie auch schon wieder vorbei. Der Angreifer zieht sich zurück, erst schnell dann verlangsamt er. Er hält an, nimmt züngelnd Witterung auf. Langsam dreht sich sein Kopf in unserer Richtung. Ich spüre, wie unser Führer nervös wird. Er flüstert uns zu „go back slowly“. Wir wenden den Blick nicht ab und bewegen uns rückwärts. Der Komodowaran läuft ein Stück von uns weg. Wir gehen weiter, sind schon fast ein wenig erleichtert, bis wir bemerken, dass er beginnt uns zu umkreisen. Unsere Schritte werden schneller, hektischer. Was hat er vor?! Wir passieren das Bürogebäude, der Drachen ist parallel, nein, schon fast vor uns. Ich schaue nach ihm und erstarre. Er blickt mich direkt an. Meine Schritte verlangsamen sich, ich bleibe zurück, beobachte weiter diese Augen. Ich verliere mich. Doch dann wendet er den Blick ab, läuft weiter. Fast hat er uns den Weg abgeschnitten, doch wir wenden uns nach rechts, sind schon auf dem Pfad zum Ufer. Wir können entkommen! Ich sehe ihn nur noch aus den Augenwinkeln, es scheint fast, als verlangsame er seine Schritte. Warum hält er sich zurück? Hat er aufgegeben, fürchtet er diese lächerlichen gebogenen Stöcke der Führer? Wohl kaum! Wir flüchten Hals über Kopf zurück zum Steg. Doch schon zurück auf dem Boot können wir wieder über das Erlebte lachen. Die Bootsbesatzung hat uns ein köstliches Abendessen gekocht und wir genießen gemeinsam den Sonnenuntergang. Mit Bier, Wein und netten Gesprächen verbringen wir den Rest des Abends. Über Nacht bleiben wir direkt vor der Küste dieser grünen, beinahe unbewohnten Insel. Dieser Heimat der Drachen. Hier werden wir die Nacht verbringen, auf offener See. Ich bereite mein Nachtlager vor auf dem Dach der Kabinen, unter dem freien Himmel. Ich kann lange nicht einschlafen, starre in die Sterne wie in durchdringende Augen.
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Die Hitze flimmert vor meinen schmerzenden Augen. Langsam verwischen die Konturen. Mit ausgedorrter Kehle schleppe ich mich durch die Landschaft. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Nur das dumpfe Pochen in meinem Bein erinnert mich daran, dass ich noch nicht endgültig das Bewusstsein verloren habe. Die infizierte Wunde lässt mich vor Schmerz kaum mehr klar denken. Aber noch laufe ich, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Die Erinnerung bleibt verschwommen. Ich kenne diesen Ort hier, auf diesem Hügel bin ich gewesen. Gestern? Vor einem Jahr? Oder in einem anderen Leben? Was ist geschehen? Ein ungewisses Gefüh bleibt: etwas hat mich gebissen. War es dieser gottverdammte Waran? Ich schleppe mich weiter vorwärts doch spüre, dass er mir folgt. Wie ein Schatten, unauffällig, aber stets hinter mir. Bald werden weitere dieser Teufel durch das Blut angelockt werden und mich gemeinsam verfolgen. Mein Bein wird sich entzünden und ich werde schwächer und schwächer, bis sie mich dann bei lebendigem Leib zerfetzen werden. Er lässt sich Zeit, hat keine Eile. Ich folge meinen Füßen, die aber selbst nicht mehr wissen, wohin sie gehen. Auf einmal verdunkelt sich der Boden, ich stoße auf etwas Hartes. Über mir hängt eine wogende Masse. Erst jetzt bemerke ich, dass ich unter einem Baum stehe, spüre, dass die unendliche Hitze etwas weniger geworden ist. Erschöpft lasse ich mich fallen. Ich fühle kaum noch den Aufprall bevor mich die Bewusstlosigkeit ereilt. With tired eyes, tired minds, tired souls we slept.
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Ich wache auf und blicke mich panisch um. Wie lange war ich weg? Es erscheint mir wie eine Ewigkeit. Es waren aber doch eher nur Sekunden. Der Waran steht ein paar Meter vor mir und blickt mich ganz ruhig und reglos an. Ich erstarre, will wegrennen doch kann es nicht. Meine Augen können sich nicht von seinem Blick losreißen. Der Schwindel kehrt zurück. Hat er gerade gezwinkert? Nein, der Blick bleibt regungslos. Warum greift er nicht an? Worauf wartet er? Er hat Geduld, er weiß, dass ich bald sterben werde. Sein Kopf verschwimmt, wechselt die Konturen. Ich sehe das Gesicht von Jim Morrison, der mir zuflüstert: "Break on through to the other side". Was willst du von mir? versuche ich zu rufen. Doch es ist nicht mehr als ein Krächzen. Ich höre seine Stimme in meinem Kopf: „Die Frage ist, was willst du von mir?“ Wie kann dieses Tier sprechen, haben sich seine Lippen überhaupt bewegt? Ich weiß es nicht mehr. Die Zeit zieht sich immer mehr zu einem dunklen Strudel zusammen, was vor einer Sekunde geschah, ist schon längst von ihm verschlungen. Dieses Vieh hat doch gar keine Lippen, nur diese ewig schlängelnde Zunge. Und dieser Blick, als schaue man ins einen bodenlosen Abgrund. Nur dass dieser Abgrund auch in mich zurück starrt. Als könnte er dort etwas finden. Was verbindet uns?
Meine Beine geben nach, langsam sinke ich wieder auf den Boden. Auf die Erde, diesen dunklen und einsamen Ort. Wie gerne möchte ich nun schlafen. Meine Augen bleiben noch an seinen grünen, zerklüfteten Schuppen hängen. Sie erscheinen mir wie Projektionen meiner Verlassenheit. Doch wie müde er nun plötzlich aussieht. Die massige Gestalt lässt aber seine wohl unendliche Macht noch deutlich erahnen. Wieder höre ich seine Stimme in meinem Kopf, dieses mal etwas deutlicher: „Was willst du hier? geh doch nach Hause!“. Wo soll ich denn hin? Ich weiß nicht wohin, in meinem Kopf herrscht nur noch Leere. Jetzt, wo ich hier bin, in der absoluten Fremde. Gibt es nur noch diesen letzten Schritt?, den Schritt zu dir? Ich würde dich so gerne fragen, deine Stimme hören. Wie vieles möchte ich dir erzählen, wie vieles dich fragen. Wie gut habe ich dich wirklich gekannt? Soviel ist mir noch unbekannt, habe es nie erfragt und nie in Frage gestellt. Wie oft denke ich an den Moment deines Todes, in welchem wir dich begleiten durften. Wie nah wir uns waren. Diese Nähe wünsche ich mir so sehr. Bin ich deswegen jetzt hier? Möchte ich es wieder erleben? Ich habe für einen Moment ganz vergessen, wo ich bin. Ich kann nur noch an dich denken. Und jetzt bist du wieder da, warst es die ganze Zeit.
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