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Beute-Schema
Beute-Schema
Seltsam, wie viele Dinge im Leben schlicht „für die Katz“ sind, - und das nicht nur im sprichwörtlichen sondern wortwörtlichen Sinne.
Alles begann damit, dass ich diesen neuen Teppich für den Vorraum meiner Wohnung besorgte. Er war mir im Möbelgeschäft sofort ins Auge gestochen: Unregelmäßige Vierecke angefüllt mit exotischen Tierfellmustern, vorwiegend Raubtiermuster wie Leopard, Tiger, Gepard und Jaguar, aber auch Giraffe und Zebra usw. Reich an interessanten Kontrasten, im Farbspektrum von weiß über sepia bis dunkelbraun reichend, - ein fetziger Teppich, der gut in meine Künstlerwohnung passte, die ich zur einen Hälfte gemütlich bewohne und zur anderen als Atelier nutze.
Auch meine Freigänger-Katze namens Kali war von dem neuen Teppich, - sobald ich ihn ausgelegt hatte, - sehr angetan.
Dies demonstrierte sie, indem sie fortan diese kleinen Feldmäuse, lebend im Maul, von draußen durch ihre Katzenklappe anschleppte. Dann pflegte sie auf dem Teppich stundenlang mit ihnen zu spielen, sie zu quälen, schließlich zu massakrieren und dann mit Haut und Haaren zu verzehren; und sie betrieb diese Aktivitäten ausschließlich auf dem neuen Teppich!
Teilweise zermürbend war für mich das nicht enden wollende erbärmliche Gepiepse der armen Mäuse im Todeskampf: so animalisch.
Genau wie das Muster des Teppichs.
Im Grunde gibt es nichts, das ich meiner geliebten Katze übel nehme. Unser Verhältnis ist geprägt von gegenseitiger Inspiration und Toleranz. Infolge der Installation ihrer Katzenklappe kann sie kommen und gehen, wie sie will, und dasselbe gilt für mich, solange ihr Futternapf regelmäßig gefüllt wird. Unsere gegenseitige, verschmuste Zugewandtheit ist eine Bewegung aus dieser Freiheit heraus, die wir uns gegenseitig zubilligen. Wahrhaftig war noch keine einzige Liebesbeziehung in meinem Leben von solch großer Dauer und Kontinuität gewesen wie die Beziehung zu meiner Katze.
Ich muss auch einräumen, dass sie den neuen Teppich nach jedem ihrer Exzesse wieder schön sauber leckte. Gelegentlich gab es Überreste von Mäusen – aber nie Spuren von Blut.
Doch im Laufe der Zeit begannen sich die Dinge auf unheimliche Weise zu ändern.
Zuerst waren es nur Feldmäuse, dann schleppte Kali diese fetten, struppigen Wühlmäuse an, die fast so groß wie Ratten sind, nur viel hässlicher. Diese Viecher verzehrte sie selten ganz, hinterließ mir – stets blutleere – Kadaver, bzw. deren Reste auf dem Teppich. Manchmal fraß sie nur den Kopf. Das war ein bisschen eklig aber immer noch halb so tragisch. Ich entsorgte die Abfälle in der großen Restmülltonne.
Aber es blieb nicht bei den Wühlmäusen. Beileibe nicht!
Eines Tages: ein riesiger Feldhamster! Immer wieder Eichhörnchen! Eine ausgewachsene Saatkrähe! Welch eine Schweinerei, die vielen Federn, obwohl sie - in der Tat! - farblich gut zum Teppich passten. Aber all das war immer noch im Rahmen des Normalen.
Als ich vor einigen Wochen ein ausgeweidetes kleines Rehkitz auf meinem Teppich vorfand, überkam mich zum ersten Mal ein merkwürdiges Vorgefühl. Wie hatte Kali diesen dicken Brocken nur durch die winzige Katzenklappe gebracht? Diese ist nämlich der einzige Zugang der Katze zur Wohnung. Die Eingangstüre zum Treppenhaus meidet sie wie die Pest! Dieses ausgeweidete „Bambi“ auf meinem Teppich, - obwohl rein malerisch durchaus nicht ohne Reiz, - stellte eine physikalische Unmöglichkeit dar!
Nur einen Augenaufschlag lang dachte ich darüber nach, das Kitz abzuziehen und zu braten, aber Schulter zuckend zerteilte ich es dann, packte es in Plastiktüten und entsorgte es an der Müllsammelstelle, wo es auch einen Container für Tierkadaver gibt.
Was käme wohl als nächstes? Kühe und Pferde? Ein Hirsch? Ein iahender Esel?
Mit dieser - rein rhetorischen - Frage lag ich zwar sehr nahe an dem, was dann als nächstes geschah, aber bei Weitem nicht nahe genug, um auf das Kommende innerlich gefasst zu sein.
Meine nächste Überlegung war, ob es vielleicht am Futter lag. Am selben Tag klapperte ich sämtliche Tierbedarf-Läden in der ganzen Gegend ab, um nur das feinste vom feinen Katzen-Feuchtfutter einzukaufen. Nicht etwa, dass ich große Hoffnung darauf setzte, aber ich wollte nichts unversucht lassen.
Das Ganze, die Begebenheiten an sich, kamen mir nun doch zunehmend schaurig vor, was freilich mein Verhältnis zu Kali nicht im Mindesten trübte. Die Katze war – abgesehen vom Teppich-Gemetzel – dieselbe geblieben, die sie immer gewesen war: Ihr anhimmelnder aufmerksamer Blick, manchmal etwas schmollend, wenn ich sie nicht genügend gestreichelt hatte. Ihre Anmut, ihr Liebreiz, ihre Laszivität, ihre schwarz-weiße, flaumige, stromlinienförmige Schönheit!
Ich kam dann also, beladen mit zwei großen Einkaufstaschen voller Katzenfutter, nach Hause, öffnete die Eingangstüre, trat in den Vorraum und fand die splitternackte, ausgeweidete und offenbar blutleere Leiche des schlechten Sängers Timmy Fielschlimmy auf meinem Teppich.
Mein erster hysterischer Gedanke war: Hätte ich doch besser einen Teppich mit Blümchenmuster ausgewählt!
Timmy Fielschlimmy! Was hatte er hier im Tiroler Oberland zu suchen gehabt? Nein, die Frage war ebenso hinfällig wie die Überlegung, wie Kali ihn durch die Katzenklappe hatte hindurch bringen können. Hier ging nichts mehr mit rechten Dingen zu. Und hier lag er auf meinem Teppich, bleich wie ein Bettlaken, fast durchsichtig, der Bauchraum geöffnet und leer. Sein ebenso leerer, glasiger Blick fiel zur Deckenlampe, die ich in meiner Zerstreutheit hatte brennen lassen, während ich einkaufen gewesen war. Seine Brille hatte er noch auf, was seinen toten Augen einen noch merkwürdigeren Glanz verlieh im Schein der Deckenlampe.
Dieses Licht wird wohl das letzte gewesen sein, was Timmy in seinem Leben gesehen hat, überlegte ich. Kein Licht „am Ende des Tunnels“, - sondern eine ganz profane Deckenlampe. Ein höheres Wesen hat wohl ganz schnell verhindert, dass Timmy auch noch im Jenseits singt.
Wie er jetzt so still dalag und keinen einzigen Ton mehr von sich gab, wurde er mir beinahe sympathisch, der arme Timmy. Als er noch gelebt hatte, waren jedoch andere Empfindungen in mir vorherrschend gewesen …
Seit einigen Jahren bin ich Mitglied eines Innsbrucker Kunstvereins mit eigener Galerie namens „Fokus“ (Forum für Kunst und Soziales). Und einmal die Woche findet dort ein Künstlerstammtisch statt, an dem ich regelmäßig teilnehme. Der Austausch mit anderen Künstlern ist mir wichtig, er ist mir eine inspiratorische Bluttransfusion, eine Brille gegen Betriebsblindheit. Zumindest war er das, bevor Timmy Fielschlimmy an diesen Treffen teilzunehmen begann.
Als wäre es heute, erinnere ich mich an einen besonders grauenvollen Abend:
Wir saßen alle am runden Tisch, da sagte Timmy: „Ich hab heute einen neuen Song aufgenommen und auf CD gebrannt. Darf ich ihn laufen lassen, bitte, bitte?“
„Nein!“, sagte Ernst Musinger, Gastgeber und Moderator des Künstlerstammtischs.
„Nein!“, sagte Steff.
„Gnade!“, sagte ich.
Ernst holte tief Luft und sagte: „Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja!“, dann ein seufzender Ausatmer, und er fuhr fort: „Thema: Kunst, Liebe und Freiheit. - Nick hat behauptet, diese Begriffe lassen sich im Außen nicht definieren, sondern sind innerliche Befindlichkeiten, obwohl sie, - und das sei laut ihm eine große Tragik der Menschheit -, fortwährend im Außen gesucht würden. Steff hat entgegnet, man könne diese Begriffe gar nicht voneinander trennen, sie seien gar nicht verschieden voneinander, sondern nur Aspekte ein und derselben …“
„Manitu-Hanna!“, sagte Timmy.
„Wie bitte?“ Ernsts Augenbrauen wanderten so weit nach oben, dass sie fast den Haaransatz berührten.
„Das ist der Titel meines neuen Songs“, sagte Timmy. „Manitu-Hanna.“
„Also, das ist jetzt nicht …“
„Bitte, bitte, bitte, nur ganz kurz“, quengelte Timmy, „Ich habe auch einen echt tief schürfenden Text dazu gedichtet.“
Während er noch redete, war er schon aufgestanden und bewegte sich in Richtung Musik-Anlage. Alle am runden Tisch seufzten. „Also gut“, sagte Ernst. „Aber nicht so laut, bitte.“
Gleich darauf begannen die Boxen in maximaler Lautstärke zu dröhnen und zu vibrieren, und von den Wänden widerhallend ertönten absolut einfallslose Synthesizer-Klänge, die alsbald begleitet wurden vom schlechten Gesang Timmy Fielschlimmies:
„Manitu-Hannaaah!
We can have so much fun-ahh,
we smoke Marihuana,
und dann lässt du mich ran-ahh!“
Und nicht mal, während sein eigener, grauenhafter Song lief, gelang es Timmy zu schweigen. Er kommentierte: „Den Text habe ich posthum Pierre Brice gewidmet. Ihr wisst schon: Wegen Manitu! Ich finde, das war ein besonders raffinierter Einfall. Das gibt dem Ganzen noch die letzte Würze.“
„Maanituu-Hannaaaah!“
„Stell das sofort ab!“, stöhnte ich, - laut, - um den unsäglichen Lärm zu übertönen. „Das ist auditive Umweltverschmutzung!“
Der sonst so blasse Timmy lief rot an. „Immer beleidigst du mich! Das lasse ich mir nicht länger gefallen!“
Ernst massierte mit den Fingern seine eh schon zerfurchte Stirn. „Timmy, bitte!“, sagte er.
„Wie kann man diesen Schrott denn noch beleidigen?“ erwiderte ich.
„Da! Er tut es schon wieder! Habt ihr das gehört?“, rief Timmy. „Du Soziopath, du!“
So oder ähnlich verliefen nun gewöhnlich die Stammtisch-Abende im Fokus, dass ich mir mehr wie auf dem „Locus“ vorkam… Aber nein, verbesserte ich sogleich meinen Gedankengang: So waren sie in letzter Zeit verlaufen! – Die Leiche vor mir auf dem Boden gab immerhin ganz entschieden Anlass zur Hoffnung, dass im Fokus nun wieder angenehmere Zeiten anbrechen würden.
Dies löste freilich nicht mein aktuelles Problem. Den kalten Timmy im Container für Tierkadaver bei der Sammelstelle zu entsorgen, kam eher nicht infrage. Gewisse Behörden mochten daran Anstoß nehmen und dafür sorgen wollen, dass ich für die nächsten Jahre an den Stammtisch-Abenden im Fokus verhindert sein würde.
Zugleich überlegte ich, ob es nicht sinnvoll wäre, zusammen mit Timmy den verhängnisvollen Teppich mit den animalischen Mustern loszuwerden. Wer wusste, was er mir als nächstes bescheren würde?
In diesem Moment näherte sich Kali von hinten, strich um meine Beine, rieb sich an meinen Unterschenkeln, was ihre Art war, mich um Streicheleinheiten zu ersuchen – oder, um mir etwas mitzuteilen.
Ich bückte mich und begann Kali den Kopf zu kraulen, doch gleich duckte sie sich unter meiner Hand weg. „Na, was willst du mir denn sagen, süße Miezekatze?“, fragte ich.
Sie lief mir voran in den Atelier-Raum, wo meine Staffelei und mein Arbeitstisch standen und mein ganzes Werkzeug gelagert war. Sie strich mit erhobenem Schwanz um die Beine der Staffelei herum, ihren Blick nach oben zu deren Spitze gewandt, wo die Taglicht-Lampe fest geklemmt war.
Sie richtete sich an der Staffelei auf, machte sich ganz lang und starrte weiter auf die Lampe, eine Stableuchte mit langem, biegsamem Hals. Sie begann zu schnurren.
„Hat das irgendwas mit der Lampe zu tun? Soll ich etwas mit der Lampe machen?“
Kali machte „Miau“, was bei ihr „Ja“ bedeutete.
Mir kam eine Idee!
„Meinst du etwa, ich soll aus Timmy einen Lampenständer machen? Eine Stehlampe? Ist deswegen sein Blick auf die Deckenlampe gerichtet? Wolltest du mir damit ein Zeichen geben?“
„Miau!“
Der kalte Timmy war bereits ausgeweidet und blutleer, - also sauber! Ich konnte ihn mit Kunstharz übergießen und konservieren, später bemalen, zum Beispiel mit einem fetzigen Leopardenmuster! Dann konnte ich den biegsamen Hals der Lampe von unten durch den After schieben, sodass die Stableuchte durch Timmies Mund effektiv zu Vorschein kam! – Welch grandiose Inspiration!
„Nein, nein, nein!“, sagte ich. „So kann das nicht weiter gehen. Pustekuchen: Leopardenmuster! Mit all dem muss Schluss sein! Wer weiß, was du mir als nächstes anbringst! Dieser Teppich muss weg. Und Timmy auch!“
Kali hatte sich wieder auf den Boden gesetzt und begann nun sich zu schütteln und sich zuerst hinter einem, dann hinter dem anderen Ohr zu kratzen. Offenbar war es wieder Zeit für ihre Anti-Parasiten-Kur, wie sie bei Freigänger-Katzen regelmäßig notwendig ist. Zumal hier auf dem Land: nur Weiden ,Wald und Berge ringsum.
Kali stoppte ihre Putzaktion seltsam abrupt und starrte mich unverwandt an.
„Du hast gar keine Flöhe!“, erkannte ich jetzt. „Du willst mir damit etwas sagen!“
„Miau!“
„Parasiten … Ungeziefer! Alles, was du mir auf den neuen Teppich legst, ist totes Ungeziefer, damit ich es kreativ transformieren kann?“
„Miau!“
Endlich hatte ich verstanden! Eine neue Schaffensperiode war angebrochen.
ENDE