Betty in Bernstein
Schon mal an Selbstmord gedacht, Juli?
Ich denke, jeder hat mal. Ich natürlich auch. Witzigerweise nie, wenn ich besonders unglücklich gewesen wäre. Flucht? Verzweiflung? Darum wäre es mir nicht gegangen. Eher noch Neugier. Die Frage, wie es wohl wäre, tot zu sein, was nachher kommt, und nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Aber am meisten reizte mich die Vorstellung, einen so endgültigen Schritt zu setzen, eine Entscheidung von einer derartigen Tragweite zu treffen – das ist Macht. Freiheit. Ich kann alles zerstören, wenn ich will. Nicht nur mich, alles. Ich muss nur ein falsches Wort sagen, eine übles Gerücht streuen, ein bisschen Verleumdnung, Rufmord, es wäre ganz leicht. Ich könnte behaupten, du wärest magersüchtig, ich könnte behaupten, meine Eltern hätten mich geschlagen, ich könnte noch viel Schlimmeres behaupten. Ich kann so gewaltigen Schaden anrichten, ich, die kleine, die unbedarfte Betty. Wenn ich das täte, ich würde es nicht ertragen, ich müsste mich so verabscheuen, und ich stelle mir vor: Das ist die Hölle. So etwas zu tun, das wäre die grausamste Niederlage, vollkommener kann man nicht versagen. Ich ich liebe euch doch, ich liebe mein Leben. Warum sollte ich also sowas tun? Nur weil ich könnte? Das ist kein Grund, das weiß ich, aber wie kann ich sicher sein? Und bei jedem Abgrund, an dem ich vorbeikommen, drängt sich mir die Vorstellung auf, ich könnte mich nun jederzeit hinabstürzen, es ist jetzt eine ganz flüchtige Empfindung, aber als ich ein Kind war, übte sie eine beunruhigende Faszination auf mich aus. Ich weiß noch, wenn ich nach einem Alptraum zu meinen Eltern ins Bett kriechen wollte, musste ich zuerst über den Flur, vorbei an dem Stiegengeländer. Ich hätte ganz einfach drüberklettern können. Ich hätte auch ohne Weiteres zwischen den Stäben durchgepasst. Seit ich davon geträumt hatte, wie meine Mutter von Einbrechern dieses Geländer heruntergestoßen wird, konnte ich nicht mehr daran vorbeigehen, ohne daran zu denken, wie es wäre, hinunterzufallen. Oder besser gesagt: Hinunterzuspringen. Tageslicht lässt ja alles sicher erscheinen, aber vor der Nacht hat man als Kind Respekt, im Schutz der Dunkelheit wagt sich das Böse hervor, die Mörder, die Monster, die Gangster, die Gespenster. In diesen Stunden kann doch alles geschehn. So lag ich oft lange wach, gefangen zwischen zwei Schrecken, dem Alp, der aus jeder Spalte, jeder Ritze, hinter jeder Kante hervorlugte, und dieser entsetzlichen Möglichkeit des Abgrundes. Irgendwann machte ich mich doch auf den Weg. Ich hatte zum Glück für diese Fälle auf dem Nachtisch ein Jojo liegen, das nahm ich mir mit, das lenkte mich ab, es hinderte mich daran, auf dumme Gedanken zu kommen. Überhaupt, meine größte Angst: auf dumme Gedanken zu kommen. Am Anfang hatte ich mein Jojo, später hatte ich Elli. „Sei beruhigt“ sagt sie. „Du wirst nie so etwas tun. Warum solltest du?“ Wenn sie das sagt, klingt es logisch. Warum sollte ich? Wie könnte ich auch? Ich könnte doch gar nicht, so etwas könnte ich doch nie tun, doch nicht unter Ellis strengem Blick. Und wenn ich schon Anstalten mache, kostet sie das nur ein müdes Lächeln. „Ach was. Es wäre doch dumm, sowas zu machen. Du bist doch viel zu klug,“ sagt sie, und wenn ich sie so sehe, dann kann ich plötzlich auch daran glauben, an den Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, an die Kraft der Vernunft.
Ach Juli,
gestern träumte ich wieder von den Sümpfen. Es fing an mit Nebel, einem zähen, lastenden Grau, das verstopft dir die Augen und die Ohren und den Mund und alle Poren. Dann sah ich ein fahles Licht, einmal da, einmal dort, ruhelos. Ich weiß, es sind Irrlichter und ich folge ihnen. Sie locken mich tief in die Sümpfe, dorthin, wo die Sumpfsterne wachsen, die violetten Blumen. Das heißt, ich glaube zumindest, es sind Blumen. Sie haben Klauen und Krallen, ich sehe sie nicht, aber ich weiß, dort unten, verborgen im Morast, anstelle der Wurzeln, da sind sie und lauern darauf, mich zu packen. Inmitten des Blütenkranz öffnet sich ein zahnbewehrter Schlund, die geifernde Gefahr grinst mir daraus entgegen. Ich gehe über unsicheren Grund. Dieses Gefühl wird mich nicht loslassen, auch dann nicht, wenn ich längst wach bin. Ich gehe über unsicheren Grund. Ich kehre nicht um. Mit jedem Schritt warte ich auf das Erwachen der Lindwürmer. Noch lauern sie, wie die Klauen der Sumpfsterne unter mir, aber ich weiß, dass sie hier leben, ich rieche schon ihren modrigen Atem. Am meisten fürchte ich ihre Augen. Dahinter züngeln Flammen und wenn du zu tief hineinschaust, dann schnappen die gierigen Zungen auch nach dir, das Feuer gerinnt zu Harz, du fällst hinein und wirst sofort erstickt und umschlossen - eine Fliege im Bernstein. Auch das weiß ich schon, ich weiß doch alles in so einem Traum und schaue immerzu in Lindwurmaugen, so endet jeder dieser Träume in einem Bernsteinsarg.
Ich hatte aber noch ein anderen Traum gestern Nacht, vielleicht gibt es Hoffnung. In diesem zweiten Traum bin ich zuerst wieder im Dunkeln, es ist aber diesmal vollkommene Schwärze, warme, alles umfangende Schwärze. Wieder flackert ein Licht auf, doch diesmal bleibt es beständig, es sind Feuer, sie werden aber bewacht, es wird daran gearbeitet. Dauernd kommen Leute und nehmen Maß an mir. Ich kenne die Leute nicht in meinem Traum, sie haben keine Gesichter, sie haben so viele Gesichter. Mama vielleicht, oder du, die alte Frau Gerstmayr aus dem Bus, unser Englisch-Assistent, sogar diese Tante aus der Mittags-Talkshow, aber eigentlich ist es immer Elli, erinnere ich mich, wenn ich wach bin. Sie passen mir Metall an. Ich will sie fragen wozu, sie hören mich nicht, es ist zu laut. Hammerschläge dröhnen in meine Ohren. Und ich erwache, diesmal nicht schweißgebadet, mit einem guten Gefühl: Sie schmieden mir eine Rüstung.
Liebe Juli,
wirklich, ich wüßte nicht, was ich täte ohne Elli. Wahnsinnig werden? Jede Nacht gerate ich tiefer in die Sümpfe und jedes Mal, wenn ich glaube, die Gefahren zu kennen, entdecke ich neue. Unendlich ist die Vielfalt der Sumpfbewohner, und unendlich ihr Repertoire an Tötungsarten. Es hilft nichts, dass ich irgendwann wach werde. Es hilft nichts, dass ich dann auf festem Fundament stehe. Ich warte nur darauf, dass es wegbricht und den Sumpf freilegt.
Diese Angst ist anderes als alle Ängste, die ich bisher kannte, und das waren nicht wenige.
Mit sieben, zum Beispiel, rechnete ich jede Nacht mit der Apokalypse. Dabei war es noch gar nicht das Jahr, das die Hopi-Indianer dafür prophezeit hatten. Und ich glaub ja, was das belangt, bedingungslos den Hopi-Indianern, sie haben schließlich auch ihren eigenen Untergang korrekt vorhergesagt, was wohl Beleg genug sein dürfte für ihre Kompetenz in Untergangsvorhersagen. Aber wie sollte ich damals wissen von den Hopi-Indianern? Ich war mir jedenfalls sicher, wie der Weltuntergang erfolgen würde, nämlich in Form eines Meteoriteneinschlages. Deshalb schreckte ich jedes Mal aus dem Schlaf hoch, wenn ich hörte, wie sich etwas Großes aus der Luft mit hoher Geschwindigkeit dem Erdboden näherte, ich wusste, jetzt kommt der Meteorit und das Herz schlug mir bis zum Hals, wenn ich zum Fenster schaute, das ich vom Schein der Explosion erleuchtet erwartete. Es war Elli, die mir schließlich klar machte, dass das die Flugzeugen waren, die den nahegelegenen Flughafen anflogen. Später empfahl sie mir, wenn ich wegen meiner Alpträume nicht schlafen konnte, warme Milch mit Honig und ich schließ tief und traumlos bis zum Morgen. Elli weiß Mittel gegen alle Ängste. Ich bin älter als sie, doch sie beschützt mich wie eine große Schwester.
Ich wünschte, ich könnte sie mitnehmen in die Sümpfe. Sie lässt sich von den Irrlichtern nicht beirren, sie streckt einfach die Hand aus und schnappt sich eins und sperrt es in eine Lampe, da kann es schwirren wie es will, es muss uns leuchten. Dann sucht sie uns einen Weg durch die Sümpfe, sie findet immer die sicheren Stellen, sie kommt auch nie vom Weg ab, so als wäre um sie ein unsichtbares Geländer, das jeden Fehltritt ausschließt und sie geht im vollen Bewusstsein dieses Geländers und macht mich auf die Schönheit der Sümpfe aufmerksam. „Das ist ein ganz berühmte Naturschutzgebiet, ich hab schon mal eine Dokumentation darüber im Fernsehen gesehen, und jetzt können wir es selbst besichtigen, ist das nicht aufregend!“ sagt sie und klatscht in die Hände und strahlt vor Abenteuerlust. „Da schau nur, die violetten Blumen! Wie schön!“
„Und die Klauen, die Krallen?“ werfe ich ein.
„Ach, die Klauen ..“ – sie macht eine wegwerfende Handbewegung, „die können uns nicht erwischen, wir sind auf dem sicheren Weg, wir gehen einfach nicht zu nahe ran.“
„Sie wollen dich töten.“
„Sie werden es nicht. Das ist das einzig Wichtige.“
Und schon nimmt sie mich bei der Hand und zieht mich zu den Lindwurmnestern und sie erklärt mir, dass der Drache in China Glück bedeutet, sie hüpft zwischen den schlafenden Lindwürmern herum und sammelt ihre Schuppen auf, die sind aus Smaragd und Lapislazuli. Daraus bastelt sie mir eine Brosche. Dann holt sie ihr kleines Zahnarzt-Set hervor und zieht den Lindwürmern die Zähne und macht mir daraus eine Kette. Die Ungeheuer sind dabei natürlich munter geworden und Elli bewundert ihre leuchtenden Bernsteinaugen, sie findest es so schade, dass die festsitzen und sie nicht auch noch den Bernstein als Schmuck verwenden kann. Ich zupfe an ihrem Ärmel, ich will weg, ich warne sie vor der Gefahr hinter den Bernsteinaugen. Sie kann es gar nicht verstehen, sie schaut nie zu tief in die Augen, sie käme gar nicht auf die Idee, zu tief in die Augen zu schauen, was ist denn auch dabei, nicht zu tief in die Augen zu schauen? Als sie merkt, wie sehr ich mich fürchte, lacht sie lauthals. Ich liebe ihr Lachen, es hilft gegen alles. Die Drachen werden ganz klein unter ihrem zersetzendem Gelächter, sie schrumpfen zusammen auf Haustiergröße. Elli baut ihnen ein Terrarium und hält sie wie Schoßhündchen. Die Augen sind nur mehr verglimmende Zigarettenkippen, nicht einmal mich kann dieser Schimmer noch verschlingen. So wäre es, wenn ich Elli mitnehmen könnte, warum kann ich das nicht?
Ich verdanke Elli fast alles. Sie ist meine Schwester, mein Schutz, meine Stärke. Mein Seelenfrieden. Aber weißt du was? Manchmal hasse ich sie. Schockiert? Sei es - ich bin es. Ich weiß nicht, warum ich sie dann hasse, es gibt ja keinen Grund, es kann ja gar keinen Grund geben, warum? Sie ist also die einzige Person, die mir hilft, zu glauben, dass ich doch ein gutes Mädchen bin – ich weiß, du würdest es auch sagen, aber nur sie kann mich überzeugen – und ich ertappe mich dabei, wie ich sie hasse, wie ich sie verachte, wie sie regelrecht Ekel hervorruft bei mir – wo ich sie mir doch zum Vorbild nehmen sollte. Das ist der Beweis: Ich bin ein mieses Stück. So viele Schatten, unsichtbar im gnädigen Licht, aber ich muss ihnen doch nachspüren, ich muss doch wissen, was sie wirft. Meine krankhafte Neugier. Bloß, ich wage es nicht wirklich, was werde ich finden? Meine Furcht.
Zum Glück machen sie in der Schmiede Fortschritte. Die Rüstung wird meinem Körper genauestens angepasst. Und jetzt schmieden sie auch diese Eisenspitzen, du weißt schon, wie auf den Morgensternen. Wenn meine Rüstung erstmal mit diesen Spitzen bestückt ist, wird mir kein Lindwurm mehr zu nahe kommen.
Juli,
Ich schreibe Dir in höchster Angst. Du musst mir helfen. Etwas Dunkles nähert sich. Ich gehe auf unsicherem Grund, ich rieche schon den modrigen Atem, ich merke es nicht nur in meinen Träumen, und es wird stärker. Und es trennt mich von Elli. Ich brauche dich so dringend, du bist mir nach ihr am nächsten, ihr seid mein innerster Wall und etwas sagt mir, dass mir Elli diesmal nicht helfen kann.
JULIA!
julia
Ich weiß nun alles. Die grausame Wahrheit.
Ich weiß, warum Elli nie Angst haben muss. Warum sie so sicher ist, Elli, die alles vernichtet, was sie bedroht. Vernichtet, ohne auch nur daran zu denken, vernichtet im Vorbeigehen, mit schlafwandlerischer Sicherheit. Darum kann ich sie nicht mitnehmen in meine Träume, weil sie nie aus ihren erwacht. Sie ist die mörderische Schlafwandlerin, das war sie die ganze Zeit über, jetzt ist es mir klar. Was ist die Bedrohung? Irrlichter? Bernsteinaugen? Wer folgt ihnen? Wer sieht zu tief hinein? Mein Ende. Nicht für außen sind die Zacken, für innen sind sie. Es wird keine Rüstung werden. Es wird eine eiserne Jungfrau.