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Betty in Bernstein

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12.04.2003
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Betty in Bernstein

Schon mal an Selbstmord gedacht, Juli?

Ich denke, jeder hat mal. Ich natürlich auch. Witzigerweise nie, wenn ich besonders unglücklich gewesen wäre. Flucht? Verzweiflung? Darum wäre es mir nicht gegangen. Eher noch Neugier. Die Frage, wie es wohl wäre, tot zu sein, was nachher kommt, und nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Aber am meisten reizte mich die Vorstellung, einen so endgültigen Schritt zu setzen, eine Entscheidung von einer derartigen Tragweite zu treffen – das ist Macht. Freiheit. Ich kann alles zerstören, wenn ich will. Nicht nur mich, alles. Ich muss nur ein falsches Wort sagen, eine übles Gerücht streuen, ein bisschen Verleumdnung, Rufmord, es wäre ganz leicht. Ich könnte behaupten, du wärest magersüchtig, ich könnte behaupten, meine Eltern hätten mich geschlagen, ich könnte noch viel Schlimmeres behaupten. Ich kann so gewaltigen Schaden anrichten, ich, die kleine, die unbedarfte Betty. Wenn ich das täte, ich würde es nicht ertragen, ich müsste mich so verabscheuen, und ich stelle mir vor: Das ist die Hölle. So etwas zu tun, das wäre die grausamste Niederlage, vollkommener kann man nicht versagen. Ich ich liebe euch doch, ich liebe mein Leben. Warum sollte ich also sowas tun? Nur weil ich könnte? Das ist kein Grund, das weiß ich, aber wie kann ich sicher sein? Und bei jedem Abgrund, an dem ich vorbeikommen, drängt sich mir die Vorstellung auf, ich könnte mich nun jederzeit hinabstürzen, es ist jetzt eine ganz flüchtige Empfindung, aber als ich ein Kind war, übte sie eine beunruhigende Faszination auf mich aus. Ich weiß noch, wenn ich nach einem Alptraum zu meinen Eltern ins Bett kriechen wollte, musste ich zuerst über den Flur, vorbei an dem Stiegengeländer. Ich hätte ganz einfach drüberklettern können. Ich hätte auch ohne Weiteres zwischen den Stäben durchgepasst. Seit ich davon geträumt hatte, wie meine Mutter von Einbrechern dieses Geländer heruntergestoßen wird, konnte ich nicht mehr daran vorbeigehen, ohne daran zu denken, wie es wäre, hinunterzufallen. Oder besser gesagt: Hinunterzuspringen. Tageslicht lässt ja alles sicher erscheinen, aber vor der Nacht hat man als Kind Respekt, im Schutz der Dunkelheit wagt sich das Böse hervor, die Mörder, die Monster, die Gangster, die Gespenster. In diesen Stunden kann doch alles geschehn. So lag ich oft lange wach, gefangen zwischen zwei Schrecken, dem Alp, der aus jeder Spalte, jeder Ritze, hinter jeder Kante hervorlugte, und dieser entsetzlichen Möglichkeit des Abgrundes. Irgendwann machte ich mich doch auf den Weg. Ich hatte zum Glück für diese Fälle auf dem Nachtisch ein Jojo liegen, das nahm ich mir mit, das lenkte mich ab, es hinderte mich daran, auf dumme Gedanken zu kommen. Überhaupt, meine größte Angst: auf dumme Gedanken zu kommen. Am Anfang hatte ich mein Jojo, später hatte ich Elli. „Sei beruhigt“ sagt sie. „Du wirst nie so etwas tun. Warum solltest du?“ Wenn sie das sagt, klingt es logisch. Warum sollte ich? Wie könnte ich auch? Ich könnte doch gar nicht, so etwas könnte ich doch nie tun, doch nicht unter Ellis strengem Blick. Und wenn ich schon Anstalten mache, kostet sie das nur ein müdes Lächeln. „Ach was. Es wäre doch dumm, sowas zu machen. Du bist doch viel zu klug,“ sagt sie, und wenn ich sie so sehe, dann kann ich plötzlich auch daran glauben, an den Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, an die Kraft der Vernunft.

Ach Juli,

gestern träumte ich wieder von den Sümpfen. Es fing an mit Nebel, einem zähen, lastenden Grau, das verstopft dir die Augen und die Ohren und den Mund und alle Poren. Dann sah ich ein fahles Licht, einmal da, einmal dort, ruhelos. Ich weiß, es sind Irrlichter und ich folge ihnen. Sie locken mich tief in die Sümpfe, dorthin, wo die Sumpfsterne wachsen, die violetten Blumen. Das heißt, ich glaube zumindest, es sind Blumen. Sie haben Klauen und Krallen, ich sehe sie nicht, aber ich weiß, dort unten, verborgen im Morast, anstelle der Wurzeln, da sind sie und lauern darauf, mich zu packen. Inmitten des Blütenkranz öffnet sich ein zahnbewehrter Schlund, die geifernde Gefahr grinst mir daraus entgegen. Ich gehe über unsicheren Grund. Dieses Gefühl wird mich nicht loslassen, auch dann nicht, wenn ich längst wach bin. Ich gehe über unsicheren Grund. Ich kehre nicht um. Mit jedem Schritt warte ich auf das Erwachen der Lindwürmer. Noch lauern sie, wie die Klauen der Sumpfsterne unter mir, aber ich weiß, dass sie hier leben, ich rieche schon ihren modrigen Atem. Am meisten fürchte ich ihre Augen. Dahinter züngeln Flammen und wenn du zu tief hineinschaust, dann schnappen die gierigen Zungen auch nach dir, das Feuer gerinnt zu Harz, du fällst hinein und wirst sofort erstickt und umschlossen - eine Fliege im Bernstein. Auch das weiß ich schon, ich weiß doch alles in so einem Traum und schaue immerzu in Lindwurmaugen, so endet jeder dieser Träume in einem Bernsteinsarg.

Ich hatte aber noch ein anderen Traum gestern Nacht, vielleicht gibt es Hoffnung. In diesem zweiten Traum bin ich zuerst wieder im Dunkeln, es ist aber diesmal vollkommene Schwärze, warme, alles umfangende Schwärze. Wieder flackert ein Licht auf, doch diesmal bleibt es beständig, es sind Feuer, sie werden aber bewacht, es wird daran gearbeitet. Dauernd kommen Leute und nehmen Maß an mir. Ich kenne die Leute nicht in meinem Traum, sie haben keine Gesichter, sie haben so viele Gesichter. Mama vielleicht, oder du, die alte Frau Gerstmayr aus dem Bus, unser Englisch-Assistent, sogar diese Tante aus der Mittags-Talkshow, aber eigentlich ist es immer Elli, erinnere ich mich, wenn ich wach bin. Sie passen mir Metall an. Ich will sie fragen wozu, sie hören mich nicht, es ist zu laut. Hammerschläge dröhnen in meine Ohren. Und ich erwache, diesmal nicht schweißgebadet, mit einem guten Gefühl: Sie schmieden mir eine Rüstung.


Liebe Juli,

wirklich, ich wüßte nicht, was ich täte ohne Elli. Wahnsinnig werden? Jede Nacht gerate ich tiefer in die Sümpfe und jedes Mal, wenn ich glaube, die Gefahren zu kennen, entdecke ich neue. Unendlich ist die Vielfalt der Sumpfbewohner, und unendlich ihr Repertoire an Tötungsarten. Es hilft nichts, dass ich irgendwann wach werde. Es hilft nichts, dass ich dann auf festem Fundament stehe. Ich warte nur darauf, dass es wegbricht und den Sumpf freilegt.

Diese Angst ist anderes als alle Ängste, die ich bisher kannte, und das waren nicht wenige.
Mit sieben, zum Beispiel, rechnete ich jede Nacht mit der Apokalypse. Dabei war es noch gar nicht das Jahr, das die Hopi-Indianer dafür prophezeit hatten. Und ich glaub ja, was das belangt, bedingungslos den Hopi-Indianern, sie haben schließlich auch ihren eigenen Untergang korrekt vorhergesagt, was wohl Beleg genug sein dürfte für ihre Kompetenz in Untergangsvorhersagen. Aber wie sollte ich damals wissen von den Hopi-Indianern? Ich war mir jedenfalls sicher, wie der Weltuntergang erfolgen würde, nämlich in Form eines Meteoriteneinschlages. Deshalb schreckte ich jedes Mal aus dem Schlaf hoch, wenn ich hörte, wie sich etwas Großes aus der Luft mit hoher Geschwindigkeit dem Erdboden näherte, ich wusste, jetzt kommt der Meteorit und das Herz schlug mir bis zum Hals, wenn ich zum Fenster schaute, das ich vom Schein der Explosion erleuchtet erwartete. Es war Elli, die mir schließlich klar machte, dass das die Flugzeugen waren, die den nahegelegenen Flughafen anflogen. Später empfahl sie mir, wenn ich wegen meiner Alpträume nicht schlafen konnte, warme Milch mit Honig und ich schließ tief und traumlos bis zum Morgen. Elli weiß Mittel gegen alle Ängste. Ich bin älter als sie, doch sie beschützt mich wie eine große Schwester.
Ich wünschte, ich könnte sie mitnehmen in die Sümpfe. Sie lässt sich von den Irrlichtern nicht beirren, sie streckt einfach die Hand aus und schnappt sich eins und sperrt es in eine Lampe, da kann es schwirren wie es will, es muss uns leuchten. Dann sucht sie uns einen Weg durch die Sümpfe, sie findet immer die sicheren Stellen, sie kommt auch nie vom Weg ab, so als wäre um sie ein unsichtbares Geländer, das jeden Fehltritt ausschließt und sie geht im vollen Bewusstsein dieses Geländers und macht mich auf die Schönheit der Sümpfe aufmerksam. „Das ist ein ganz berühmte Naturschutzgebiet, ich hab schon mal eine Dokumentation darüber im Fernsehen gesehen, und jetzt können wir es selbst besichtigen, ist das nicht aufregend!“ sagt sie und klatscht in die Hände und strahlt vor Abenteuerlust. „Da schau nur, die violetten Blumen! Wie schön!“
„Und die Klauen, die Krallen?“ werfe ich ein.
„Ach, die Klauen ..“ – sie macht eine wegwerfende Handbewegung, „die können uns nicht erwischen, wir sind auf dem sicheren Weg, wir gehen einfach nicht zu nahe ran.“
„Sie wollen dich töten.“
„Sie werden es nicht. Das ist das einzig Wichtige.“
Und schon nimmt sie mich bei der Hand und zieht mich zu den Lindwurmnestern und sie erklärt mir, dass der Drache in China Glück bedeutet, sie hüpft zwischen den schlafenden Lindwürmern herum und sammelt ihre Schuppen auf, die sind aus Smaragd und Lapislazuli. Daraus bastelt sie mir eine Brosche. Dann holt sie ihr kleines Zahnarzt-Set hervor und zieht den Lindwürmern die Zähne und macht mir daraus eine Kette. Die Ungeheuer sind dabei natürlich munter geworden und Elli bewundert ihre leuchtenden Bernsteinaugen, sie findest es so schade, dass die festsitzen und sie nicht auch noch den Bernstein als Schmuck verwenden kann. Ich zupfe an ihrem Ärmel, ich will weg, ich warne sie vor der Gefahr hinter den Bernsteinaugen. Sie kann es gar nicht verstehen, sie schaut nie zu tief in die Augen, sie käme gar nicht auf die Idee, zu tief in die Augen zu schauen, was ist denn auch dabei, nicht zu tief in die Augen zu schauen? Als sie merkt, wie sehr ich mich fürchte, lacht sie lauthals. Ich liebe ihr Lachen, es hilft gegen alles. Die Drachen werden ganz klein unter ihrem zersetzendem Gelächter, sie schrumpfen zusammen auf Haustiergröße. Elli baut ihnen ein Terrarium und hält sie wie Schoßhündchen. Die Augen sind nur mehr verglimmende Zigarettenkippen, nicht einmal mich kann dieser Schimmer noch verschlingen. So wäre es, wenn ich Elli mitnehmen könnte, warum kann ich das nicht?

Ich verdanke Elli fast alles. Sie ist meine Schwester, mein Schutz, meine Stärke. Mein Seelenfrieden. Aber weißt du was? Manchmal hasse ich sie. Schockiert? Sei es - ich bin es. Ich weiß nicht, warum ich sie dann hasse, es gibt ja keinen Grund, es kann ja gar keinen Grund geben, warum? Sie ist also die einzige Person, die mir hilft, zu glauben, dass ich doch ein gutes Mädchen bin – ich weiß, du würdest es auch sagen, aber nur sie kann mich überzeugen – und ich ertappe mich dabei, wie ich sie hasse, wie ich sie verachte, wie sie regelrecht Ekel hervorruft bei mir – wo ich sie mir doch zum Vorbild nehmen sollte. Das ist der Beweis: Ich bin ein mieses Stück. So viele Schatten, unsichtbar im gnädigen Licht, aber ich muss ihnen doch nachspüren, ich muss doch wissen, was sie wirft. Meine krankhafte Neugier. Bloß, ich wage es nicht wirklich, was werde ich finden? Meine Furcht.

Zum Glück machen sie in der Schmiede Fortschritte. Die Rüstung wird meinem Körper genauestens angepasst. Und jetzt schmieden sie auch diese Eisenspitzen, du weißt schon, wie auf den Morgensternen. Wenn meine Rüstung erstmal mit diesen Spitzen bestückt ist, wird mir kein Lindwurm mehr zu nahe kommen.


Juli,

Ich schreibe Dir in höchster Angst. Du musst mir helfen. Etwas Dunkles nähert sich. Ich gehe auf unsicherem Grund, ich rieche schon den modrigen Atem, ich merke es nicht nur in meinen Träumen, und es wird stärker. Und es trennt mich von Elli. Ich brauche dich so dringend, du bist mir nach ihr am nächsten, ihr seid mein innerster Wall und etwas sagt mir, dass mir Elli diesmal nicht helfen kann.


JULIA!
julia

Ich weiß nun alles. Die grausame Wahrheit.
Ich weiß, warum Elli nie Angst haben muss. Warum sie so sicher ist, Elli, die alles vernichtet, was sie bedroht. Vernichtet, ohne auch nur daran zu denken, vernichtet im Vorbeigehen, mit schlafwandlerischer Sicherheit. Darum kann ich sie nicht mitnehmen in meine Träume, weil sie nie aus ihren erwacht. Sie ist die mörderische Schlafwandlerin, das war sie die ganze Zeit über, jetzt ist es mir klar. Was ist die Bedrohung? Irrlichter? Bernsteinaugen? Wer folgt ihnen? Wer sieht zu tief hinein? Mein Ende. Nicht für außen sind die Zacken, für innen sind sie. Es wird keine Rüstung werden. Es wird eine eiserne Jungfrau.

 

Hallo nurso!

Ich habe Deine Geschichte jetzt dreimal gelesen. Einmal schnell, um das Ende zu erfahren. Noch einmal, um das Ende zu verstehen und ein drittes Mal...um das Ende zu verstehen!

War nicht so schlimm, denn ich habe Deine Geschichte gern gelesen. Dein Stil hat mir gefallen, locker und selbstverständlich, trotz der grausamen Szenen.

Die Beschreibung der Selbstmordgedanken und der Albträume waren sehr eindringlich. Diese Gedanken, ich könnte jetzt dort hinunter springen, einfach so, kommen absolut glaubwürdig rüber. Die Albträume - ich weiß, dort lauert die Gefahr, aber ich gehe trotzdem, ich muß es wissen, auch wenn es jedesmal im Bernsteinsarg endet. Genau so ist es.

Klasse fand ich auch Bettys Vorstellung, wie Elli sich in ihren Träumen bewegen würde. Leicht und unbeschwert, und alles sooooo logisch. Vielleicht solltest Du hier noch ein bißchen verdeutlichen, dass es sich nur um einen Wunsch oder das was wäre wenn, handelt. Es wird zwar zu Beginn der Beschreibung darauf hingewiesen und am Ende machst Du es auch noch mal deutlich, aber ich bin darüber gestolpert. Oder war das Deine Absicht?

Dann ist da Juli/a. Eine gute Freundin? Das Tagebuch? Oder einfach nicht so wichtig?

Und Elli? Wirklich die Schwester? Ein Wesen aus den Albträumen? Das Ende habe ich einfach nicht verstanden. Liegt möglicherweise an mir. Elli will ihr anscheinend etwas Böses, obwohl Betty (und auch ich vorher) sie immer für die Gute hielt. Bitte um Aufklärung! Bitte, bitte, bitte :huldig:

Ich bin nicht gut bei der Fehlersuche, daher sind mir spontan nur zwei Dinge aufgefallen:

Ich muss nur ein falsches Wort sagen, eine übles Gerücht streuen, ein bisschen Verleumdnung, Rufmord, es wäre ganz leicht.
Verleumdung
Ich ich liebe euch doch, ich liebe mein Leben
zweimal ich am Anfang.

Gruß
Silke

 

Hallo Wurfaffe!

Danke für's Feedback. Dachte schon, es kommt gar keins mehr - umso größer natürlich die Freude.
Danke auch für die Korrekturen. Die Wiederholung war allerdings beabsichtigt, kommt im Text in der Form auch öfter vor - sollte hier ein Stilmittel sein.
Bei der Darstellung von Ellis Verhalten im Traum hätte ich eigentlich wirklich Konjunktiv nehmen müssen, aber ich finde Konjunktiv über längere Strecken mühsam zu lesen, also habe ich darauf verzichtet, ich hoffe, das stört nicht zu sehr.
Ich gebe zu, der Text wirkt etwas verworren. Mit deiner Vermutung, Juli sei eine gute Freundin, liegst du richtig, über die Beziehung Elli/Betti möchte ich aber noch nichts sagen, ich weiß, das ist der heikle Punkt dieser Geschichte, und es wäre sehr interessant für mich, ob das für den Leser auch schlüssig wird, ohne dass ich es erkläre.
Ich poste nachher hier eine verlängerte Version, vielleicht wird es dann klarer.

Mög

 
Zuletzt bearbeitet:

Betti im Bernstein

Schon mal an Selbstmord gedacht, Juli?
Ich denke, jeder hat mal. Ich natürlich auch. Witzigerweise nie, wenn ich besonders unglücklich gewesen wäre. Flucht? Verzweiflung? Darum wäre es mir nicht gegangen. Eher noch Neugier, die Frage, wie es wohl wäre, tot zu sein, was nachher kommt, und nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Aber am meisten reizte mich die Vorstellung, einen so endgültigen Schritt zu setzen, eine Entscheidung von einer derartigen Tragweite zu treffen – das ist Macht. Freiheit. Ich kann alles zerstören, wenn ich will. Nicht nur mich, alles. Ich muss nur ein falsches Wort sagen, eine übles Gerücht streuen, ein bisschen Verleumdung, Rufmord, es wäre ganz leicht. Ich könnte behaupten, du wärest magersüchtig, ich könnte behaupten, meine Eltern hätten mich geschlagen, ich könnte es nicht beweisen, aber das Gerede wäre im Gang. Ich kann so gewaltigen Schaden anrichten, ich, die kleine, die unbedarfte Betty. Wenn ich das täte, ich würde es nicht ertragen, ich müsste mich so verabscheuen, vollkommener kann man nicht versagen und ich stelle mir vor: Das ist die Hölle. Ich ich liebe euch doch, ich liebe mein Leben. Warum sollte ich also sowas tun? Nur weil ich könnte? Das ist kein Grund, das weiß ich, aber wie kann ich sicher sein? Und bei jedem Abgrund, an dem ich vorbeikommen, drängt sich mir die Vorstellung auf, ich könnte mich nun jederzeit hinabstürzen. Es ist jetzt eine ganz flüchtige Empfindung, aber als ich ein Kind war, übte sie eine beunruhigende Faszination auf mich aus. Ich weiß noch, wenn ich nach einem Alptraum zu meinen Eltern ins Bett kriechen wollte, musste ich zuerst über den Flur, vorbei an dem Stiegengeländer. Ich hätte ganz einfach drüberklettern können. Ich hätte auch ohne Weiteres zwischen den Stäben durchgepasst. Seit ich davon geträumt hatte, wie meine Mutter von Einbrechern dieses Geländer heruntergestoßen wird, konnte ich nicht mehr daran vorbeigehen, ohne daran zu denken, wie es wäre, hinunterzufallen. Oder besser gesagt: Hinunterzuspringen. Tageslicht lässt ja alles sicher erscheinen, aber vor der Nacht hat man als Kind Respekt, im Schutz der Dunkelheit wagt sich das Böse hervor. In diesen Stunden kann doch alles geschehn. So lag ich oft lange wach, gefangen zwischen zwei Schrecken, dem Alp, der aus jeder Spalte, jeder Ritze, hinter jeder Kante hervorlugte, und dieser entsetzlichen Möglichkeit des Abgrundes. Irgendwann machte ich mich doch auf den Weg. Ich hatte zum Glück für diese Fälle auf dem Nachtisch ein Jojo liegen, das nahm ich mir mit, das lenkte mich ab, es hinderte mich daran, auf dumme Gedanken zu kommen. Überhaupt, meine größte Angst: auf dumme Gedanken zu kommen. Am Anfang hatte ich mein Jojo, später hatte ich Elli. „Sei beruhigt“ sagt sie. „Du wirst nie so etwas tun. Warum solltest du?“ Wenn sie das sagt, klingt es logisch. Warum sollte ich? Wie könnte ich auch? Ich könnte doch gar nicht, so etwas könnte ich doch nie tun, doch nicht unter Ellis strengem Blick. Und wenn ich schon Anstalten mache, kostet sie das nur ein müdes Lächeln. „Ach was. Es wäre doch dumm, sowas zu machen. Du bist doch viel zu klug,“ sagt sie, und wenn ich sie so sehe, dann kann ich plötzlich auch daran glauben, an den Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, an die Macht der Vernunft.

Sollte sie es wagen? Zweifelnd beäugte Elli den grünen Abdeckstift. Angeblich konnte man damit Rötungen im Gesicht zu kaschieren, den Tipp hatte sie von Julie, und es hörte sich ja auch druchaus vernünftig an – Grün, die Komplementärfarbe zu Rot, das gleicht sich dann aus – aber irgendwie war sie noch skeptisch. Grün im Gesicht? „Sei’s drum. Probieren geht über studieren“ sagte sie sich munter, sie war keine Freundin langen Grübelns und überhaupt versprach ihr heute so ein Gefühl, ihr müsste einfaches alles gelingen. Sie hatte das Gesicht schon mit Gesichts-Tonic entfettet und Puder aufgetragen, sie wollte schließlich nicht, dass nachher die Farben verliefen, und jetzt ging es darum, den passenden Stil für die Augen zu finden. Die Augen waren der Schlüssel, das wusste sie nur zu gut. Alles stand und fiel mit den Augen. Hier lauerten auch die meisten Fehlerquellen. Wenn sie jetzt zum Beispiel einen dicken Lidstrich ziehen würde – ganz falsch! Viel zu künstlich! Aber Elli wusste es zum Glück besser, sie zückte den Eyeliner und trug zwischen den Wimpern punktuell Farbe auf. Sehr effektvoll und doch natürlich – behauptete zumindest „Young Miss“. Und wer war Elli, an „Young Miss“ zu zweifeln? Elli gab viel auf ihre eigene Meinung, sie war bei Gott die Letzte, die damit hinter dem Berg hielt, aber sie wusste auch, wann es das Beste war, auf Experten zu vertrauen. Nun betrachtete sie sich kritisch im Spiegel. Sie runzelte die Stirn, das war noch nicht makellos, und makellos war heute das Mindeste. „Unterkiefer zu wuchtig, Nase zu breit“ konstatierte sie mit Kennerblick. Aber wer wird denn gleich verzagen, Minderwertigkeitskomplexe machen unattraktiv, wozu hatte sich Elli schließlich durch umfassende Studien dieses Make-Up-Know-How angeeignet? „Die ovale Form ist das Ziel“ murmelte sie – noch so ein „Young Miss“-Mantra – und trug dabei mit einem dicken Pinsel dunkles Rouge auf die Kieferpartie auf, um die Unterkiefer optisch etwas zurücktreten zu lassen. Durchs geöffnete Badezimmerfenster drang die laue Sommernacht – Sommernacht, was für ein Wort! Elli musste nur daran denken, und schon wollte sie tanzen - und im Radio spielten sie „Get the Party started“. Eigentlich mochte sie das Lied nicht – was für eine vulgäre Person, diese Pink! - aber heute entsprach es ihrer Stimmung. Sie merkte gar nicht, wie sie mitsummte. So, und jetzt noch links und rechts von der Nase etwas dunkle Farbe, gut einmassiert - voilà, schon wirkte sie schmaler. Zu guter Letzt mattes Rosa auf die Lippen getupft, mit den Fingern verstrichen – perfekt. Fast. „Glänzt zu sehr“ stellte sie fest, küsste ein Taschentuch und fragte sich dabei mit behaglicher Spannung, ob sie heute noch irgendwo Lippenstiftspuren hinterlassen würde. Bevor sie ging, wandte sie sich noch einmal um, ein letzter prüfender Blick in den Spiegel: das blühende Leben lächelte ihr entgegen. Elli lächelte zurück. Sie war sehr zufrieden.

Schaut mich an, sagt mir, dass ich schön bin. Erschauert vor Ehrfurcht, sinkt vor mir in den Staub, gebt es doch zu: Ich bin die Schönste. Ich bin Delila, Stärke hat keine Chance gegen mich, wilde Krieger verfallen meiner List. Ich bin Salome, ich wickle sie alle um den Finger, den Kopf meiner Feinde serviert man mir auf dem Silbertablett. Ich bin die Königin von Saba, selbst Weisheit steht meiner Schönheit machtlos gegenüber, bedächtige Herrscher können sich meiner Reize nicht entziehn. Aber Eva, Eva bin ich nicht, denn niemals würde ich mein Paradies riskieren.

Betti kniete auf dem Boden und knallte mit wütenden Pinselstrichen Rotbraun auf die Leinwand und brachte es mit Gelb zum Leuchten. Ein seltsamer Eifer hatte sie erfasst und wenn sie sich nicht bald wieder beruhigte, würde noch alles, was sie zuvor sorgfältig ausgearbeitet hatte, von diesem Rotbraun verschlungen. Sie arbeitete schon seit Wochen an diesem Gemälde und immer wieder verschwand ihre bisherige Arbeit irgendwann unter einer neuen Farbschicht, zuletzt unter einem schweren Grau, das nun vom Rotbraun bedroht wurde. Es triefe aus dem Gemälde wie Eiter aus einer klaffenden Wunde.

Ach Juli,
gestern träumte ich wieder von den Sümpfen. Es fängt mit Nebel an, zäh, lastend, er verstopft dir die Augen und die Ohren und den Mund und alle Poren. Dann sehe ich ein fahles Licht, einmal da, einmal dort, ruhelos. Ich weiß, es sind Irrlichter und ich folge ihnen. Sie locken mich tief in die Sümpfe, dorthin, wo die Sumpfsterne wachsen, die violetten Blumen. Das heißt, ich glaube zumindest, es sind Blumen. Sie haben Klauen und Krallen, ich sehe sie nicht, aber ich weiß, dort unten, verborgen im Morast, anstelle der Wurzeln, da sind sie und lauern darauf, mich zu packen. Inmitten des Blütenkranz öffnet sich ein zahnbewehrter Schlund, die geifernde Gefahr grinst mir daraus entgegen. Ich gehe über unsicheren Grund. Dieses Gefühl wird mich nicht loslassen, auch dann nicht, wenn ich längst wach bin. Ich gehe über unsicheren Grund. Ich kehre nicht um. Mit jedem Schritt warte ich auf das Erwachen der Lindwürmer. Noch lauern sie, wie die Klauen der Sumpfsterne unter mir, aber ich weiß, dass sie hier leben, ich rieche schon ihren modrigen Atem. Am meisten fürchte ich ihre Augen. Dahinter züngeln Flammen und wenn du zu tief hineinschaust, dann schnappen die gierigen Zungen auch nach dir, das Feuer gerinnt zu Harz, du fällst hinein und wirst sofort erstickt und umschlossen - eine Fliege im Bernstein. Auch das weiß ich schon, ich weiß doch alles in so einem Traum und schaue immerzu in Lindwurmaugen, so endet jeder dieser Träume in einem Bernsteinsarg.
Ich hatte aber noch ein anderen Traum gestern Nacht, vielleicht gibt es Hoffnung. In diesem zweiten Traum bin ich zuerst wieder im Dunkeln, es ist aber diesmal vollkommene Schwärze, warme, alles umfangende Schwärze. Wieder flackert ein Licht auf, doch diesmal bleibt es beständig, es sind Feuer, sie werden aber bewacht, es wird daran gearbeitet. Dauernd kommen Leute und nehmen Maß an mir. Ich kenne die Leute nicht in meinem Traum, sie haben keine Gesichter, sie haben so viele Gesichter. Mama vielleicht, oder du, die alte Frau Gerstmayr aus dem Bus, unser Englisch-Assistent, sogar diese Tante aus der Mittags-Talkshow, aber eigentlich ist es immer Elli, erinnere ich mich, wenn ich wach bin. Sie passen mir Metall an. Ich will sie fragen wozu, sie hören mich nicht, es ist zu laut. Hammerschläge dröhnen in meine Ohren. Und ich erwache, diesmal nicht schweißgebadet, mit einem guten Gefühl: Sie schmieden mir eine Rüstung.

Elli ging noch einmal in ihr Zimmer, um ihr Täschen zu holen. Auf dem Weg zum Schrank stolperte sie beinahe über das Gemälde. Zum ersten Mal nahm sie sich Zeit, es zu betrachten. Betti hatte inzwischen Violett hinzugefügt, violett wie auf den Lippen eines Ertrunkenen. Ellis Blick blieb aber am Rotbraun hängen. In den rohen Strichen erkannte sie einen geöffneten Mund, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schwung ihrer Lippen bei einer bestimmten Art zu lächeln ließ sich nicht leugnen. „Rosa steht mir besser“ dachte sie und fühlte sich geschmeichelt, einen so prägenden Eindruck auf Betti hinterlassen zu haben. „Sie bewundert mich zu sehr“ dachte sie noch mit Mißbehagen. Nicht, dass sie nicht im Grund ihres Herzens den Eindruck hatte, dieses Ausmaß der Wertschätzung sei völlig angemessen – nein, es widersprach einfach ihren Prinzipien, zu sehr an etwas zu glauben – außer an „Young Miss“ natürlich – sie hatte immer versucht, Betti das beizubringen.

Liebe Juli,
wirklich, ich wüßte nicht, was ich täte ohne Elli. Wahnsinnig werden? Jede Nacht gerate ich tiefer in die Sümpfe und jedes Mal, wenn ich glaube, die Gefahren zu kennen, entdecke ich neue. Unendlich ist die Vielfalt der Sumpfbewohner, und unendlich ihr Repertoire an Tötungsarten. Es hilft nichts, dass ich irgendwann wach werde. Es hilft nichts, dass ich dann auf festem Fundament stehe. Ich warte nur darauf, dass es wegbricht und den Sumpf freilegt.
Diese Angst ist anderes als alle Ängste, die ich bisher kannte, und das waren nicht wenige.
Mit sieben, zum Beispiel, rechnete ich jede Nacht mit der Apokalypse. Dabei war es noch gar nicht das Jahr, das die Hopi-Indianer dafür prophezeit hatten. Und ich glaub ja, was das belangt, bedingungslos den Hopi-Indianern, sie haben schließlich auch ihren eigenen Untergang korrekt vorhergesagt, was wohl Beleg genug sein dürfte für ihre Kompetenz in Untergangsvorhersagen. Aber wie sollte ich damals wissen von den Hopi-Indianern? Ich war mir jedenfalls sicher, wie der Weltuntergang erfolgen würde, nämlich in Form eines Meteoriteneinschlages. Deshalb schreckte ich jedes Mal aus dem Schlaf hoch, wenn ich hörte, wie sich etwas Großes aus der Luft mit hoher Geschwindigkeit dem Erdboden näherte, ich wusste, jetzt kommt der Meteorit und das Herz schlug mir bis zum Hals, wenn ich zum Fenster schaute, das ich vom Schein der Explosion erleuchtet erwartete. Es war Elli, die mir schließlich klar machte, dass das die Flugzeugen waren, die den nahegelegenen Flughafen anflogen. Später empfahl sie mir, wenn ich wegen meiner Alpträume nicht schlafen konnte, warme Milch mit Honig und ich schließ tief und traumlos bis zum Morgen. Elli weiß Mittel gegen alle Ängste. Ich bin älter als sie, doch sie beschützt mich wie eine große Schwester.
Ich wünschte, ich könnte sie mitnehmen in die Sümpfe. Sie lässt sich von den Irrlichtern nicht beirren, sie streckt einfach die Hand aus und schnappt sich eins und sperrt es in eine Lampe, da kann es schwirren wie es will, es muss uns leuchten. Dann sucht sie uns einen Weg durch die Sümpfe, sie findet immer die sicheren Stellen, sie kommt auch nie vom Weg ab, so als wäre um sie ein unsichtbares Geländer, das jeden Fehltritt ausschließt und sie geht im vollen Bewusstsein dieses Geländers und macht mich auf die Schönheit der Sümpfe aufmerksam. „Das ist ein ganz berühmte Naturschutzgebiet, ich hab schon mal eine Dokumentation darüber im Fernsehen gesehen, und jetzt können wir es selbst besichtigen, ist das nicht aufregend!“ sagt sie und klatscht in die Hände und strahlt vor Abenteuerlust. „Da schau nur, die violetten Blumen! Wie schön!“
„Und die Klauen, die Krallen?“ werfe ich ein.
„Ach, die Klauen ..“ – sie macht eine wegwerfende Handbewegung, „die können uns nicht erwischen, wir sind auf dem sicheren Weg, wir gehen einfach nicht zu nahe ran.“
„Sie wollen dich töten.“
„Sie werden es nicht. Das ist das einzig Wichtige.“
Und schon nimmt sie mich bei der Hand und zieht mich zu den Lindwurmnestern und sie erklärt mir, dass der Drache in China Glück bedeutet, sie hüpft zwischen den schlafenden Lindwürmern herum und sammelt ihre Schuppen auf, die sind aus Smaragd und Lapislazuli. Daraus bastelt sie mir eine Brosche. Dann holt sie ihr kleines Zahnarzt-Set hervor und zieht den Lindwürmern die Zähne und macht mir daraus eine Kette. Die Ungeheuer sind dabei natürlich munter geworden und Elli bewundert ihre leuchtenden Bernsteinaugen, sie findest es so schade, dass die festsitzen und sie nicht auch noch den Bernstein als Schmuck verwenden kann. Ich zupfe an ihrem Ärmel, ich will weg, ich warne sie vor der Gefahr hinter den Bernsteinaugen. Sie kann es gar nicht verstehen, sie schaut nie zu tief in die Augen, sie käme gar nicht auf die Idee, zu tief in die Augen zu schauen, was ist denn auch dabei, nicht zu tief in die Augen zu schauen? Als sie merkt, wie sehr ich mich fürchte, lacht sie lauthals. Ich liebe ihr Lachen, es hilft gegen alles. Die Drachen werden ganz klein unter ihrem zersetzendem Gelächter, sie schrumpfen zusammen auf Haustiergröße. Elli baut ihnen ein Terrarium und hält sie wie Schoßhündchen. Die Augen sind nur mehr verglimmende Zigarettenkippen, nicht einmal mich kann dieser Schimmer noch verschlingen. So wäre es, wenn ich Elli mitnehmen könnte, warum kann ich das nicht?
Ich verdanke Elli fast alles. Sie ist meine Schwester, mein Schutz, meine Stärke. Mein Seelenfrieden. Aber weißt du was? Manchmal hasse ich sie. Schockiert? Sei es - ich bin es. Ich weiß nicht, warum ich sie dann hasse, es gibt ja keinen Grund, es kann ja gar keinen Grund geben, warum? Sie ist also die einzige Person, die mir hilft, zu glauben, dass ich doch ein gutes Mädchen bin – ich weiß, du würdest es auch sagen, aber nur sie kann mich überzeugen – und ich ertappe mich dabei, wie ich sie hasse, wie ich sie verachte, wie sie regelrecht Ekel hervorruft bei mir – wo ich sie mir doch zum Vorbild nehmen sollte. Das ist der Beweis: Ich bin ein mieses Stück. So viele Schatten, unsichtbar im gnädigen Licht, aber ich muss ihnen doch nachspüren, ich muss doch wissen, was sie wirft. Meine krankhafte Neugier. Bloß, ich wage es nicht wirklich, was werde ich finden? Meine Furcht.
Zum Glück machen sie in der Schmiede Fortschritte. Die Rüstung wird meinem Körper genauestens angepasst. Und jetzt schmieden sie auch diese Eisenspitzen, du weißt schon, wie auf den Morgensternen. Wenn meine Rüstung erstmal mit diesen Spitzen bestückt ist, wird mir kein Lindwurm mehr zu nahe kommen.

Elli stand noch immer vor dem Bild. Es nahm sie länger in Anspruch als sie gedacht hatte. Dabei fand sie es abstoßend, umso abstoßender je länger sie es betrachtete. Jetzt erst fielen ihr die Zähnen in den violetten Blüten auf. „Krank, krank, krank“ murmelte sie und schüttelte bedächtig den Kopf.

Juli,
Ich schreibe Dir in höchster Angst. Du musst mir helfen. Etwas Dunkles nähert sich. Ich gehe auf unsicherem Grund, ich rieche schon den modrigen Atem, ich merke es nicht nur in meinen Träumen, und es wird stärker. Und es trennt mich von Elli. Ich brauche dich so dringend, du bist mir nach ihr am nächsten, ihr seid mein innerster Wall und etwas sagt mir, dass mir Elli diesmal nicht helfen kann.

Betti dachte daran, dass sie irgendeinen dieser Briefe auch abschicken musste. Im selben Moment wusste sie, dass das unmöglich war. Was sollte Juli denken? Mit Worten wurde alles so verworren, das Bild war ihr letzte Hoffnung. Sie würde Juli das Bild zeigen und Juli würde verstehen. Wenn Juli das Bild sah, würde alles gut werden.

JULIA!
julia

Ich weiß nun alles.
Ich weiß, warum Elli nie Angst haben muss. Warum sie so sicher ist, Elli, die alles vernichtet, was sie bedroht. Vernichtet, ohne auch nur daran zu denken, vernichtet im Vorbeigehen, mit schlafwandlerischer Sicherheit. Darum kann ich sie nicht mitnehmen in meine Träume, weil sie nie aus ihren erwacht. Sie ist die mörderische Schlafwandlerin, das war sie die ganze Zeit über, jetzt ist es mir klar. Was ist die Bedrohung? Irrlichter? Bernsteinaugen? Wer folgt ihnen? Wer sieht zu tief hinein? Mein Ende. Nicht für außen sind die Zacken, für innen sind sie. Es wird keine Rüstung werden. Es wird eine eiserne Jungfrau.

Mit einem letzten Schaudern wandte sich Elli von dem Bild. Auf ihr Täschen hatte sie mittlerweile völlig vergessen, sie strebte auf die Tür zu, sie hatte es eilig. Dabei stieß sie den Topf um, in dem Betty das Rotbraun angerührt hatte. Der Bernstein ergoß sich über die Leinwand und begrub alles unter sich. Es war ein Versehen.
Es war Selbstmord.

 

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