Besuche
Besuche
Ich sollte das nicht tun, aber ich warte schon zu lange und bekomme immer noch keine klare Antwort. Jetzt bin ich in der Nähe, ich muss nur noch um die Ecke gehen und schon stehe ich vor ihrer Haustür. Entweder jetzt oder nie, das Warten hat sich schon längst als sinnfrei herausgestellt. Tu es jetzt, lass dir endlich eine Antwort geben. Die beiden Autos ihrer Eltern sind nicht da, wenn jemand da ist, ist es nur sie alleine.November, 2013
Die Nervosität erreicht ein neues Limit, sie erreicht eine Grenze, bei der sie nicht mehr spürbar ist. Ich empfinde nichts mehr. Nur noch das eine Streben auf eine Antwort.
Ich stehe vor ihrer Tür, ein leichtes Zittern beginnt, hält mich jedoch von nichts ab. Fest entschlossen, endlich von ihr loszulassen, betätige ich die Türklingel – es ist schon mehr als ein halbes Jahr her, seit wir uns das letzte Mal richtig getroffen haben. Genauso lange ist es her, seit sie mir ihre Liebe gestanden hat und ich ihr meine. Die Sekunden strecken sich, ich warte. Schon wieder warte ich. Wie sie wohl reagieren wird? Wird sie dem ausweichen und wie immer so tun, als wäre nie etwas passiert? Hat sie sich in der Zeit verändert?
Grob kann ich hinter der Tür ihre Silhouette erkennen, ich fasse so viele Nerven zusammen, wie ich aufbringen kann, um möglichst wenig in Weinerlichkeit zu versinken. Dennoch wünsche ich mir die ganze Zeit über, es wäre niemals hierzu gekommen. Sie macht die Tür auf und steht vor mir, ich erblicke wieder dieses Gesicht und alles kehrt sich wieder um. Mir kommt wieder alles in den Sinn, jeder Grund, weshalb ich dieses Mädchen liebe. Ich möchte es ihr sagen, doch sie könnte es nicht erwidern.
Sie ist überrascht, steht kurz mit leicht fassungslosem und geöffnetem Mund vor mir, dann schaut sie schnell zur Seite, wobei mir wieder einfällt, dass sie meinte, sie könnte Personen, die sie mag, nicht in die Augen sehen.
„Oh, hey“, begrüßt sie mich verwirrt.
„Hey, …“ - Ich nenne sie beim Namen.
„Komm doch rein“, sagt sie einladend und geht kurz zur Seite. Ich gehe nur einige Schritte über die Türschwelle und drehe mich dann sofort zu ihr.
„Ich muss mit dir reden“, spreche ich trocken heraus, muss andauernd nervös schlucken und blicke traurig in ihre Augen. Finde ich die passenden Worte dazu? Ich weiß es nicht.
„Okay“, antwortet sie leicht neben der Spur und gibt mir mit einer Geste zu wissen, dass ich anfangen soll.
„Weißt du, ich bin hierhergekommen, um dich zu fragen, was damals passiert ist. Wieso wir damals nicht zusammengekommen sind. Jeden Tag sitze ich immer noch zuhause und frage mich, was passiert ist, ich denke jeden Tag nur an dich. Was ist dort schiefgelaufen? Warum hat das mit uns nie funktioniert?“
Ich sehe ihr an, sie weiß nicht darauf zu antworten. Sie ist genauso wenig auf dieses Gespräch gefasst wie ich es gewesen bin, doch auch sie atmet entschlossen durch. Sie beginnt, mir in die Augen zu sehen.
„Ich... kann es dir wirklich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir sicher, dass du irgendwann ein Mädchen finden wirst.“
Was soll ich davon halten, keine Antwort, immer noch nicht. Waren es Bindungsängste? Möchte sie es nicht zugeben? Weiß sie es wirklich nicht. Ein kurzes Auflachen muss ich unterdrücken. Ich weiß nicht mehr, darauf zu antworten. Am liebsten würde ich ihr klarmachen, dass ich nicht irgendeine Person haben möchte, sondern nur sie. Wozu nachfragen, wieso etwas nicht funktioniert hat? Aus Klarheit? In keiner einzigen kaputten Beziehung wird Klarheit einem auch nur in irgendeiner Weise helfen, besser zurechtzukommen. In vielen Fällen macht es das wohl nur noch schlimmer. Was soll ich jetzt noch erzählen? Ich stehe vor ihr, denke nach. Unangenehme Stille. Ich komme aus dem Zittern nicht mehr raus. Was kommt jetzt? Wir sind jung. Wahrscheinlich wird das etwas sein, was ich schnell vergessen werde.
„Schließ' deine Augen“, denke ich laut heraus, wobei ich schon genau weiß, dass sie dies niemals tun wird. Sie blinzelt und schüttelt den Kopf, schaut mich dabei eindringend an: „Vergiss es.“
Betrübt schaue ich zu Boden, dann wieder hoch. Ich gehe einen Schritt auf sie zu, bemerke, wie sie leicht zurückschreckt. Schnell packe ich ihre Schulter und nehme sie fest in die Arme, zitternd. Sie bemerkt es womöglich. Es ist mir egal. Mir fällt nur noch eins ein, was ich jetzt sagen könnte.
„Ich werde es ewig bereuen, dass ich dich nicht halten konnte.“
Es wird lange dauern, bis dieses Mädchen aus meinen Worten herauskommt. Ich werde viel über sie schreiben, vielleicht wenige Wochen, vielleicht viele Jahre lang. Trauernd halte ich sie fest, mir ist schon bewusst, dass das womöglich die letzte Umarmung für eine lange Zeit sein wird. Oder die letzte Umarmung in diesem Leben. Ich muss von ihr loslassen, ich weiß, dass ich das kann. Dies hier ist der Abschluss. Langsam lasse ich sie los. Im Augenwinkel erkenne ich, wie sie sich eine Träne unter dem Auge wegstreicht, in trauriger Stimme schluchzt sie: „Machs gut...“
Ich drehe mich um und gebe nur noch ein monotones, gefühlloses „Leb' wohl“ von mir. Dann gehe ich die Einfahrt runter und höre, wie die Tür hinter mir geschlossen wird.
März, 2016
Eindringend starre ich vom anderen Ende der Straße aus auf die Einfahrt und das Haus dahinter. Ab und an sehe ich sie hier. Links von mir, die Kreuzung, die ich Jahr um Jahr als Weg zum Alltag nahm. Direkt auf dem Weg, auf der linken Seite hin, auf der rechten Seite zurück liegt diese Zuflucht von Erinnerungen. Von alten, verstauben Erinnerungen.Dann, vor etwa einem halben Jahr, etwas länger, musste ich nicht mehr den Anblick des Hauses ertragen. Nun, was heißt schon ertragen – ginge es danach, wäre es eine Bürde. Wäre es eine Bürde, dorthin zu sehen. Ich glaube, ich habe viel mehr Zeit damit verbracht, flüchtig auf ihr Haus zu schauen, als ich dort drin gewesen bin. Dennoch macht es mir überhaupt nichts aus, denn es ist, wie schon gesagt, keine Bürde. Mehr kann ich dazu nicht sagen, ich weiß nur, dass sie der Grund ist, weshalb ich immer zu diesem Haus herüberblicke, wenn ich diese Straße passiere.
„Du wirst schon jemanden finden“ - Dies hat sie gesagt. Ich weiß nicht mehr in welchem Tonfall es gewesen ist, aber ihre Stimme habe ich noch in Erinnerung. Ganz genau. Unzählige Alternativen hätte es geben können, unzählige Varianten, die dazu geführt hätten, dass ich heute nicht ausgerechnet hier stehe. Vielleicht hätte ich bei einer Freundin sein können, einer festen Freundin. Oder wenigstens bei guten Freunden, oder auf der Arbeit. Jede dieser Vorstellungen ist realistischer als jene, heute in diesem Haus vor mir zu sitzen, mit ihr an meiner Seite. Aber ich stehe hier und lasse mir nichts durch den Kopf gehen, was mich wieder auf einen anderen Weg bringen würde. Bringen könnte.
Wenn ich an den Anfang der Einfahrt blicke, sehe ich sie, schwach, vor mir sowie ich mich daneben ganz leicht erkennen kann, wie ich mit dem Fahrrad früher immer hin- und hergefahren bin. Ab und zu habe ich sie mal gesehen, meistens aus der Ferne, vom anderen Ende der Kreuzung, selten jedoch ganz nah vor mir. Einmal hat sie mir zugelächelt. Ohne daran zu denken, wie es früher war, hat sie mich angesehen. Sie setzte so eine selbstverständliche Freude in ihr Lächeln, dass es mir das Herz spürbar erwärmt hat. Aber ich bin weitergefahren. Wie hätte es auch aussehen sollen?
Ich überquere die Straße. Stehe auf der Einfahrt. Stehe vor der Haustür. Fast kommt es mir wie einer der ganzen, immer schönen Besuche vor. Kurz versetze ich mich in mein glückliches, früheres Ich zurück. Dann kommt das letzte Treffen dazwischen. Kopfschüttelnd stelle ich mir die Frage, wieso ich „Leb' wohl“ gesagt habe. Damals war ich entschlossen, mit ihr abzuschließen, was eindeutig besser gewesen wäre. Das ist wohl ein Punkt, in dem ich früher reifer gewesen bin.
Fast kommt mir das Verlangen, an der Tür zu klingeln. Aber das würde wohl nicht allzu gut wirken, die Reaktion wäre weniger schön. Seufzend starre ich also auf die Türklingeln, während ich beinahe spüre, wie mich die Passanten verwirrt vom Bürgersteig aus ansehen. Ich sollte nicht hier stehen, wenn jetzt jemand die Tür öffnet komme ich nur in unangenehme Situationen. Vielleicht auch in welche, die mir fast ein wenig lieb wären.
Nein, dies ist kein guter Tag für ein Wiedersehen wie dieses. Dies braucht Zeit für sich, eine Zeit, die, wenn es bestmöglich läuft, niemals kommen wird.
Ein tiefes Ein- und Ausatmen, bis ich in meine Manteltasche greife und den Brief heraushole. Keine Silhouette hinter der Tür zu sehen, jetzt ist der Moment. Ich bücke mich und schaue einige Sekunden auf den Schriftzug ihres Namens, dann schiebe ich den Brief durch den Postschlitz der Tür, drehe mich um und gehe mit hochgezogenem Kragen davon. Alles Gute zum Geburtstag.
Mai, 2016
Ich betätige die Türklingel, stehe ungeduldig auf der Matte, wartend. Wie viele Jahre sind seit dem letzten Mal vergangen? Einige, ich kann mich kaum noch erinnern. Die Tür öffnet sich, mein Atem stockt, mein Herz setzt einen Schlag aus. Das passiert sonst nie, immer nur vor dieser einen Tür. Doch nein, es ist nicht sie, es ist nur ihre Mutter, die verwirrt nachfragt: „Ja?“Nur ein Wort, sie erinnert sich nicht. Zu viele Jahre sind vergangen, ich weiß nicht mal mehr, ob sie hier überhaupt noch wohnt. Ich halte Blickkontakt zu der Mutter und hebe etwas meinen Kopf an, warte, bis sie sich an mich erinnert. Kurze Augenblicke vergehen, dann merkt sie es, ihre Augen weiten sich unauffällig: „Du?“
Bevor sie weiter reden kann, nicke ich und frage nach dem Aufenthalt nach, dem Aufenthalt von ihr. Die Mutter bittet mich herein, doch ich bekomme nur wenige Schritte hin, wonach mir ein kühler Windhauch entgegenkommt. Angenehm vertraut. Ihr Duft, der Schönste, den ich kenne, liegt in der Luft. Die Möbel wurden etwas umgestellt, auch die Wände sehen anders aus. Ich steige die Treppe hinauf, die Stufen, wie damals. Vor langer Zeit.
„Setz' dich“, fordert mich die Mutter freundlich auf, ohne weitere Worte zu verlieren nehme ich auf den altbekannten Stühlen Platz. Die Mutter setzt sich auf den gegenüberliegenden und mustert mich. Mir erkennt man die Jahre des Alterns wohl an, sie hingegen sieht genauso wie früher. Kurz droht ein unangenehmes Schweigen einzutreten.
„Sie ist in ihrem Zimmer“, erzählt sie mir geradewegs, fährt allerdings skeptisch fort, „aber ich bezweifle, dass sie dich sehen will. Gerade unterhält sie sich mit Freunden.“
Verständnisvoll und langsam nicke ich: „Tut sie das, ja?“
Ich muss lächeln, denn es klingt, als würde sie gerade das tun, was sie immer tut. Als hätte sie sich nicht verändert, als ob ich sie immer noch kennen würde. Die Mutter fragt nach: „Was möchtest du von ihr?“
Aufmerksam, jedoch nicht überrascht, schaue ich sie an: „Das habe ich mich auch lange genug gefragt.“
Dieses Mal tritt wirklich Stille ein, ich überlege, was ich antworten könnte, die Mutter wartet geduldig darauf.
„Ich habe nie eine Person so sehr geliebt wie deine Tochter“, gestehe ich schließlich, „und ich war schon sehr oft in Versuchung, hierher zu kommen. Meist habe ich es gelassen, weil ich wusste, dass ich mir nur falsche Hoffnungen mache. Zu viele Fehler.“
Bevor sie zu Wort kommt, unterbreche ich sie: „Sag nichts, ich würde es wohl nicht gut vertragen, wenn du mir erzählst, dass sie einen festen Freund hat.“
Sie schweigt. Seufzend fahre ich fort: „Warum ich hier bin? Ich schätze, ich wollte nur nochmal ihr Gesicht sehen. Mich vergewissern, du weißt schon, mich vergewissern, dass sie... echt ist. Dass die uralten Erinnerungen, die mir seit unserem Verhältnis als Assoziation einer Liebesgeschichte dienen, dass diese nicht komplett verrückt sind.“
„Sie ist in ihrem Zimmer“, wiederholt die Mutter. Nachdenklich stehe ich auf und gehe den Flur entlang, der sowohl vertraut als auch befremdlich wirkt, schnell stehe ich vor ihrer Tür, bin kurz davor, daran zu klopfen. Eine Hand umfasst bereits die Klinke. Ich verharre. Ganz leise höre ich ihre Stimme von innen, ihre Stimme, die mit jedem Wort einen Tritt auslöst. Schließlich ziehe ich meine Hände zurück und kehre zur Küche um, ihre Mutter sitzt noch dort und sieht mich an.
„Geht es ihr gut“, frage ich neben der Spur, „ich meine, ist sie glücklich?“
„Sie ist nie glücklicher gewesen“, antwortet sie mich anlächelnd.
„Gut“, flüstere ich vor mich hin, ebenfalls lächelnd, und schaue dabei zu Boden, „tu mir einen Gefallen und pass' für mich auf sie auf.“
Hastig rücke ich meinen Mantel zurecht und verabschiede mich von der Mutter. In der Zeit, in der ich die Treppenstufen wieder hinuntersteige, wünsche ich mir, dass sie aus ihrem Zimmer kommt und mich entdeckt. Stattdessen atme ich in tiefen Zügen ihren Duft ein und aus, öffne die Haustür und befinde mich wieder auf der Matte.
Januar, 2017
Schon wieder stehe ich hier, an einem mir vertrauten Ort, wo doch alles anders ist. Wo sich so vieles geändert hat. Der Glaube beginnt mir schwer zu fallen, der Glaube an all meine Geschichten über sie und das Leben. Doch im Grunde besteht kein Unterschied, denn immerhin stehe ich jetzt wieder hier, vor ihrer Tür, auf der Matte. Dabei wollte ich schon die letzten zwei Male, dass es nicht mehr vorkommt.Ich betätige auf ein Neues die Klingel, wobei sich umgehend die Tränen hinter meinen Augenlidern zusammenziehen. Seit dem Brief hörte ich nichts von ihr, ich hätte ihn mir wohl genauso gut sparen können.
Dann öffnet sie die Tür, nach so vielen Jahren entsteht dieser Blickkontakt mit den braunen Augen wieder. Sie hat sich verändert, sie ist älter, reifer geworden, doch entdecke ich in ihrem Blick immer noch das Mädchen von früher. Doch diese Person ist sie nicht mehr, sie ist in der Tat eine hübsche, junge Frau geworden.
Worum sich all meine Gedanken kreisen, sie kreisen so schnell umher, dass es mir schon vorkommt, als würden sie alle stehenbleiben. Die Zeit steht still.
„Hey“, flüstere ich stimmlos, nenne sie beim Namen. Ihr Blick wirkt erst leer, dann hilflos. Sie hat es nicht erwartet, begrüßt mich aber auch schließlich, wo ich das schwere Herz spüre, das sie an die kommenden Minuten legt.
„Darf ich reinkommen?“, frage ich mutwillig, sehe sie dabei bittend an, während sie schon einige Schritte zur Seite geht. Sie schaut auf den Boden. Der Brief hat wohl doch etwas bewirkt. Ob es gut gewesen ist?
Ich gehe langsam die Treppenstufen hinauf, lasse meine Schuhe und meinen Mantel an. Schon hier bahnt sich die betretende Stille an, die unzählige Gefühle und Erinnerungen in einen Moment trägt, der sich wie eine Reise in der Zeit anfühlt. Eine Reise, bei der man in der linken Hand die treusten Begleiter und in der Rechten die Hand der Ehemaligen hält.
Die Zeit steht, der Augenblick existiert nicht. Schnell wie langsam stehen wir bei ihr, in ihrem alten und doch neuen Zimmer. Wir sehen uns in die Augen und lassen uns all die Zeit durch den Kopf gehen, die zwischen diesem und unserem letzten Treffen vergangen ist. Zwischen uns beiden wirft sich die Frage auf: Was ist überhaupt passiert?
Der Atem beschleunigt sich. Und ich muss lächeln. Lächeln wegen all der schönen Jahre, die ich seitdem erlebt habe. Keine Einsamkeit, kein Kummer, nirgendwo. Ich lächle direkt heraus und beobachte sie dabei, in dem Wissen, dass sie ein Teil dieser Jahre gewesen ist. Ich schaue auf meine gesamte Jugend zurück, so wie sie es bei der ihren tut. Und ich lächle so wie sie lächelt, sodass der bloße wortlose Moment sich entwickelt, zu einem Wiedersehen zweier Freunde. Zwei ehemalige Freunde, die miteinander glücklich waren. Zwei ehemalige Freunde, die sich ineinander verliebt hatten. Zwei ehemalige Freunde, die sich ihre Beziehung, die sie längst zusammenhielt, nie angeeignet haben.
Vorsichtig fasse ich zu ihren Händen und halte sie beide im Griff, wobei ich mit den Daumen langsam auf- und abstreiche.
Ich blicke in ihre Augen, lasse mich von der braunen Farbe in den altbekannten Bann ziehen. Dieser Blick ist beinahe wie ein pures Aphrodisiakum, das neue Lebensgefühle durch meine Adern fließen lässt, wo man immer wieder darauf wartet, es erneut zu erfahren. Das ist der Moment, nachdem ich es jahrelang gemisst habe, der Moment, in dem ich ihr Lächeln sehe, zusammen mit dem Blick ihrer Augen, beides mir gewidmet.
Ich erkenne es. Tief hinter den Fassaden ihres Blickes leuchtet kurz die Perspektive der Vergangenheit auf. Das Aufleuchten aller verpassten Gelegenheiten, in einen Augenblick geschlossen. Küss sie. Jetzt.
Meinen Blick an sie gefesselt nehme ich ihr Gesicht sanft in meine Hände, so, wie ich es in allen Geschichten und Gedichten beschrieben hatte. Die stille Zeit hebt ab, sie fängt an zu fliegen.
Sie schließt ihre Augen sowie ich die meinen schließe. Ich neige meinen Kopf nach vorne, spüre erstmals ihre Lippen auf meinem Mund. Ich küsse sie, streiche mit meinen Händen vom Gesicht aus über ihren Hals bis hinter ihre Schultern und drücke sie an mich. Und ich küsse sie. Immer wieder küsse ich mein Mädchen.
Wo befinden wir uns gerade? In einem Reich aus Wünschen?
Wie wir in unserem Geist schwelgen, so schwelgen wir auch körperlich langsam einen Schritt um den anderen umher. Ich umgreife ihre Hüften, sie fasst mir an die Schulter. Dann ertönt die Musik. Die weibliche Stimme, der Rhythmus treibt uns Schritt um Schritt, wir tanzen, uns festhaltend. I don't want to call my friends, they might wake me from this dream.
Sie ist es. Sie ist der Wunsch, auf den ich nie verzichten konnte.
Der Tanz klingt aus, nichts ist mehr wichtig, außer wir beide in diesem Augenblick. So stehen wir eine Weile da, uns in die Augen sehend, in dieser kleinen Ewigkeit zwischen der einen Lebenshälfte und der anderen.
Wir gelangen aus unserer Reise durch die Zeit zurück, in den Moment. Der Moment, in dem ich gerade durch ihre Tür getreten bin und wir uns gegenüberstehen.
„Ist es das“, frage ich und schaue sie dabei an, das Lächeln entschwindet langsam meinem Gesicht, „ist das der Traum, den ich die ganzen Jahre über von dir hatte? Ist das dieser eine Augenblick, den das Leben zu bieten hat?“
Sie sieht mich an, ich sehe sie an. Dann nehme ich sie in die Arme, nicht wissend, ob aus Trauer oder aus Freude.
Die Kunst der Liebe liegt darin, eine Person zu finden, die einem ähnlich genug ist, um auf einer Wellenlänge zu stehen, die aber unterschiedlich genug ist, um einen zu ergänzen.
Corvus, 2015