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Besuch
Besuch ist erwünscht
„Vera!“ Aus den Augenwinkeln sieht sie ihn auf sich zu eilen. Er schlägt den Kragen seines Mantels hoch, als würde ihn frösteln. Dabei ist es gar nicht kalt. Es scheint sogar die Sonne.
„Vera, ich bin’s doch!“ Sie runzelt die Stirn. Jetzt lacht er. Gequält.
„Was ist denn so lustig?“ Sie sieht ihn fragend an.
Er hört auf. Jetzt sieht er ernst aus. “Nichts. Nichts ist lustig.“ Sie sieht sein Unbehagen.
„Aber du hast doch gelacht?“ Sie wird unsicher. Auf einmal ist er es, der die Stirn runzelt.
„Vera, ich will nicht, dass du so etwas machst.“
Sie zuckt zusammen. „Ja, klar.“
„Vera?“
„Geh weg.“ Sie schaut auf ihre Füße.
„Vera, das ist wichtig.“
„Ich weiß nicht…“
„Ja. Du weißt es nie.“ Das hört sich vorwurfsvoll an. Unerträglich. Sie will weg.
„Vera. Vera, bleib hier.“ Sie dreht sich um. Bleibt stehen. Wie immer ganz die brave kleine Schwester.
„Ich will aber weg.“ Ein schwaches Argument. Das lässt er ihr nicht gelten. Sie weiß es.
„Nein. Das hatten wir schon einmal. Du darfst nicht weg.“ Er sieht gar nicht ärgerlich aus. Letztes Mal sah er ärgerlich aus.
„Es geht nicht, dass ich jede Woche herkommen muss, weil du wieder weggelaufen bist.“ Er sieht vorwurfsvoll aus.
„Es tut mir leid.“
„Es tut dir leid?“
„Ja.“ Sie blinzelt. „Ich will dir nicht zur Last fallen.“
„Ich weiß, Vera.“
Sie schweigt. Sie weiß, dass sie ihm zur Last fällt.
„Wir müssen zurück. Sie machen sich bestimmt schon Sorgen.“
„Bestimmt.“
Er seufzt. „Ach, Vera.“
Sie steigt in sein Auto und er fährt los. Er scheint es eilig zu haben. Es ist nicht mehr weit. Wenn sie jetzt nichts sagt, dann wird sie es wieder nicht sagen. Dann wird er wieder gehen. Ohne ein Wort.
„Weißt du, du kommst sonst nie. Du kommst nie, nur wenn ich weglaufe.“ Sie linst zu ihm herüber.
Jetzt sieht er wütend aus. „Ich sorge für dich. Weißt du das nicht? Dein Heim kostet viel Geld, weißt du?“
Sie zieht die Schultern hoch. „Doch.“ Flüstert sie. „Doch, das weiß ich.“
Er schweigt.
„Wenn ich nicht mehr weglaufe, wenn ich dort bleibe, kommst du mich dann bald besuchen?“ Ihre Finger zeichnen Luftschlösser in den Himmel. Er blickt kurz zu ihr herüber.
„Natürlich, Vera. Natürlich komme ich.“ Er fühlt sich unwohl.
„Und du kommst auch ganz bestimmt? Bitte. Bitte, komm wieder, Matty“ Sie wünscht es sich so sehr. Sie fühlt sich so alleine.
Er sieht sie an. Als sie ihn das letzte Mal beim Namen nannte, standen sie am Grab ihrer beider Eltern. Damals waren sie noch jung. „Matty “, hatte sie gesagt. „Matty, was machen wir jetzt?“ Für sie war immer klar gewesen, dass sie zusammen bleiben würden.
„Versprochen, Vera. Ich komme dich besuchen.“ Er sieht, wie sie strahlt. Er sieht, wie sehr sie es sich wünscht.
Außer ihm hat sie niemanden mehr. Aber so ist das mit dem alt werden. Die Freunde sterben. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er noch lebt. Schließlich ist er der Ältere. Sie weiß, dass sie Glück hat mit ihm. Dass er es sich leisten kann, ihr das Altenheim zu zahlen. Obwohl sie es hasst. Das Altenheim. Damals hatte er gemeint, dass es eine gute Lösung wäre, dass es vieles einfacher machen würde. Und sie hatte ihm geglaubt. Jetzt kam er sie nicht mal mehr zu Weihnachten besuchen. Die Familie, meint er immer, die möchte das nicht. Klar, so ist das eben. Das kann sie verstehen. Welche Familie möchte Weihnachten schon im Altenheim verbringen. Trotzdem. Sie würde sie schon gern mal kennenlernen, die Familie.
„Komm.“ Er steigt aus dem Auto. Die weiße Fassade des Altenheims verdeckt die Sonne als sie näher kommen. Ein Pfleger öffnet die Tür. Im Zimmer angelangt, schauen sie sich an. Die Stille hängt wie ein Damoklesschwert über ihnen.
Er dreht sich um.
Sie hebt die Hand. Zaghaft.
Er geht.
Er wird nicht wieder kommen.