Mitglied
- Beitritt
- 22.06.2003
- Beiträge
- 355
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Besuch
„Verriegle die Türe deines Zimmers, schiebe den Schrank davor, schliesse die Fensterläden und lösche das Licht. Bediene dich höchstens eines Feuerzeuges, um etwas zu sehen. Bewaffne dich mit einem Messer, oder einem Schwert, wenn du eines besitzt, und wenn es einen Ort in deinem Zimmer gibt, den man weder vom Fenster, noch von der Türe aus sieht, verkrieche dich dort!“
Das war die ganze Nachricht, die Martin bekam. Zuerst verwirrt, dann überzeugt, dass es ein Scherz sei, sah er sich die Nummer des Autors an. Anscheinend hatte dieser das Internet benutzt. Die Nummer war ihm unbekannt. Wohl ein wenig Humor nötig der Kerl, dachte sich Martin. Er hatte schon hunderte witzige SMS gesehen oder erhalten, auch welche dieser makaberen Art, aber an dieser, fand er, fehlte der Witz. Da mache ich ja beinahe in die Hose, scherzte er und zog eine Grimasse, während er sich selbst im Spiegel betrachtete. Dann ging er zur Türe, es war halb elf, er öffnete sie, so weit er konnte und spasste: „Buuh-buh, falls der Teufel kommt!“ Anschliessend nahm er einen Kugelschreiber in die Hand und simulierte eine Messerstecherei, wobei er breit grinste „irgendwie doch noch spassig, dieses SMS.“, sprach er zu sich selbst. Dann nahm er einen Fünfliber in die rechte und linke Hand und lachte: „Wurfsterne, mit denen rechnet mein Schreckgespenst sicher nicht!“ Er warf den einen „Wurfstern-Fünfliber“ durch die offene Türe. Gerade als er das Geräusch der aufprallenden Münze hören sollte, meldete sich sein Natel mit dem Doppelpiepston. Er eilte zum Gerät. „Jetzt kommt ja vielleicht noch Dracula oder der Werwolf, oder so.“ scherzte Martin und lachte. Dann las er das SMS. Da veränderte sich sein Blick, er zog die Brauen zusammen. Seine Lippen formten zur linken Hälfte ein Lächeln, zur rechten blieben sie völlig gerade.
„Im Ernst! Wenn du mir nicht glaubst, sieh aus dem Fenster, aber um Gottes Willen schliess die Türe!“ stand auf der Nachricht.
Martin lief zum Fenster, öffnete es und sah nach unten. Sein Zimmer befand sich im zweiten Stock. Er konnte in den Garten blicken. Und da sass das Monster: Die furchterregende Katze des Nachbarn lag im Gras, in voller Nachtaktivität. Eine tolle Katze. Ihr Gehör war ebenso gut wie ihre Sicht. Wenn er sie beim Namen rief, würde sie bestimmt den Kopf drehen und ihn mit stummen Augen ansehen.
„Chanoir!“ Die Katze blieb still und bewegte sich nicht. Erst jetzt bemerkte Martin, wie angespannt Chanoir im Gras lag. Es sah aus, als erwarte das Tier Besuch von Herrn Maus.
Doch plötzlich, gerade als Martin sich abwenden wollte, schnellte Chanoir los. Die Katze griff nicht an, sondern floh in vollen Zügen, möglichst schnell weit weg von dem Ort, den sie zuvor so genau beobachtet hatte. Das war keine normale Maus, die dieser Katze einen solchen Schrecken einjagte, dachte Martin und blickte konzentriert aufs Gras. Da glaubte er zu sehen, wie sich etwas aus der Erde buddelte. An einer kleinen Stelle kippten das Gras und eine Schicht Erde um und etwas bewegte sich. Etwas, das nach draussen wollte, etwas, das ans Mondlicht wollte. Und es grub sich den Weg frei.
Obwohl Martin im ersten Augenblick seine blühende Phantasie beschuldigte, ihm etwas vorzuspielen, schloss er die Fensterläden. Es war ihm unbehaglich; die Kurzmitteilungen hatte nicht seine Phantasie erzeugt. Er lief zur Türe, überlegte kurz, ob er die fünf Franken holen sollte, stellte sich aber sogleich vor, wie eine andere Hand nach den fünf Franken griff. Eine Hand, in der Würmer herumkrochen und an der Erde klebte.
Er schloss die Türe. Nach kurzem Zögern drehte er auch den Schlüssel zweimal um. Und als er vor seinem inneren Auge Chanoir sah, der so schnell wie noch nie zuvor rannte, löschte er noch das Licht. Anschliessend setzte er sich an sein Arbeitspult, nahm den Kugelschreiber und warf ihn wieder weg. Er öffnete die Schublade, entnahm daraus Schere und Sackmesser und legte beide auf das Pult. Dann las er nochmals die erste Nachricht. Und gestand sich plötzlich Angst ein. Angst, die tief verborgen hinter seiner Coolheit in ihm sass, aber langsam hervorkroch. Hervorkroch wie etwas im Garten. Nun tat er plötzlich das, was er beim Lesen der Nachricht am Amüsantesten gefunden hatte: Er schob den nicht leichten Kleiderschrank etwas vor die Zimmertüre, wodurch eine Ecke frei wurde, die von der Türe nicht, vom Fenster kaum sichtbar war. Von dieser Ecke aus kam man mit der Hand zum Pult und den Gegenständen darauf. Martin ging zur Türe und lauschte. Im ersten Moment konnte er nichts hören, aber dann vernahm er ganz schwach ein Knarren der Eingangstüre, die geöffnet wurde und als sie sich wieder schloss, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Er war allein zu Hause. Er war siebzehn und das war öfters der Fall. Normalerweise kehrten seine Eltern auch nicht früher zurück. Zumindest nicht ohne es ihm mitzuteilen. Da erinnerte sich Martin an das grosse Messer, das an seiner Wand hing. Es war eine Art Dolch. Die Klinge war wesentlich länger als die des Sackmessers. „Ich habe noch nie auf einen Menschen eingestochen, geschweige denn auf ein Ding, das wahrscheinlich in der Nahrungskette oberhalb des Menschen sitzt“, dachte sich Martin und versuchte, sarkastisch zu grinsen, was völlig misslang. Er ging zu der Wand und tastete sie dort ab, wo das Messer war. Er fand es nicht. Wo war es? Er bekam eine Gänsehaut. Sein inneres Auge spielte ihm eine Szene vor, wo eine erdbeschmutzte Hand mit seinem Messer herumsprang. Wild tastete er noch einen Augenblick weiter, bis er sich erinnerte, dass er seinen Dolch vor wenigen Tagen, nachdem er damit aus Langeweile ein Stück Holz geschnitzt hatte, auf das Gestell oberhalb seines Bettes gestellt hatte. Er ging nun zu diesem Gestell, wobei er besonders darauf achtete, dass der Boden nicht knarrte. Er nahm das Messer in die Hand und stellte fest, das diese zitterte.
Plötzlich war er sich sicher, dass jemand von aussen versuchte, das Fenster zu öffnen. Er zuckte zusammen, blickte zum Fenster und wagte kaum zu atmen. Nach kurzer Zeit aber musste er einsehen, dass es seine Phantasie war, die ihm Streiche spielte. Seine Hand umklammerte nun den Dolch so fest, dass man bei Licht problemlos die meisten Knöchel und Adern seiner Hand gesehen hätte. Nun ging er zurück und als plötzlich der Boden ächzte, musste er mit aller Kraft einen Schrei unterdrücken. Dann fuchtelte er mit dem Messer um sich, wie wenn er von allen Seiten gleichzeitig bedrängt würde. Damit hörte er erst auf, als er begriff, dass seine eigenen Schritte das Ächzen ausgelöst hatten.
Sein Natel piepste. Nun gab er sich keine besondere Mühe, leise zu sein, sondern ging möglichst schnell, um die Nachricht zu lesen. Er hoffte fest, dass vielleicht seine Eltern berichteten, doch bald, oder besser schon jetzt, zu Hause zu sein. Er öffnete das SMS, ohne auf das Display zu sehen. Die Nachricht selbst, sollte ihm sagen, dass es seine Eltern waren.
„Sei doch bitte still, etwas ist bereits im Haus. Viel Glück!“
Als Martin das las, hätte er am liebsten gleich losgeheult. Wie hatte er nur gehofft, dass der Alptraum zu Ende war. Dieser aber begann erst, und er fühlte, dass seine Blase bald nachgeben würde, wenn es so weiter ging. Er hätte nicht einmal mehr gewagt, aufs Klo zu gehen, wenn jenes sich in seinem Zimmer befunden hätte. Wer dachte schon ans Klo, wenn das Etwas wahrscheinlich nur noch einen Stock tiefer Zimmer für Zimmer nach heftig schlagenden Herzen suchte. Weshalb hatte er eigentlich das Licht ausschalten müssen? Um beim Anblick dieses Dings vor sich nicht den Mut zu verlieren? Auf jeden Fall sollte er nicht auffallen, also stellte er auch das Natel auf lautlos um, steckte es jedoch in seine Tasche. Er hielt den Atem an und lauschte. Leise Schritte. Sie kamen näher.
Da sah Martin auf einmal nur noch rot und schwarz, Kreise, die sich drehten. Er taumelte. Dann vibrierte das Natel in der Hosentasche und er erlangte das Bewusstsein wieder. Im letzten Moment musste er noch den Griff festigen. Beinahe hätte er das Messer fallengelassen. Ohne das Messer hatte er gegen Krallen keine Chance. Wenn das Etwas wirklich nur Krallen hatte.
Also verschanzte er sich in der Ecke. Griff mit der freien Hand zum Sackmesser und öffnete die Klinge mit Daumen und Zeigefinger der Hand, die den Dolch hielt. Sein Herz raste und er zitterte immer mehr in kleinen Anfällen. Nun konnte er deutlich eine fremde Präsenz in der Nähe des Zimmers spüren. Er war sich sicher, dass dieses Fremde ihn auch spürte. Und plötzlich tat er etwas, das er in den letzten zwei Jahren höchst selten getan hatte. Er betete. Mit weit aufgerissenen Augen und zwei Messern in der Hand.
Er versuchte seine schon offenen Augen aufzuklappen, vielleicht, vielleicht war doch alles nur ein Traum. Mit einem schrecklichen Geräusch meldete der Flurboden, dass nun jemand vor seiner Türe stand. Er drückte die Beine aneinander, um nicht in die Hose zu machen. Er kämpfte mit dem Gedanken Papa oder Mama zu rufen, in der Hoffnung, dass sie es waren. Plötzlich rüttelte es heftig am Fensterladen. Laut schlug Holz auf Holz. Ein fürchterliches Geschrei ertönte draussen. Eine Art Geschrei, die er bisher noch nie gehört hatte und am liebsten auch jetzt nicht zu hören wünschte. Es ging in etwas über, das sich wie Pfeifen anhörte. Zweimal kurz und laut, einmal langsam und leise. Dies wiederholte sich einige Male, wurde jedoch meistens wieder von den Fensterläden übertönt. Nun war die Hose Martins geringstes Problem und seine Blase leerte sich, ohne dass er selbst es wirklich wahrnahm. Der Dolch aber zitterte wild in seiner rechten Hand. Mit der linken hielt er die Klinge seines Sackmessers. Neben der panischen Angst, die Martin zerriss, war da doch noch eine kleine Spur von Mut in ihm, entschlossen, das Sackmesser im richtigen Moment gezielt Richtung Fenster zu werfen. Nun war aber noch nicht der richtige Moment. Die Geräusche am Fenster verloren an Intensität. Martin hörte hauptsächlich noch ein hektisches Atmen: Es hörte sich an, als ob das Wesen draussen, mit jedem Schluck Luft noch ein wenig Fleisch verschlingen täte. Aber ansonsten beruhigte sich die Bedrohung auf der Fensterseite. Das Etwas vor der Türe liess gerade von aussen den Schlüssel kreisen.
Martin zuckte zusammen und bebte vor Angst. Das Sackmesser senkte er langsam. Dann schlich er sich zur Türe. Nachdem er noch einmal unsicher das Fenster betrachtet hatte, zog er den Schlüssel raus und wagte einen Blick durch das Schlüsselloch. Da war zweifellos etwas. Da war eine Schwärze, die sich von der Dunkelheit unterschied und sich ein wenig bewegte. Plötzlich bewegte sich die Gestalt, welche die Schwärze bildete, sehr rasch. Martin wollte zuerst zurückweichen, aber dann riss er sich zusammen und blieb. Das Ding bückte sich dem Anschein nach. Und plötzlich sah es auch durch das Schlüsselloch und begann ähnlich zu atmen wie das Wesen am Fenster. Begierig. Und in den dunklen, bösen Augen kreisten weisse Punkte, die jedesmal, wenn das Etwas einatmete, aufleuchteten. Martin versuchte seine panische Angst mit dem Gedanken zu unterdrücken, dass er noch zwei Messer in den Händen hielt. Diese aber erschienen ihm immer lächerlicher. Und doch war da wieder das mutige Stück in ihm, das seinen Kopf wegzog und statt dessen die Klinge des Sackmessers in das Loch jagte. Zumindest ein kleines Stück weit. Zu breit war die Klinge und zu klein seine Kraft. Er erreichte das andere Ende des Schlüsselloches nicht und zog das Messer enttäuscht und hoffnungslos wieder heraus.
Er lief zurück in die Ecke. Er achtete nicht mehr darauf, leise zu sein. Er hielt die Messer nur noch schwach in der Hand. Schweiss und Tränen vermischten sich auf seinem Gesicht. Vor dem Fenster und vor der Türe vernahm er noch immer den Pfeifatem. Er wusch sich den Schweiss von der Stirn. Er begann wie ein Kind Papa und Mama zu schreien. Bis er den roten Lichtschleier am Fenster bemerkte. Vom Fensterrand aus zog ein Schleier nach innen. Anscheinend versuchte ein Teil des Wesens nach innen zu gelangen. Das Wesen am Fenster begann immer schneller zu atmen. Martin zitterte wieder heftig. Ähnliches musste auf Seite der Türe geschehen. Dort atmete etwas genauso heftig, genauso gierig. Hätte Martin nicht solche Angst gehabt, hätte er bemerkt, dass beides sogar im gleichen Rhythmus atmete. Plötzlich sah er aus der Richtung des Schlüssellochs ebenfalls einen roten Schleier hervorkommen. Martin sah vor dem inneren Auge die kreisenden, weissen Punkte und stellte sich vor, wie sie nun intensiv rot leuchteten. Er verkroch sich ganz in seiner Ecke. Gutes hatten diese Schleier wahrscheinlich nicht zu bedeuten. Vielleicht würden sie sich in Kürze auf ihn richten. Vielleicht würden sie durch seine Augen sein Inneres erreichen wollen und dann das Hirn ausschalten und den Körper Martins sich selbst überlassen. Obwohl die roten Schleier sich eher langsam und im Moment noch Richtung Zimmermitte bewegten, kniff Martin die Augen so fest zu wie er konnte. Durch eine unbewusst gesteuerte Bewegung hob er den Dolch und das Sackmesser so vor sich hin, dass beide Klingen ein Kreuz bildeten. Auch schloss er nicht nur den Mund, sondern biss sich dabei fest auf die Unterlippe, sodass Blut vom Kinn herabtroff. Seine Angst hatte den Punkt erreicht, an dem er nicht mehr zu zittern wagte. Das Hören war der einzige Sinn, der noch zuverlässig arbeitete. Er hörte das beidseitige, hektische Atmen, das immer schneller wurde und schliesslich in ein dauerhaftes Pfeifen überging. Ein besonders hässliches Pfeifen füllte nun den ganzen Raum und tönte etwa so ermutigend, wie der Schleier ausgesehen hatte.
Als es auf einmal sehr hell wurde, dass Martin es selbst mit geschlossenen Augen wahrnahm und das Pfeifen immer leiser wurde und erneutem Atmen aus der Mitte des Zimmers Platz machen wollte, riss Martin die Augen auf. Er schrie. Jetzt bemerkte er, wie ihn das Wesen überlistet hatte. Die beiden roten Schwaden hatten sich in der Mitte des Raumes getroffen und schienen ineinander zu fliessen, denn grelles Licht, heller als brennendes Magnesium, loderte an der Stelle. Dort wo die Schleier herkamen, wurden sie immer kleiner. Das Meiste war bereits nach innen befördert worden. Plötzlich verschwand das grelle Licht und an dessen Stelle trat Schwärze, dunkler als die Nacht. Diese schwarze Masse wurde nun durch die beiden roten Schleier grob beleuchtet. Die Schleier selbst krochen in mehreren Löchern in das sich bildende Wesen. Die Schleier pfiffen immer weniger und das Schwarze atmete immer stärker.
Nun wusste Martin, dass es seine letzte Chance war, etwas bei grossem Glück erfolgreiches zu versuchen. Da war ein Etwas, das durch geschickte Fusion oder einen ähnlichen Vorgang in sein Zimmer gelangen wollte. Wenn es Martin gelang, ausreichend Mut aufzubringen, seine Angstlähmung zu überwinden und zusätzlich genügend Kraft zu sammeln, konnte er dem Wesen vielleicht noch dazwischenfunken. Vielleicht würde er so den Vorgang stoppen können. Das Wesen würde dann aus einem Teilselbst im Zimmer und einem anderen ausserhalb bestehen und Martin bezweifelte, dass dieser Zustand dem Wesen guttäte.
Er sah zum Fenster und erkannte, dass der Schleier aus einem hauchdünnen Spalt zwischen geschlossenem Fenster und dem mittleren Holzteil hervorkroch. Er riss sich zusammen und sprang los, erreichte das Fenster, während das Etwas hinter ihm plötzlich viel lauter pfeifatmete. Es schien keinen besonderen Gefallen daran zu finden, dass sein Opfer ihm den Versorgungsweg abschneiden wollte. Es tat einen grässlichen Schrei. Martin stellte sich vor wie ein Teil der Schwärze langsam auf ihn zukam. Doch er versuchte, den Gedanken zu verscheuchen und drückte fest auf den Fensterrahmen. Es gelang beinahe. Nur noch ein extrem dünner, roter Faden kam durch. Da fiel ihm sein Sackmesser wieder ein. Sofort steckte er es in die kleine Öffnung und der Schwaden brach ab. Die erhoffte Auflösung seines Angreifers aber blieb aus.
Eine Art Schmerzensschrei war das einzige, was das Schwarze von sich gab. Dann aber setzte wieder das gleiche Atmen wie vorhin ein und Martin war es, der einen Schrei der Hoffnungslosigkeit aus der Kehle brachte. Da Wesen bestand noch immer und sog gerade das letzte Rot in sich hinein. Als es damit fertig war, gab es einen Knall und Martin sah anstatt des Schwarzen einen Sekundenbruchteil lang das grelle Weiss. Dann stand in der Mitte seines Zimmers ein graubraunes Wesen, das die Körperstatur eines zu grossen und zu breiten Menschen hatte. Die Augen des Wesens waren riesengross, genauso wie seine Hände, welche weit mehr als fünf Finger zählten und am meisten leuchteten. Das Gebiss sah aus wie jenes der Piranhas. Der Daumen und zwei der vielen Finger der rechten Hand hatten den Zug verpasst und befanden sich vermutlich als totes, rotes Licht draussen. An den dadurch verursachten Wunden tropfte eine blutähnliche Flüssigkeit, doch das schien dem Wesen von keiner sonderlich grossen Bedeutung zu sein. An gewissen Stellen leuchtete es mal rot, mal gelb kurz auf. Manchmal verfärbte sich ein Körperteil des Monsters kurz rabenschwarz.
Dann lief es auf Martin zu. Es riss das Maul weit auf, atmete gierig und streckte die vollständige Hand nach Martins Kopf aus. Dieser zitterte wild, den Dolch in der rechten Hand. Diese Hand erhob er, um den Kopf zu schützen. Weisse Punkte in den schwarzen Augen des Monsters leuchteten kurz auf. Dann ergriff es Martins Hand. Dieser hatte keine Zeit, sich mit dem Messer zu wehren. Das Monster riss ihm mit einer kräftigen Drehbewegung die Hand ab. Martin schrie schmerzerfüllt und sackte zusammen. Das Wesen hob ihn am Fuss auf und biss Martin die halbe Wade ab. Noch schrie dieser. Als ihm jedoch der Unterkiefer mit der Hand zerquetscht wurde, regte er sich nicht mehr.
Unversehrt war der Unterkiefer. Die Wade auch. Seine Hand war wieder am Unterarm, sie hielt jedoch kein Messer mehr. Seine Augen sahen keine Monster, jedoch ein düsteres Grau, dass sich unendlich weit erstreckte. Seine Hände waren auf jener Art Stuhl gefesselt, auf der er sass. Fesseln banden ihn an der Brust und am Bauch an die Stuhllehne. Seine Füsse wurden mit Klappen am bizarr grauen Boden festgehalten. An diesem Ort war das Atmen nicht nötig. Auch fühlte er überhaupt keinen Hunger. Durst auch nicht. Er war gefesselt. Er konnte sich kaum bewegen und es gab nichts um seine Sinne zu sättigen. Dieses Grau schien zumindest von hier aus gesehen ewige Langeweile zu bedeuten. Vielleicht müsste man eine Weile gehen, um an den gewünschten Ort zu kommen. Diese Fesseln verhinderten es. Es waren keine Fesseln, die man mit Kraft zerstören konnte. Und sie sahen wie für die Ewigkeit gemacht aus. Martin prüfte, ob er den Kopf bewegen konnte. Auf , ab. Rechts, links. Links waren viele andere, identische Stühle. Jeweils etwa drei Meter trennten sie voneinander. Auf allen Stühlen sass jemand. Der neben ihm sah genauso aus wie er! Der nächste auch. Die anderen konnte er nicht gut sehen, sie verloren sich im Grau. Alle waren gefesselt. „Ist das ein Traum? Wer bist du?“ fragte er den Martin neben sich. „Wir sind alle Martin. Du und ich und die anderen hier. Es ist kein Traum, es ist eine Situation. Um ehrlich zu sein, ein Teufelskreis, bis wir ihn brechen können. Dazu müssen wir uns helfen, ihn zu besiegen. Ich wollte dir helfen, aber es gelang mir nicht. Ich habe dir nicht ausreichend viel sagen können. Ich habe dir dreimal geschrieben. Einmal habe ich mich in deine Gedanken eingemischt. Aber wir alle/Martin haben/hat wieder verloren. Das ist das Schicksal. So geht es schon lange. Aber wir lernen dazu. Das Etwas lernt nicht. Es bleibt wie es schon immer war, ein fester Bestandteil des Teufelskreises. Irgendeinmal werden wir es besiegen. Jetzt bist du an der Reihe. Jetzt musst du es versuchen. Schliesse die Augen!“ Verrückt. Bevor Martin die Augen schloss, blickte er noch einmal alle Martins, alle seine ichs an. Sie alle sahen an diesem Ort elend aus. Sie alle wollten befreit und vereint werden. Sie alle wollten zurück. Sie alle wollten weiter.
Also schloss er die Augen. Das Grau verschwand. Vor sich sah er sein Zimmer. Martin sah sich, wie er gerade die Hausaufgaben beiseite legte. Am Zimmer hatte sich nichts verändert. Es sah genauso aus wie letztes mal. Oder war es vielleicht noch immer das gleiche mal? War es wie eine Wiederholung? Martin betrachtete die Gedanken seines am Pult sitzenden Egos. Er wusste genauso wenig von der Bedrohung wie Martin, als er dort war. Auf dem Pult stand wie immer das Natel. Das war nach wie vor das beste Mittel, um sein Ego zu warnen. Also schrieb Martin ihm ein SMS. Gedanken reichten hier um zu schreiben: „Verriegle die Türe, zieh den Schlüssel raus und verstopfe das Schlüsselloch. Schiebe den Schrank ein wenig davor. Schliesse die Fensterläden und lösche das Licht. Gewöhne dich an die Dunkelheit. Das Fenster darf keinen Spalt offen sein. Drücke es fest zu. Bewaffne dich mit allem, was du findest und verschanze dich!“
Sein Ego im Zimmer nahm das SMS nicht ernst.
Also schrieb er: „Im Ernst! Wenn du mir nicht glaubst, sieh aus dem Fenster. Und dann um Gottes Willen, mach, was ich gesagt habe!“
ENDE