Besuch vom Autodidakten
Wir haben gerne Gäste. Noch besser, wenn unsere Gäste Kinder haben. So können wir für den Babywunsch meiner frisch angetrauten Gattin meistens sonntags kleine Trainingseinheiten für ein Leben mit den Zwergen einlegen.
Letzten Sonntag z.B. waren unsere Nachbarn mit ihrem zweijährigen Filius zu Besuch.
Zwar sind meine Frau und ich schon gut geübt im zielgruppengerechten Verwandeln der Wohnung – die Rekordzeit beträgt gerade mal sieben Minuten, um die teuersten Stücke für tollpatschige Kinderhände unerreichbar wegzusperren – doch bleibt immer noch genug Inventar für einen veritablen Nervenkitzel übrig.
Unsere Nachbarn heißen Heidi und Gerd Riemensperger. Gut, es gibt aufregendere Namenskreationen, aber muss man sich in einer Art später Rache an den Eltern dazu hinreißen lassen, den eigenen Sohn Jamiro zu nennen? Jamiro Riemensperger! Es ist fast ein wenig wie in Neufünfland, wo die Kinder zu DDR-Zeiten die ganze Last der Sehnsucht ihrer Eltern nach fremden Ländern in den Namen gepackt bekamen: Danilo und Mario waren da noch die harmloseren Beispiele.
Aber zurück zu Jamiro Riemensperger, dem ich wegen seines entschlossenen und kompromisslosen Gesichtsausdrucks in Gedanken sofort das Kürzel J.R. verpasst habe.
Zur Begrüßung streckt er seine mit undefinierbarem Brei verschmierten Griffel nach mir aus und eh´ ich´s raffe, hat er mich auch schon am Kragen erwischt.
„Ist nicht schlimm“ lächele ich bittersüß, während mir Nachbarin Heidi ein angeschmuddeltes Tempo reicht, damit ich die hellbraunen Fingerabdrücke auf meinem nagelneuen Hilfiger-Pullover besser verreiben kann, die mir ihr Filius gerade in stoischer Ruhe und - unter uns - mit voller Absicht, beigebracht hat.
J.R. konnte natürlich nichts dafür. Zumindest ist seine Mutter der Meinung, dass man ihn in seiner Entwicklung nicht mit verklemmten anerzogenen Sauberkeitsfimmeln einschränken darf. Überhaupt könne man in ihren Augen höchstens Hunde erziehen, aber bitteschön nicht diese kleinen unschuldigen Wesen. Die sollen sich am besten ohne Beeinflussung durch die Eltern in einer Art „Trial-and-Error“-Verfahren das Nötigste auf autodidaktischem Wege aneignen.
Leuchtet mir ein. Klamotten kann man reinigen lassen, Kinderseelen natürlich nicht!
Aber insgeheim hatte ich erwartet, daß sie wenigstens den Versuch unternehmen würde, eine Art Unrechtsbewußtsein bei ihm zu erzeugen. Weit gefehlt. Der Vorwurf geht direkt an mich: „So einen hellen Pulli zieht man auch nicht an, wenn Kinder in der Nähe sind“. Irgendwie sind aber immer Kinder in der Nähe, soll ich deswegen zukünftig nackt herumlaufen?
Trotzdem murmele ich eine halbherzige Entschuldigung.
Als nächstes zeigt mir J.R. sein Feuerwehrauto. Das erinnert mich gerührt an die eigene Kindheit. Dass die heute mit so was noch spielen? Also sooo schlecht scheint diese Laisser-faire-Erziehung unserer Nachbarn dann doch nicht zu sein.
Mein Blick verfinstert sich erst, als er das Fahrzeug auf unbereiften Felgen mit ein paar schnellen Vor- und Rückwärtsbewegungen über unseren Landhaustisch aus Ahornholz zieht und dabei ekstatische Laute ausstößt.
Die tiefen Kerben schmerzen, als wären sie direkt in meine Haut geritzt worden.
Vergeblich warte ich auf ein Einhalt gebietendes „Spinnst Du?!“ seiner Eltern. Wenigstens das bedrohte Geschirr kriege ich noch rechtzeitig aus der Gefahrenzone, wofür ich einen Spießer verachtenden Blick einfange.
Hilflos blicke ich meine Frau an. Seltsam leer und kalt ihr Blick. Die Knöchel der Finger - fast weiß! Ich lese ihre Gedanken und entwinde ihr unauffällig das Kuchenmesser, das sie finster entschlossen fest umklammert.
Um mich abzulenken, denke ich über eine kindgerechte Wohnung nach. Man könnte die Höhlenwände mit erdigen Fingerfarben präparieren. Und da, wo heute das Waschbecken steht, einen Schweinetrog für die Mahlzeiten installieren. Es wäre alles so einfach! Welcher Idiot war bloß der Meinung, wir sollten unseren evolutorischen Vorsprung den Affen gegenüber weiter kultivieren? Da lobe ich mir unsere Freunde; Diese in Millionen von Jahren erzeugte Lücke haben sie innerhalb eines Kindesalters wieder geschlossen.
Um es mir mit dem kleinen Teufel nicht vollends zu verscherzen, biete ich ihm ein Hanuta an. Wortlos reisst er es mir aus der Hand. Insgeheim wette ich mit mir, dass ihm das Wort „Danke“ mindestens genauso fremd ist wie sein höflicher Bruder „Bitte“.
„Was sagst Du dem Onkel?“ flötet seine Mutter in einem Anflug von Traditionalismus. „Aufmachen!“ kräht der Mini-Terrorist fröhlich seine ultimative Forderung.
Allmächtiger steh´ mir bei: Ich hätte vorher meine Herzallerliebste konsultieren sollen. Mit einem Blick, der die Beringsee zufrieren ließe, bringt sie mich zur Erstarrung.
So bin ich nur regungslos staunender Zuschauer des nächsten Aktes: Bevor ich ihm helfen kann, fieselt der kleine Jamiro geübt die goldfarbene Folie vom Objekt der Begierde und schiebt krachend das Täfelchen zwischen seine süßen Mäusezähnchen. Wie hat er es nur geschafft, gleichzeitig alle zehn Finger mit der Schokoladenfüllung in Kontakt zu bringen? Beeindruckend, diese kleinen flinken Hände. Beim ersten Zubeißen rieseln die Splitter leise, aber gleichmäßig, auf den Boden. Zum Glück haben wir letztes Jahr den Teppichboden durch solide Steinfließen ersetzt.
Gerade als ich mich meinem schon erkalteten Kaffee zuwende, steuert J.R. zielsicher auf die weiße Couchgarnitur zu.
Wir hatten ja lange gewartet, bis uns die schweren schwarzen Ledersessel so aufs Gemüt schlugen, dass wir sie endlich gegen federleichte italienische Designermöbel austauschten. Aber justament bereuen wir unseren „Schöner Wohnen“-Spleen, denn der Unerzogene entdeckt plötzlich seinen Sinn für Reinlichkeit..
Bevor ich auf ihn zuhechten kann und ihn in einem vorgetäuschten Anflug von Kinderliebe mit „Engelchen flieg“ vom Sofa reiße, hat er seine Finger durch geschicktes Abstreifen wieder in einen schokofreien Zustand gebracht.
Mir wird heiß und kalt als ich den Rache fordernden Blick meiner Gattin im Rücken spüre.
Behände entwindet er sich meinem „liebevollen“ Griff und klettert zurück aufs Sofa. Sofort beginnt er zu hüpfen und juchzt dabei. Endlich schreitet Gerd, sein Erzeuger, ein: „Pass auf!“ Aha, jetzt nimmt der Vater die Erziehung in die Hand und erklärt ihm gleich, dass man nicht wie ein Affe auf teueren Designersofas herumtollt. „Pass auf, dass Du nicht fällst!“ Ich traue meinen Ohren nicht: Hier wird gerade ein Prachtstück an Möbel zugrunde gerichtet und diesem Ignoranten ist nichts wichtiger als die Standfestigkeit seines missratenen Sohns!
Ich kann mich gerade noch beherrschen und schlucke den Satz herunter, der zwar unsere Möbel retten, aber die Beziehung zu unseren Nachbarn in den Zustand des Kalten Krieges versetzen würde: `Spring so hoch Du kannst und brich Dir den Hals, Du kleines Monster´...
Heidi und Gerd fühlen sich unterdessen zunehmend genervt, dass wir der Unterhaltung kaum folgen und stattdessen wie nervöse Bodyguards jeden Schritt ihres Filius überwachen.
Um weiteres Unheil zu verhindern, nehme ich J.R. zu mir auf den Schoß. Aber der Racker antizipiert meine Absicht, fängt an zu kreischen und windet sich erneut wie ein Aal aus meiner Umklammerung. Meine Augen beginnen zu flackern und ich blecke die Zähne wie Jack Nicholson in „Shining“.
Gedanklich schultere ich die Axt und streife ein Bein hinterherziehend durchs Haus, um mein Werk zu vollenden.
Von der Ferne höre ich jemanden meinen Namen rufen. Ich sehe unsere entgeisterten Nachbarn auf meinen Kuchenteller starren, wo eben ein grausames Gemetzel stattgefunden haben muss. Eine Kirsche liegt gevierteilt neben meinem Teller, die übel zermatschte Teigmasse lässt die frühere Konsistenz eines Kuchens nur noch schwach erahnen.
Nach diesem Zwischenfall dauert es nur noch eine halbe Minute, bis unsere Gäste überstürzt ihre Klamotten zusammensuchen, ohne den süßen Jamiro auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
An diesem Abend sprechen meine Frau und ich nicht mehr viel. Wir gehen früh zu Bett. Irgendwann in der Nacht schrecke ich schweißnass aus einem Albtraum auf, laufe ins Bad und öffne den linken Flügel des Spiegelschranks, in dem meine Frau ihre Sachen aufbewahrt. Ein Stein fällt mir vom Herzen: Die kleine Tablette unter dem Aufdruck „So“ für Sonntag fehlt.
StB© Juli 2003