Besuch in der Golding Street
"Wie laufen die Geschäfte?", fragte ich Aiden Celleach, während ich meinen Spazierstock bei jedem Schritt verspielt in den Kies drückte. Wir schlenderten gerade von einer Party in der Cable Street nachhause durch den kleinen Park an der Golding Street. Aiden hatte die Textikfabrik seines Onkels übernommen.
"Großartig!", sagte Aiden mit funkelnden Augen, "Ich bin überhaupt sehr zufrieden mit den Dingen, wie sie sich hier für mich in London entwickeln." Ich hatte Aiden noch selten über seine irische Abstammung reden hören. Deshalb fragte ich ihn, ob er manchmal unter Heimweh litte. Aber Aiden winkte ab und erklärte, dass es in Irland nichts mehr für ihn gäbe. Die einsetzende Hungersnot Mitte dieses Jahrhunderts hatte auch den größten Teil seiner Familie umgebracht. Dass sein englischer Onkel verstorben war, eröffnete Aiden viele Möglichkeiten. Aiden war in bescheidenen Verhältnissen groß geworden, hatte aber doch eine recht anständige Erziehung, zu der auch eine umfassende Bildung gehörte, genossen. Ich selbst lebte zu jener Zeit nur noch von den letzten Gütern, die meine adeligen Vorfahren hinterlassen hatten. Was mich mit Aiden verband, war wohl der ähnliche materielle und gesellschaftliche Status. Wir näherten uns sozusagen aus zwei gänzlich unterschiedlichen Richtungen einander an. Abgesehen davon, mag uns unser gegensätzliches Temperament für den anderen interessant gemacht haben. Während Aiden, seiner irischen Natur entsprechend, leicht aufbrausend war, mag er es jedoch seiner englischen Seite zu verdanken haben, dass er sein irisches Temperament sehr gut unter Kontrolle hatte. Selbst im Zustande der schwersten Gemütserregung war er noch imstande, sich deutlich zu konzentrieren. Wie der Geist bei so manch anderem durch seelische Erschütterung benebelt würde, schien er sich bei Aiden noch zusätzlich zu schärfen.
Die Golding Street war ebenso hübsch wie kurz. Durch ihre Nähe zum Park war sie eine jener weniger Straßen, die vom Lärm und dem Staub der aufblühenden Industrie Londons verschont geblieben waren. Unser Blick fiel auf den Hauseingang zu einer Wohnung, deren erleuchtete Fenster die Gesichter der Schaulustigen erhellten. Im Inneren waren die Bobbies des Metropolitan Police Service an ihren klobigen Zylindern zu erkennen. Der Leichenbestatter war bereits vorgefahren.
"Wohnt hier nicht auch deine Tante Milly?", fragte ich Aiden vorsichtig. Aber er hatte einen starren Blick und ging hölzern auf die Wohnung zu. Als Aiden seine Tante Milly auf dem Boden liegen sah, wurde er regungslos. Allein seine Augen fixierten die Partien ihres toten Körpers. Ein Bobby wies Aiden an, den Tatort zu verlassen, aber Aiden wollte wissen, was passiert war. Der hünenhafte Polizist schien eine groteske Übertreibung jedes Bobbies darzustellen, denn mit seinem Zylinder kratzte er unfreiwillig an der Decke. Der typische Backenbart verbeiterte sein ohnehin enormes Kiefer. Nur Schlagstock und Trillerpfeife baumelten lächerlich klein an ihm herum wie Kinderspielzeug.
"Wir gehen von einem Unfall aus.", brummte der Bobby. Aiden musterte das Gesicht seiner Tante. Es war von einer eigentümlichen, roten Färbung. Eine Tasse stand noch auf dem Tisch, daneben eine Flasche Amygdalin.
"Mir ist nicht wohl.", sagte Aiden dann unvermittelt und lief in die Küche, um sich Wasser zu holen. Nachdem er den Bobbies noch erläutert hatte, in welchem Verhältnis er zur Toten stand und was ihn zur Wohnung geführt hatte, gingen wir nachhause. Aiden sprach nicht, ging nachdenklich aussehend die Straße hinunter. Dann trennten sich unsere Wege.
Aiden hatte mir etliche Tage später einen Brief gesandt, in dem er mir mitteilte, dass er mich am nächsten Morgen zum Frühstück im Cafe L'Adrette treffen wolle. Ich war sehr überrascht, ihn in einer guten Verfassung vorzufinden. Das musste er gleich erkannt haben, denn er bat mich aufgeregt, den Polizeibericht in der heutigen Ausgabe der Whitechapel Gazette zu lesen. In der Tat staunte ich über die Detailliertheit, welche der Polizeibericht offenlegte:
"Die Londoner Polizei konnte den Fall um Mrs. Milly Vanners klären. Nachdem davon ausgegangen war, dass es sich um einen Unfall handelte, muss nun jedoch von einem Selbstmord ausgegangen werden. Anfänglich war angenommen worden, sie hätte die Flaschen Laudanum und Amygdalin verwechselt. Während Laudanum ein Mittel zur Behandlung von Migräne ist, ist Amygdalin ein Stoff, der in bitteren Aprikosenkernen vorkommt und gelöst und in kleinen Dosen als Nahrungsergänzung verwendet wird. In großen Mengen verzehrt, bewirkt es typische Vergiftungserscheinungen wie Atemnot sowie eine starke Errötung des Gesichts. Am Toten verschwinden diese Flecken nicht, sondern verstärken sich in der Regel sogar.
Die geladenen Zeugen bestätigten Mrs. Milly Vanners eine besonders ausgeprägte Ordentlichkeit, sie habe sich zudem ihre Flaschen extra groß beschriften lassen, weil sie kurzsichtig war. Zudem war am Tatort aufgefallen, dass das Regal zur Aufbewahrung der Flaschen zwar kurz war, gerade aber jene beiden Flaschen an verschiedenen Enden aufbewahrt wurden. Somit ist mit einem Versehen nicht zu rechnen. Auch ist nicht von einem Verbrechen auszugehen, da die Wohnung von einem möglichen Täter auf der Suche nach Wertgegenständen in Unordnung gebracht worden wäre.
Im Laufe der Ermittlungen stellte sich zudem heraus, dass Mrs. Vanners einen beträchtlichen Betrag von viertausend Pfund abgehoben hatte. Nachdem sie diesen jedoch beim Pferderennen verloren hatte, schien sie keinen anderen Ausweg aus ihrer Misere zu wissen als sich mit Amygdalin zu vergiften. Das einzige, was sie bei sich trug, war ihre - nicht überraschend - leere Brieftasche. In ihr befand sich lediglich ein Adressbuch mit der Anführung ihrer Bekanntschaften." Es folgte eine Auflistung der wichtigsten Zeugenaussagen:
ARZT UND APOTHEKAR DR. JOHN WEHSINGER, erzählte, dass Mrs. Vanners regelmäßig Laudanum bei ihm bestellte. Ihre Mengen waren beträchtlich, deshalb achtete sie sehr darauf, dass es niemals zur Neige ging. Außerdem bestellte sie immer wieder Amygdalin zur Kräftigung ihrer Lebensgeister und Linderung ihres Rheumas. Sie wusste jedoch ganz genau, wieviel sie davon einnehmen durfte, um einer Vergiftung vorzubeugen. Sie erschien immer gut gekleidet und war sehr ordentlich. Auffallend war, dass sie sich jede Quittung und jeden Beleg aufgehoben hatte.
BANKDIREKTOR SIR WILLFRIED CARNAUT, sagte aus, er selbst war nicht dabei, als Mrs. Vanners viertausend Pfund abhob, ein Angestellter hatte ihr diese große Summe ausgezahlt. Der Kollege hieß RON MACDERMOND, sei krank zuhause. Er, Carnaut, habe schon nach ihm sehen lassen, da er sich Sorgen mache. Er habe schon einen Arzt hingeschickt, aber MacDermond wollte sich nicht ansehen lassen. Es sei wohl eine gewöhnliche Grippe, die MacDermond bald auskuriert habe. Aus den Unterlagen ging hervor, dass Mrs. Vanners somit das meiste ihres monetären Vermögens abgehoben hatte.
KASSIER IN DER PFERDERENNBAHN WILLIAM (BILL) THACKERY, sagte aus,
Mrs. Vanners habe alles bei nur einem Wetteinsatz verloren, immerhin viertausend Pfund. Sie wirkte daraufhin sehr zerknirscht und er wundere sich nicht, wenn sie sich etwas angetan haben sollte. Mrs. Vanners war eine leidenschaftliche Spielerin, kam jeden Sonntag zur Rennbahn, in letzter Zeit auch immer öfter unter der Woche. Jetzt, wo er darüber nachdenke, sei er sich gewiss, dass sie schon über die letzten Wochen und Monate viel Geld verspielt hatte. Abgesehen davon, war Mrs. Vanners immer darauf bedacht, gut gekleidet zu sein. Ausserdem hortete sie immer alle ihre Belege in der Brieftasche. Einmal sei er sogar in einen Streit mit ihr geraten, weil sie behauptet hatte, dass man ihr ein falsches Ticket verkauft habe. Das sei jedoch nur einmal vorgekommen. Für gewöhnlich besaß sie eine beherrschte, gut gelaunte Persönlichkeit.
CAFEBESITZER DES L'ADRETTE MONSIEUR HENRIQUE PARTOUR, erzählte,
dass Mrs. Vanners immer adrett gekleidet war. Sie ließ sich immer eine Quittung aushändigen, auch wenn sie nur einen Kaffee bestellte. Bei ihrem letzten Besuch war sie jedoch sehr geknickt. Während sie üblicherweise gern über die neuesten Tagesgeschehnisse plauderte, war an diesem Tage kaum ein Wort über ihre Lippen gekommen. Als sie dann auch noch merkte, dass sie kein Geld bei sich hatte hatte, um zu bezahlten, brach sie in Tränen aus. Er habe wirklich den Eindruck gehabt, dass sie ganz durcheinander sei. Er habe ihr versichert, dass sie ein anderes Mal zahlen könne, da sie schließlich Stammgast sei, und sie bedankte sich auch dafür. Aber ihre Schmach darüber war trotzdem nicht zu übersehen.
Ich bemerkte mit Staunen, dass wir uns im Stammcafe von Aidens Tante befanden. Ich musterte Aiden eingehend. Er saß entspannt in seinem Sessel, fast mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Ich verstand nicht, warum ihn eine Nachricht vom Selbstmord eines Angehörigen derart entspannt bleiben ließ.
"Eine solche Tat ist schlimm, aber umso schlimmer, wenn man sie an sich selbst verübt hat. Sie lässt keine Chance zu helfen übrig. Man empfindet nicht einmal Rachegefühle oder Mitleid, weil Täter und Opfer dieselbe Person sind."
"Ich habe mir den Artikel schon mehrmals durchgelesen.", vergewisserte Aiden, "Aber je öfter ich ihn studiere, umso sicherer werde ich mir darüber, dass es sich weder um einen Unfall, noch um einen Selbstmord handelt." Ich war erstaunt über seine Gewissheit. Umso mehr, als ich große Stücke auf die Londoner Polizei hielt, die in großem Eifer ihrer Arbeit nachgeht.
"Eifer ist nicht alles, mein Freund.", sagte Aiden mit nicht wenig Verachtung.
"Als wir in Tante Millys Wohnung angekommen waren, war ich überrascht, konnte jedoch an mich halten. Meinem Blick mochte nicht entgehen, dass die Flasche, mit der sie sich selbst umgebracht haben soll, nicht vollständig geleert war, was ich mit dieser Absicht zweifellos getan hätte. Man mag zudem darüber streiten, ob man in tiefster Verzweiflung dazu fähig ist, sich noch einen Tee zuzubereiten. Gegen diese Annahme mag jedoch sprechen, dass Amygdalin sehr bitter ist, aber im Tee mit viel Zucker, wie Milly ihn trank, kaum zu schmecken gewesen wäre.
Daraufhin lief ich unter dem Vorwand, mit wäre nicht wohl, in die Küche, um mir das Service genauer anzusehen. Als ich die oberste Tasse aus dem Regal nahm, war ich kaum fähig, einen Schluck Wasser daraus zu nehmen, weil sich am Boden ein oranger Satz befand. Er roch bitter und leicht nach Marzipan, wie es für Amygdalin üblich ist. Was mich zum Schluss führte, dass jemand zweiter im Raum gewesen sein muss, der denselben Tee getrunken hat."
Aiden setzte seine leere Kaffeetasse ab und sagte, dass er einen Spaziergang unternehmen wolle. Wir verließen also das Cafe und schlugen in den malerischen Steney Way ein. Ich dachte über die Züge nach, die Aiden geschlossen hatte, wollte aber wissen, warum jemand bei einem Mord sein eigenes Ableben riskieren sollte.
"Ich gehe davon aus, dass der Mörder Milly kannte, vielleicht sogar öfter zu Besuch war. Als er die Flaschen mit Laudanum und Amygdalin entdeckte, nutzte er seine Chance, ihr aus der falschen Flasche einzuschenken. Er verdeckte dabei vermutlich geschickt das Etikett.
Es ist anzunehmen, dass Milly durch den Verlust des vielen Geldes durchaus belastet war, und eine Wirkung Laudanums abseits der Schmerzenslinderung ist, dass es die Laune bessert. Um jedoch keinen Argwohn zu wecken, sah sich der Mörder gezwungen, sich selbst einzuschenken, wenngleich auch viel weniger. Wir suchen also nach jemandem, der vielleicht selbst erst vor kurzem erkrankt ist, sich aber unter keinen Umständen helfen lassen will, weil die Vergiftung mit Amygdalin typische Anzeichen verursacht und ein Verdacht entstehen könnte."
Als wir am renommierten Royal Hospital of London vorbeikamen, zündete ein Funke, der meine Gedanken in neue Bahnen lenkte und mich unwillkürlich aufzucken ließ. Sichtlich belustigt von meiner Reaktion, führte Aiden seine Schlussfolgerungen weiter aus.
"Zudem war vom Mörder die Wohnung nicht durchsucht worden. Es ist richtig, dass jemand, der nicht wusste, wo er zu suchen hätte, die Wohnung auf den Kopf gestellt hätte. Was meine Aufmerksamkeit jedoch darüber hinaus erregte, war die leere Brieftasche. Milly hatte laut Zeugen alles aufgehoben, jede Quittung und jeden Beleg. Ich tippe auf den jungen Angestellten Ron MacDermond, der sich krank gemeldet hat. Er wusste von dem Geld, aber wohl nicht, dass Milly alles verloren hatte. Er war der einzige mit einem Grund, die Quittungen aus der Bank und der Pferderennbahn zu entwenden."
Ich wollte unbedingt wissen, wann wir den Angestellten aufsuchten und zur Rede stellten. Aiden lächelte. "Wir sind schon da." Ich sah verdutzt hoch. Wir standen in der Barney Street, an der Ecke eines heruntergekommenen Viertels mit teilweise eingebrochenen Häusern und kleinen Wohnungen darin. Wir betraten vorsichtig das schäbigste Haus. Im letzten Stock traten wir an die Türe und klopften.
"Wer ist da?", fragte eine junge Männerstimme.
"Ron MacDermond!", sagte Aiden. "Wenn Sie nicht sterben wollen, so machen Sie unverzüglich die Türe auf."
MacDermond hatte die Tür geöffnet und, nachdem er uns eindringlich gemustert hatte, unter Zögern herein gebeten. Sein Gesicht war schmal und zerfurcht, es wirkte zehn Jahre älter als seine Stimme. Die rosa Flecken auf seinen Wangen wirkten nahezu grotesk. Die Kleidung hing an ihm herab wie an einem Kleiderständer. Er schlurfte behäbig zu einem Sessel und tapste unsicher auf dessen Lehne herum, ehe er sich setzte. Er sah uns mit rot unterlaufenen Augen an und atmete schwerfällig.
"Sehen Sie.", sagte Aiden mit fast boshafter Höflichkeit. "Vermutlich wissen Sie genau wie ich, dass Ihre Krankheit nicht von einem Erreger stammt, sondern von einem Mittel herrührt, das Sie unlängst eingenommen haben." MacDermond richtete sich langsam auf und atmete mit offenem Mund. Ich roch einen Hauch von Marzipan daraus.
"Vielleicht denken Sie, dass Sie das überleben.", führte Aiden weiter aus. "Aber es tut mir leid. Mitnichten, mein Bester." Aiden grinste dem Mörder seiner Tante ins Gesicht. "Sollten Sie versuchen, Ihrer Strafe zu entgehen, werden Sie qualvoll dahinsiechen. Es hat jedoch keinen Sinn, einfach zu sterben." MacDermond hatte plötzlich mit Übelkeit zu kämpfen, es stieß ihn ein paar Mal auf. Er wurde unruhig und sagte zittrig:
"Die werden kaum einen Mörder kurieren."
"Ja.", gab Aiden zu. "Aber ließen Sie sich behandeln und würden erst dann gestehen, sähen die Chancen etwas besser aus." Aiden musste nicht mehr viel sagen, um zu erkennen, dass MacDermond seiner Empfehlung Folge leisten würde. Er gab nach seiner Behandlung der Polizei bekannt, dass er es auf das Geld von Mrs. Vanners abgesehen hatte. Nachdem sie gestorben war, hatte er alles versucht, es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Er beschuldigte noch obendrein Mrs. Vanners, leichtsinnig gewesen zu sein, so einen Betrag mit sich zu führen. Auch wenn ihm diese Art von Argumentation vor Gericht nichts einbrachte, staunte ich doch über dessen Dreistigkeit.
Aiden wirkte erleichtert, die Umstände des Ablebens seiner Tante geklärt zu haben. Ich weiß nicht, in welchem Verhältnis er zur Tante stand, ob es ein inniges oder distanziertes, ein gutes oder aber ein schlechtes war. Während unserer gemeinsamen Zeit behielt Aiden es sich vor, ausführliche Schilderungen seiner familiären Bande vor mir geheim zu halten. Ich kann nur mutmaßen, ob er sich für seinen Hintergrund schämte. Ob seine beiden Seiten, denen er je zur Häflte entstammt - sowohl der irischen als auch der englischen - hätte entsagen wollen. Ähnlich den griechischen Kentauren, deren Erzfeinde im Aussehen ihrem eigenen Oberhaupt entsprachen, während sie gleichzeitig die Rinder von Nephele mit den eigenen Hufen zu Tode trampelten. Wie zerrissen muss eine Kreatur sein, die sich aus Häften zusammensetzt, die einander nicht ausstehen können. Ich für meinen Teil mochte Aiden und verbrachte nur zu gern Zeit mit ihm. Sein scharfer Verstand war niemals um eine gute Pointe verlegen und ich habe ihn selten gewalttätig erlebt. Lediglich in Anwesenheit arroganter Amtspersonen oder jener, die sich allzu sehr darauf versteiften, ihn aufgrund seiner Herkunft vorzuführen, war er stets versucht, den Böswilligen auszumachen und bloßzustellen. Somit gefiel es Aiden, die Londoner Polizei, die gemeinhin für ihre Hartnäckigkeit berühmt war, überholt zu haben.
"Seit ein paar Wochen ist ein blutrünstiger Berserker in London unterwegs. Seine Verbrechen sind ebenso laut und schmutzig wie es die Fabriken dieser Stadt sind. Seinen Opfern schlitzt er in dunklen, schmutzigen Gassen das Gesicht bis zum Bauch auf. Die schrecklichen Taten dieses Mannes, der sein Ziel wohl mit einer gewissen Leidenschaft, sei es aus Lust, Rache oder aus Kränkung, verfolgt, treiben die Hysterie soweit, dass kein Tag vergeht, an dem ihn nicht jemand um die Ecke schleichen sieht. Auch die Polizei ist angehalten, ihn zu suchen, wohl wissend, wie gefährlich so jemand werden kann, wenn er in die Enge getrieben wird. Aber bei diesen lauten, kreischenden, schmutzigen, furchtbar anzusehenden Verbrechen auf offener Straße haben die leisen, sauberen Morde in einem gemütlichen Wohnzimmer kaum eine Chance, entdeckt zu werden." Aiden hielt einen Augenblick inne, und seine Stimme bekam einen merkwürdig zurückhaltenden Unterton.
"In gewisser Weise ist so ein leiser Mord weitaus schlimmer. Denn es genügt nicht, die dunkle, enge Gasse zu meiden. Wenn ein Mörder seine Tat ohne Leidenschaft oder Rührung vollzieht und dabei jenen Menschen, die ihm vertrauten, den Dolch ohne mit der Wimper zu zucken in die Brust stößt - vor wem sind wir dann noch sicher?" Aiden verstummte, und ich muss zugeben, dass ich meinen Freund niemals so fassungslos erlebt hatte.