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Besuch, der bleibt
Sie wachte auf und jemand drückte ihr ein Kissen aufs Gesicht. Im ersten Reflex riss sie die Augen auf und versuchte, Luft in die Lungen zu pumpen, aber natürlich war das Kissen im Weg. Also zwang sie sich, die Augen wieder fest zuzukneifen und zählte im Kopf „1,2,3 ...“, ehe sie langsam wieder die Lider hochklappte.
Das Kissen war verschwunden, dafür hockte Gundula jetzt neben ihr auf der Bettkante und starrte sie mit schief gelegtem Kopf an.
„Guten Morgen!“ schnurrte sie mit ihrer Stimme, die klang, wie in Sirup ertränkte Bienen. Irgendwo in Asien aß man das als Leckerbissen zu besonderen Feiertagen, hatte Zoe mal gelesen. In China vielleicht, oder auch in Japan, beides gleich viele unendliche Kilometer entfernt. Zoe holte Luft, teste, ob noch alles funktionierte. Tat es auch – grade so.
„Wird dir der Trick mit dem Kissen nicht langsam langweilig?“ fragte sie betont gleichgültig. „Jeden Morgen das Gleiche ist nicht grade sehr einfallsreich.“
Gundula zuckte die Achseln.
„Solange es immer noch klappt, kein Grund, grantig zu werden.“ zwitscherte sie.
Zoe ließ ihren Kopf nach hinten fallen und starrte auf die grauen Pickel der Raufasertapete über ihr.
Der Vormieter hatte hier oben garantiert nicht gestrichen. Vermutlich hatte er sich gedacht, dass es vollkommen ausreichend war, genug frisches Weiß an den Wänden links und rechts zu verschmieren, um den Eindruck von „frisch renoviert“ zu erzeugen. Und wer starrte bei einer Wohnungsbesichtigung schon konzentriert an die Decke. Man öffnete den Kühlschrank und das Gefrierfach, drehte an den Herdknöpfen und untersuchte die Dusche auf Schimmel und das Klo auf Urinstein. Dann fragte man sich, ob das Bett vors Fenster passte und ob die dunkelvioletten Vorhänge, die in der WG so pfiffig aussahen, diesen Raum nicht irgendwie düster wirken lassen würden. Ganz bestimmt nicht dachte man an angegraute Zimmerdecken, während man sich zwischen den anderen Interessenten der offenen Wohnungsbesichtigung – Zwei Zimmer, 58 Qum, 420,- kalt – durchdrängte. Stattdessen schnappte man sich den Zettel, den der Makler einem in die Hand drückte, notierte Name und Adresse, und weil man in der Spalte „Gewährleistungen/Mietsicherheit“ Bürgschaft der Eltern notieren konnte, rief einen der Makler vier Tage später zurück. Einzug zum nächsten Ersten.
Nach fünf Jahren in einem 13 qum Zimmerchen, Küche- und Badteilung mit mehr oder weniger zweckgebundenen Mitmietern war es an der Zeit, erwachsen zu werden. Wenn sie jetzt nicht bereit für das echte Leben wahr, dann vermutlich nie.
Drei Wochen später hatte sie einen Anhänger gemietet und Jason, der eigentlich Dennis hieß und Jura studierte, hatte sie, ihre vier Umzugskisten, den Schreibtisch, Matratze samt Lattenrost plus einen wackligen Kleiderschrank „Aneboda“ in seinem Kia durch die halbe Stadt gekurvt.
Das war vor 13 Monaten gewesen, als Winterlicht und Frühlingssonne sich noch nicht recht entscheiden konnten, wer von ihnen an der Reihe war. Aber unter den Balkonen im Ersten Stock hatten Krokusse geblüht, lila und weiß, und Zoe hatte gedacht, das sei ein gutes Zeichen.
Aber so war es nun mal mit Omen: entweder man glaubte daran oder man glaubte nicht, aber in jedem Fall sollte man sie richtig lesen können.
Zoe zwang den Blick von einem besonders dicken Knubbel direkt über ihr, der sie jedes Mal an einen fetten Eiterpickel kurz vor dem Platzen erinnerte, und drehte sich Richtung Fenster. Ihr Bett stand genau unter dem mittig in die Wand gelassenen Rechteck, das das Zimmer hell und freundlich hatte wirken lassen, als sie es an diesem Aprilmorgen vor über einem Jahr zum Schlafzimmer erkor. Der andere, größere Raum sollte Wohn- und Arbeitszimmer werden, die Fenster dort waren kleiner, dafür gab es drei Stück und einen „französischen Balkon“, eine Gartentür ohne Vorbau, was man im achten Stock getrost auch „Selbstmördertür“ nennen durfte.
Man sollte die Zeichen eben lesen können.
Vom Schlafzimmer aus sah man im besten Fall jede Menge Himmel, alles andere – graue Wohn- und Bürotürme, graue Straßen, Gehwege, Plätze und Höfe – führte nur zu Depressionen. Depressionen, ha!
Gundula kicherte leise und Zoe warf ihr einen müden Blick zu.
„Verpiss dich.“ murmelte sie ohne Elan, Gundula hörte ihr ohnehin nie zu und machte meistens das Gegenteil von dem, was Zoe sich wünschte.
„Du willst doch nicht etwa aufstehen?“ prustete sie jetzt auch. „Hast du nicht gesehen, was für ein Wetter draußen ist?“
Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, was für ein Wetter es war, es war sowieso einfach nie richtig. Zu nass, zu kalt, zu heiß, zu trocken, zu staubig, stickig, feucht-klamm, windig, unberechenbar, erdrückend ... unvorstellbar, dass Menschen Tag für Tag nichts anderes machten, als aufzustehen und ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen.
Heute hing der Himmel taubenblau vor dem Fenster, an dessen Rändern links und rechts die dunkelvioletten Vorhänge baumelten.
Der Wonnemonat, es war zum Kotzen.
Falscher, ganz falscher Gedanke. Obwohl sie noch nichts gegessen hatte, drückte ihr Magen plötzlich unangenehm gegen Zoes Kehle und im Rachen sammelte sich scharfer, beißender Magensaft.
Guten Morgen, Dasein.
Sie schluckte, einmal, zweimal und setzte sich dann auf. Die Liste ihrer körperlichen Unbefindlichkeiten war ziemlich lang, im Moment spürte sie jede einzelne davon. Schwindel. Brechreiz und Übelkeit. Schwere Beine. Sausen im Kopf. Kopfschmerzen. Nervöser Darm. Schwere, kalte Hände. Rauschen in den Ohren. Zuckende Augenpartie. Verkrampfte Nackenmuskulatur. Herzklopfen. Pfeifende Atmung. Rückenschmerzen. Jucken. Knackende Gelenke. Geschwollene Zunge. Brustenge, Atemnot.
Sie kletterte unbeholfen aus der zerwühlten Bettdecke (einen flüchtigen Augenblick überlegte sie, wann sie die Bezüge zuletzt gewechselt hatte) und griff nach dem Kleiderknäuel, das vor ihr auf dem Boden lag. Strumpfhose, Jogginghose, Wollsocken, Shirt, Sweatshirt, Schal. Sie fror jetzt immerzu.
Am Bad marschierte sie vorbei, heute gab es keinen Grund die Wohnung zu verlassen und also auch keinen, sich wenigstens flüchtig zu waschen, und ließ sich in der Küche auf einen der hohen Hocker plumpsen, die sie bei IKEA so schick gefunden hatte.
Nachdem sie ein paar Minuten so da gesessen und sich einfach nur an das Wachsein zu gewöhnen versuchte, stand sie nochmal auf und holte sich eine Dose mit einem Energydrink aus dem Kühlschrank. Kaffee kochen war schon längst zu mühsam geworden, aber ohne Koffein würde sie keine der unerträglichen Stunden durchstehen können, die noch vor ihr lagen.
Die Uhr über der Spüle tickte laut und spöttisch. Fast zehn, noch mindestens acht Stunden Tag.
Guten Morgen, Dasein.
Gundula war leise hinter ihr in den Raum geschlüpft und lümmelte sich jetzt direkt vor ihr mit aufgestützten Armen am Küchentisch.
„Von zu viel Taurin kriegt man Krebs.“ behauptete sie ernst und drehte die leere Getränkedose so, dass Zoe die Liste der Inhaltsstoffe lesen konnte. „Und all das E Dingsbums da drin ... bei deinem Konsum gibst du vermutlich schneller den Löffel ab als Herr Tundrin.“
Herr Tundrin war ein Nachbar drei Partien weiter unten, und sah aus wie mindestens achtzig. Wenn er durchs Treppenhaus schlurfte, hustete er immer derart, dass Zoe Angst hatte, hinterher Teile seiner Lunge auf den Stufen vor zu finden.
Zoe verschluckte sich und spuckte den Rest Flüssigkeit ins Spülbecken. Sie hasste den Gedanken ans Sterben, an den Tod, daran, dass alles zu Ende gehen musste.
Und hasste zugleich die Tatsache, dass sie jeden Morgen wieder wach wurde. Wie passte das zusammen? Gar nicht. Wie auch sonst nichts in ihrem verkorksten, jämmerlichen Dasein.
Sie schlang die Arme um ihre Brust und bemühte sich, langsam ein und aus zu atmen. Sie würde nicht ersticken, das waren nur ihre Gedanken, nur ihre Einbildung.
Ein und wieder aus, ein und wieder aus.
Gundula kicherte träge.
Wann sie bei ihr aufgetaucht und schließlich ganz eingezogen war, konnte Zoe nicht mehr genau sagen. Nicht in den ersten vier Monaten, so viel stand fest. Vermutlich also erst, als der Herbst sich jeden Abend ein bisschen schneller ins Zimmer dämmerte, als die Heizungsluft trocken im Hals knisterte und ihr zum ersten Mal die Stille in der Wohnung auffiel. Eine merkwürdige Stille, die jede CD-Musik, jeden Nachrichtenton aus dem Radio oder Fernsehen überlagerte und sich unangenehm in den Ohren fest setzte.
Eine Stille, die, je länger sie andauerte, einen eigenen perversen Klang bekam und zu Kopfschmerzen führte, wenn man es nicht schaffte, ihr rechtzeitig zu entfliehen.
Anfangs war Zoe das noch gelungen. Sie hatte die Wohnung verlassen, war durch Bars und Clubs gezogen und erst morgens wieder zurück in ihre Wohnung gekehrt, wo nach all dem Nachtlärm die Ruhe eine wohlige Wirkung hatte.
Aber immer schneller flachte diese Wirkung ab, immer heftiger kamen die Kopfschmerzen, bis sie schließlich auch den Rest des Körpers erreichten und sie so müde machten, einfach nur müde und schwer.
Da war Zoe dann nicht mehr ausgegangen nachts, sondern sie hatte sich Ohropax in die Ohren gebohrt und versucht, den Schlaf herbeizuzwingen.
Das war im Winter gewesen, während der Schnee draußen auf den grauen Straßen und Plätzen lag und ebenfalls so ganz und gar grau war.
Und dann war Gundula gekommen. Eines Morgens hatte sie Zoe das Kissen aufs Gesicht gepresst und als diese in Todesangst nach Luft rang, hatte sich zum ersten Mal Gundulas klebriges Lachen auf die Stille gesetzt.
Und seitdem war sie nun da.
Jede einzelne Stunde des Wachseins teilte sie mit Zoe. Manchmal lag sie nur gelangweilt auf dem Sofa und rührte sich nicht, dann wieder sprang sie plötzlich auf, klammerte ihre drahtigen Arme um Zoes Körper und flüsterte ihr Geschichten ins Ohr, Geschichten, die frösteln machten, Geschichten von Tod und Sterben, von Unfähigkeit und Versagen, von Niederlage und Selbstbetrug.
Und es dauerte lange, bis das Herzrasen dann nachließ und sie wieder richtig atmen konnte, der Schmerz im Nacken aber und die Übelkeit, die blieben und im Kühlschrank vergammelte der Käse und das Brot.
Im Januar war Zoe zu einer Ärztin gegangen, aber weil sie nicht wusste, was sie erzählen sollte, sprach sie vom Frieren und von den Kopfschmerzen und die Ärztin diagnostizierte eine leichte Grippe, riet ihr zu Paracetamol und Hühnerbrühe, Wärmflasche und viel Schlaf.
In der Apotheke fragte Zoe spontan nach einem frei erhältlichen Schlafmittel und die Apothekerin gab ihr ein Präparat, empfahl ihr, es nicht zu häufig und zu lange zu nehmen, schlug heiße Milch mit Honig und Fußbäder vor und Zoe dachte nur an die Schachtel in der kleinen Plastiktüte, als sie den Laden verließ.
Eine Schachtel hielt 14 Tage, ein Dragee hielt 12 Stunden.
Gegen den Dämmerschlaf, den die Tabletten ihr brachten, kam Gundula nicht an und das war auch der Grund, warum für Zoe die Nächte das Schönste waren.
Sie starrte auf das Zifferblatt der Uhr, 10 Uhr 28 Minuten.
Gundula tauchte in Zoes Nacken auf und pustete ihr sanft auf die Haut.
Sie spürte, wie sich die dumpfe Schwärze vor ihre Augen schob wie ein Verdunkelungsrollo, und wie ihr Darm sich verkrampfte, während das Herz schneller schlug.
„Arme Zoe“, flüsterte Gundula. „So ganz allein. Wer wird dich finden, wenn du, sagen wir – einen Herzinfarkt hast? Aber wäre das nicht ohnehin besser, für alle, meine ich? Wäre die Welt nicht besser dran ohne dich? Was bist du schon, Zoe, außer einer Last? Gehst nicht zur Arbeit, gehst nicht vor die Tür, schaffst nicht, was jeder normale Mensch schafft? Dumme, kranke, verrückte Zoe. Um dich wäre es bestimmt nicht schade.“
Die Worte schmerzten in den Ohren, wie früher, als sie häufig eine Mittelohrentzündung gehabt hatte. Sie presste die Hände links und rechts an den Kopf und stieß mit der Stirn an die Kante des Tisches. Kaum getrockneter Schorf sprang auf und ein dünner Blutfaden lief ihr schräg über die Nasenwurzel.
„Ich heiße Zoe“ flüsterte sie heiser. „Und ich bin nicht verrückt.“
Sie glaubte keine Sekunde daran, aber allein die Worte auszusprechen war irgendwie tröstlich. Im Internet hatte sie gelesen, dass Selbstaffirmation wahre Wunder bewirken konnte, Menschen hörten auf zu rauchen oder sich von ihrer Umwelt unterbuttern zu lassen. Warum also konnte das nicht auch ihr helfen.
„Ich heiße Zoe“ wiederholte sie. „Und Zoe heißt „das Leben“".
Dann ließ sie den Kopf wieder nach vorne fallen und schlug ihn gezielt und rhytmisch gegen die Tischkante.