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Besuch aus dem Jenseits
Diana lief über die Straße. Autos hupten. Sie öffnete das Tor und griff unter einen Stein an der Mauer.
Der Schlüssel lag an seinem Platz, ihre Mutter war also nicht da. Wie in letzter Zeit immer öfter. Es wäre jetzt nicht mehr nötig, meinte sie. Diana wäre endlich drüber hinweg, hätte aufgehört sich selbst die Schuld zu geben- sagte sie manchmal zur Nachbarin.
Doch es stimmte nicht.
Diana schloss die Tür auf und betrat das große alte Haus. Die Bretter knarrten im Vorraum, als sie ihre Schuhe abstellte. Durch die vielen Fenster drang das rote Sonnenlicht des Abends.
Es strahlte auf den Boden und in das urgemütliche Wohnzimmer. Der Vorraum wurde von einer Tür mit dünnen Glasscheiben abgetrennt.
Diana öffnete die erste, dann die Zweite, die zum Flur führte. Früher als Kind, da hatte sie es genossen im Winter und Herbst durch diese Türen zu gehen. Nach jeder wurde es ein Stückchen wärmer, bis sie schließlich im Wohnzimmer gestanden hatte und sich aufs Sofa fallen ließ.
Jetzt bemerkte es Diana nicht, ihr war noch immer kalt, fröstelnd trat sie ans Fenster. Draußen kroch der Nebel über die Straße, den Garten, den Fluss.
Der Fluss. Er war mehr ein reißender, eiskalter Wasserlauf, bei dem es Diana jedes Mal kalt über den Rücken lief.
Auch jetzt noch.
Feuchtes, totes Laub verteilte sich über die Wiese vorm Haus, wurde vom kalten Wind aufgeweht und wieder fallengelassen.
Diana starrte hinaus.
„Na komm, wir laufen“, rief eine Kinderstimme.
Sie schien in jedem Winkel des Hauses zu hallen.
Es war ihre, Dianas, Stimme.
Sie schloss die Augen hörte den Fluss, als würde sie daneben stehen.
„Na komm schon, Hannah.“
Wieder diese Stimme.
Diana öffnete krampfhaft die Augen, blinzelte, zwang sich nicht nach draußen zu schauen.
„Hör nicht auf diese Stimmen!“, hatte ihr die Psychologin, zu der Mama sie geschleppt hatte, ihr eingeschärft, „Du erfindest sie nur. Sie sind NICHT echt!“
Die Frau war nett gewesen, verstanden aber, hatte sie nichts.
Nicht das Diana Schuld war- sie allein!
Mama blockte auch immer nur ab: „Ach, Di. Hör doch bitte auf damit. Komm- gehen wir ins Kino?“, und dann schwatzte sie munter weiter, nahm sie hier und da mit hin, als merke sie nicht, wie wenig Diana alles interessierte.
Das trampeln von Füßen, aufdringliches, schrilles Kinderlachen.
„Ich bin schneller! Ich bin schneller, Hannah!“
Dann der Fluss, das grausame, laute Rauschen.
„Warte, Di. Warte doch!“
Keuchen.
Diana schüttelte unwillig den Kopf, als wolle sie die Geräusche aus ihrem Kopf jagen, ging zum Fernseher und machte ihn an.
„Wunderschönen guten Abend, meine…“
„Na mach schon. Dort die Brücke- komm wir gehen rüber!“
Diana stand auf, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn.
Sie wollte nicht, nicht noch einmal.
Sie machte lauter, die Nachrichtensprecherin brüllte jetzt.
„Hast du Angst?“
„Nein!“
„Die Aussichten für die nächsten Tage: heiter und…“
„Doch du hast Angst, Angsthase. Jetzt geh schon, es ist doch nicht schwer.“
Diana hielt sich die Ohren zu, presste die Augen zusammen- aber die Stimmen waren in ihrem Kopf.
„Ich weiß nicht , Di , ob das so eine gute Idee ist…“
„Du bist wirklich ein Feigling, Hannah!“
„Nein! Nein, ich geh ja schon!“
Diana stöhnte auf. „Nein, bleib!“ Sie schüttelte sich und murmelte vor sich her während sie sich beruhigend hin und her wiegte: „Die Stimmen sind nur erfunden, Diana, nur erfunden…“
Aber das Rauschen des Flusses wurde lauter, die Nachrichten leiser.
Die Holzbrücke wackelt, knarrt. Das Wasser tobt, als warte es nur gierig auf das, was passieren würde.
„Na siehst du, es geht doch, Hannah!“
Unerträglich laut und dann.
Ein Schrei.
„Dii…“
Ein Platschen, Stille.
„…, dass sie eingeschaltet haben, ich hoffe wir sehen uns…“
Diana öffnete langsam die Augen, atmete gepresst.
Es war vorbei. Ihre kalten Hände griffen langsam nach der Schaltung, der Fernseher wurde leise- verstummte.
Nur noch die Uhr tickte leise vor sich her, sonst war kein Laut zu hören.
Zitternd stand Diana auf. Die quälenden Stimmen, sie kamen von ihr, Hannah, die sie in den Tod geschickt hatte,
SIE. Wegen einer dummen Mutprobe. Diana sah es noch genau vor sich, wie die Holzbrücke riss, wie Hannah schrie und dann im Wasser verschwand. Sie konnte nicht schwimmen, die Strömung war stark, das Wasser eiskalt.
Diana hatte am Ufer gestanden- unfähig sich zu rühren. Auch später nicht, bei der Beerdigung, als alle weinend dagestanden hatten, in schwarz.
Noch jetzt, fast vier Jahre nach allem, sah sie die Gesichter der Eltern vor sich. Und sie sah den Hass darin. Hannah war ihre einzige Tochter gewesen.
Der Sarg glitt hinab in das dunkle schwarze Loch, wurde verschluckt. Einer nach dem anderen hatte eine Schaufel Erde auf ihn geworfen.
Auf die Kiste, in die die kleine Hannah gesteckt worden war, nachdem man ihren leblosen Körper weiter unten am Fluss gefunden hatte und in der sie für immer eingesperrt sein sollte.
Nur Diana trat nicht ans Grab, trat nicht unter die Augen der Menschen, denen sie das Liebste genommen hatte.
Erst viel später traute sie sich hin um von Hannah Abschied zu nehmen. Aber selbst ganz allein fühlte sie bohrende, anklagende Blicke. Auch von dem kleinen Mädchen, die sie aus der Erde heraus anzustarren schien. Seitdem quälte Hannah sie.
„Das ist Quatsch. Niemand quält dich, Di. Hannah ist durch einen Unfall gestorben. Ein dummer Unfall“, sagte Diana sich.
Sie ging in die Küche und goss sich Saft ein. Dann schluckte sie die Tabletten, die sie immer dabei hatte. Zu Beruhigung. Sie waren nur für den Notfall.
Aber Diana nahm sie fast jeden Tag.
Langsam ging es ihr besser und sie versuchte ein Buch zu lesen, doch statt der Romanfigur, hörte sie immer nur das drohende Rauschen des Flusses.
Draußen war es dunkel geworden und das Licht warf lange Schatten.
Eine Tür knallte.
„Mama?“, rief Diana in den Flur.
Keine Antwort.
Diana stand auf und lugte zu Tür. Es war niemand zu sehen. Stirnrunzelnd horchte sie nach Geräuschen.
Ihr Herz klopfte, wer war da? Plötzlich trat jemand ins Licht.
Es war Hannah.
Hannah!
Diana zuckte zusammen und schloss schnell die Augen. Sie atmete dreimal tief durch. Auch das hatte ihr die Psychologin geraten, wenn ihre Phantasie mit ihr durchging.
Aber Hannah stand noch immer da. Die kleine Hannah - sie lächelte, aber kein fröhliches Lächeln, sonder ein trauriges. Diana stand wie angewurzelt da. Sie konnte sich nicht rühren, nicht denken.
„Hallo, Di!“, flüsterte Hannah. „Was willst du?“, Diana trat zurück.
„Wir waren doch immer die besten Freunde, oder Di?“
„Lass mich in Ruhe!“, schrie Diana panisch. Wenn ihre Mutter doch bloß kommen würde, dann wäre das vorbei. Sie musste nur ruhig bleiben…
„Ich will, dass du mit mir kommst, damit ich nicht so allein bin. Denn ich habe jetzt keine Freunde und wir wollen immer zusammen bleiben, nicht wahr?“
Hannah sprach langsam und leise und trat auf Diana zu.
„komm mit mir Di!“, flüsterte sie beschwörerisch.
„Nein!“, rief Diana und hielt sich voller Panik die Hände über den Kopf. Sie stand an die Wand gepresst und konnte nicht ausweichen.
Plötzlich stieß sie einen erstickten Schrei aus und sank zu Boden. Sie bekam keine Luft mehr.
Röchelnd lag sie dort, ihr letzter Blick traf noch einmal die kleine Hannah die zufrieden lächelte, bevor sie ins erlösende Dunkle fiel.
„Ich weiß es klingt verrückt, aber…“, der Arzt legte seine Hand tröstend auf die Schultern von Dianas Mutter, die zitternd und mit aufgerissenen Augen auf dem Sofa hockte und ins leere starrte. Sie hatte ihre Tochter leblos mitten im Zimmer auf dem Boden gefunden.
„Aber ihre Tochter ist ertrunken, beide Lungenflügel sind randvoll mit Wasser.“