Mitglied
- Beitritt
- 25.12.2019
- Beiträge
- 70
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Bestandsaufnahme
In einem vergeblichen Versuch, dem Regen zu entkommen, drückt sie sich mit dem Rücken gegen das poröse Mauerwerk, aber aus der durchgerosteten Regenrinne tropft ihr weiter Wasser auf den Kopf. Neben ihr klafft ein großes, offenes Fenster wie eine Wunde im alten Haus und verströmt den dumpfen Geruch von moderigem Holz und Verwahrlosung. Durch das dichte Gestrüpp von dem, was wohl mal ein Garten war, sieht sie eine Person näherkommen.
„Pia! Cool, dass du es geschafft hast. Schön, dich zu sehen“, sagt die Person.
„In einem Café treffen war dir zu normal?“, sagt Pia mit einem leichten Grinsen.
„Café ist langweilig. Ich hab das alles hier irgendwie vermisst.“
Sie umarmen sich.
„Finds auch schön dich zu sehen, Paul. Ist lange her.“
„Echt zu lange. Drinnen ist es trockener, wollen wir?“, fragt er und deutet auf das Fenster.
„Klar. Mach mal eine Räuberleiter.“
Die roten Holzdielen sind mit abgebröckeltem Putz bedeckt und geben nach, als ihre Füße den Boden berühren. Vereinzelt sind die krankenhausgrünen Wände des leeren Raums mit buntem Graffiti beschmiert. Hinter ihr klettert Paul durch das Fenster und landet mit einem kleinen Satz auf dem Boden.
„Lass mal zum Balkon im ersten gehen.“
„Okay“, sagt sie und nickt.
Sie verlassen den Raum und laufen einen langen Gang entlang, von dem in regelmäßigen Abständen weitere kleine Räume abgehen. Pia schaut durch die Türrahmen und sieht leere Aktenhefter, Glasscherben von zerbrochenen Fensterscheiben und vergilbte Zeitungen auf dem Boden liegen.
„Hier hat sich ja gar nichts verändert“, sagt sie und lässt ihre Hand über die raue Wand fahren.
„Ja, ist alles noch wie damals“, stimmt Paul gedankenversunken zu.
„Wie kommt‘s, dass du wieder hier bist?“
Er zögert kurz, bevor er antwortet.
„Wollte ein paar Freunde besuchen. Und ich brauchte mal ‘ne Auszeit.“
„Auszeit von was?“
„Von meinem Job. Forex trading. Kaufen und Verkaufen von Fremdwährungen und so was. Hab erst neulich gemerkt, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, wann ich das letzte Mal Urlaub gemacht habe.“
„Du kaufst Geld mit Geld, um Geld zu machen? Das klingt irgendwie pervers.“
„Denkst jetzt bestimmt, ich bin ein schlimmer Heuschreckenkapitalist, aber irgendwie muss man sich seine Yachten und Privatjets ja finanzieren.“
„Der schlimmste. Von Grund auf verdorben.“
Beide müssen so laut lachen, dass ein Echo durch den Korridor hallt.
„Und wie läuft‘s bei dir so?“, fragt er.
„Ich zeichne noch. Bin Illustratorin für ein kleines Magazin. Macht echt Spaß. Aber nebenbei arbeite ich an einem Kinderbuch. Ich merke das ja schon bei Lizzy, die hängt immer länger an ihrem Handy, die Kinder heute haben gar nicht mehr die Geduld für ein schönes Buch. Ich weiß, ich hör mich an wie meine Oma, aber stimmt doch. Jeder muss immer über alles up to date sein, alles muss schnell sein, alles sofort sein, bloß nichts verpassen. Ich glaube, gerade die Kleinen brauchen mal wieder etwas Langsamkeit und Ruhe im Leben.“
„Langsamkeit und Ruhe“, wiederholt er nachdenklich. „Find ich gut. Und das mit dem Kinderbuch ist eine super Idee, wird bestimmt spitze. Lizzy habe ich auch ewig nicht gesehen, was macht sie so?“
„Ist letztes Jahr eingeschult worden. Ärgert jetzt schon ihre Lehrer.“
„Kommt also ganz nach ihrer Mutter.“
„Hey, so schlimm war ich gar nicht.“
„Frau Kramer hat mal gesagt, ihre grauen Haare kommen nur von dir.“
Sie rempelt ihn mit der Schulter an.
Am Ende des Ganges rankt sich eine schmale Wendeltreppe zum nächsten Stockwerk. Paul testet mit seinem Fuß jede Stufe vorsichtig auf ihre Tragfähigkeit, während er langsam die Treppe hinaufsteigt. Pia folgt.
Der lange Korridor ist ein Spiegelbild seines Zwillings aus dem Erdgeschoss, aber am anderen Ende fällt Licht durch die offenen Balkontüren. Sie laufen weiter.
„Und wie geht's Jens?“
„Jens“, murmelt sie und mustert den abgeblätterten roten Lack der Holzdielen unter ihren Füßen.
„Dem geht es gut. Denk ich mal. Kannst du dich noch an Cindy erinnern?“
„Markgraf?“
„Ja die. Sie und Jens ...“
Ihr Blick sucht auf dem Boden nach Worten.
„Ich habs nicht mal gemerkt.“
„Was für ein Mist. Tut mir leid.“
„Schon gut. Ist lange her. Sollen die doch machen, was sie wollen.“
Der Regen hat aufgehört, als sie den kleinen, halbkreisförmigen Balkon betreten. Pia lehnt sich mit den Armen auf die rostige Brüstung und betrachtet den Garten unter ihr. Der wild gewachsenen Grasteppich wird vereinzelt durch das Rot von Nelken durchstoßen. Paul hat ein Grinsen im Gesicht.
„Weißt du noch wie Martin damals hier runtergesprungen ist, als die Bullen kamen? Hand gebrochen, dann sind wir besoffen zur Notaufnahme. Nach dem ganzen Wein hat er zum Glück kaum was gespürt. Das waren noch Zeiten.“
„Damals, damals. Seit wann bist du denn so ein Nostalgiker?“
„Ist doch gut, mal eine Bestandsaufnahme von seinem Leben zu machen. Davon, wo man war, wo man ist. Was man hatte, was man will.“
„Ist das Paul für Midlife-Crisis?“
„Es ist nur“, sagt er und schaut in die graue Wolkendecke, „wenn ich an die letzten Jahre zurückdenke, weißt du was ich sehe? Linien und Zahlen auf einem Bildschirm. Und gerade sehe ich lieber alte Häuser.“
Sie bleibt still.
„Apropos Martin. Er macht nächstes Wochenende ‘ne Feier bei sich im Garten. Bist du dabei?“
„Müsste meine Schwester fragen, ob sie auf die Kleine aufpassen kann. Sollte klargehen.“
„Cool. Wenn du Lust hast, würde ich vorher mal auf eine Runde Mario Kart bei euch vorbeikommen. Bist mir noch ein Rematch schuldig.“
„Du kannst gerne vorbeikommen. Dann können wir uns um die hinteren Plätze streiten, während Lizzy uns überrundet“, sagt Pia und lacht.
Sie beobachtet, wie das große Lagerfeuer in der Mitte des Gartens glühende Funken in den dämmernden Himmel bläst. Ein paar Meter entfernt tragen Leute Boxen, Kabel und kleine Scheinwerfer zu einer freien Fläche auf der Wiese. Der Geruch von gegrilltem Fleisch liegt in der Luft.
„Martin nimmt seine Parties aber auch ernst. Einige Sachen ändern sich nie“, kommentiert Nina neben ihr und lacht.
Während Pia an ihrem Bier nippt, sieht sie in der Ferne, wie Paul hinter sich das Gartentor schließt.
Als er näher kommt, winkt er ihnen zu, sie winken zurück. Er deutet auf Martin, der auf einer Holzbank am Feuer sitzt und läuft zu ihm.
„Das wird ja langsam ein richtiges kleines Klassentreffen hier. Wusste gar nicht, dass Paul in der Stadt ist. Hat sich gut gehalten, findest du nicht?“, sagt sie grinsend zu Pia.
„Ist ein ganz netter Kerl. Aber immer noch eine Niete in Mario Kart.“
„Damals wart ihr echt unzertrennlich. Ich dachte immer, wenn die beiden nicht zusammenkommen, dann weiß ich's auch nicht. Was ist nur passiert.“
Damals, damals. Pia trinkt den letzten Schluck ihres Biers.
„Leben ist passiert. Er ging weg. Jens. Lizzy. Ich hol mal den Wein, willst du auch?“
Nina nickt. Pia läuft in einem Bogen um das Lagerfeuer zur Gartenlaube. Sie greift sich eine offene, dunkle Flasche vom Tisch und hält sie prüfend gegen die am Dach hängende Laterne. Dann schnappt sie sich zwei Plastikbecher und läuft zurück zu ihrem Platz.
Eine Weile sitzen sie still da, schauen in den schwarzen Nachthimmel und trinken gelegentlich von ihren Bechern. Überall im Garten haben sich kleine Menschengruppen gebildet, die sich angeregt unterhalten. Pia schaut zu Paul, der inzwischen alleine am Lagerfeuer sitzt und gedankenversunken in die Flammen starrt.
„Lizzy mag ihn. Er ist echt gut mit ihr.“
Nina sagt nichts.
„Ich geh mal kurz rüber.“
„Mach das mal“, sagt Nina lächelnd.
Pia setzt sich auf die Bank.
„Läuft was Spannendes auf Lagerfeuer-TV?“
Er lacht.
„An was denkst du?“
Paul mustert seine Bierflasche und lässt seinen Daumen ein paar Mal um die Öffnung kreisen.
„Ich hab an euch gedacht. An dich und Lizzy. Du hast sie, sie hat dich. Hat mich echt gefreut, euch so glücklich zusammen zu sehen. Hast dir da eine schöne, kleine Familie aufgebaut.“
„Wir habens schon gut irgendwie. Sie hat sich übrigens echt gefreut, dass du neulich da warst. Und ich auch. Aber diese Schwermut, Paul, die steht dir gar nicht.“
Bevor er etwas erwidern kann, hören sie einen langsam anschwellenden, tiefen Ton und schauen in die Dunkelheit. Ein paar Lichter gehen an und beleuchten eine freie Fläche auf der Wiese. Der tiefe Klangteppich einer Bassgitarre wird immer lauter. Die Menschengruppen beginnen sich aufzulösen und strömen auf die improvisierte Tanzfläche.
„Lass uns tanzen gehen“, sagt Paul und steht auf.
„Ich tanze doch gar nicht.“
„Ich auch nicht. Komm, wird lustig.“
Bei der Tanzfläche angekommen schiebt sich Paul durch die Menschen in die Mitte der Menge. Pia folgt widerwillig.
Die Scheinwerfer gehen aus und für einen kurzen Moment ist alles still, sie hört nur das leise Atmen der Schatten um sie herum. Dann kehrt das Licht zurück, das Schlagzeug setzt ein, die Gitarren werden lauter und der donnernde Bass durchfährt sie. Die Vibrationen in ihrer Brust nehmen ihr ein wenig den Atem. Sie erinnert sich dunkel, es ist ein Lied aus ihrer Jugend. Das Stroboskopgewitter der Scheinwerfer pulsiert im Sekundentakt. Aus. An. Sie sieht nichts. Sie sieht Paul lächeln. Sie sieht nichts und lächelt in die Dunkelheit. Sie spürt das weiche Gras unter ihren Füßen. Sie lässt los, fühlt sich frei und schwerelos. Sie tanzt. Der Rhythmus der menschlichen Diashow hypnotisiert sie und sie verliert jegliches Zeitgefühl. Die Musik scheint endlos, spielt weiter, immer weiter.
Sie stehen in der menschenleeren Stille und umarmen sich. Pia weiß nicht mehr, wann die Musik aufgehört hat und die Menschen gegangen sind. Sie drückt sich näher an ihn. Er riecht gut. Die Luft ist kalt, aber ihr ist warm. Sie fühlt sich wie das Schnurren einer Katze. Das sterbende Licht des Lagerfeuers flackert in der Dunkelheit.
„Scheiße, wie spät ist es?“, fragt sie und löst die Umarmung.
Paul schaut auf seine Uhr.
„Kurz nach zwei.“
„Meine Schwester wird mich umbringen. Ich muss los. Man sieht sich die Tage?“
„Klar.“
Als sie am Feuer vorbeiläuft, hört sie hinter sich Paul rufen.
„Du tanzt gut für jemanden, der gar nicht tanzt.“
Sie läuft weiter, ohne sich umzudrehen, und lächelt in die Nacht.
An einem Morgen in der nächsten Woche liest sie eine Nachricht auf ihrem Handy.
„Pizza, Wein, Film?“
„Yellow Tail!“, schreibt sie.
„Gut und günstig.“
Sie tippt eine Nachricht, zögert kurz und löscht sie wieder.
Sie schreibt etwas anderes und drückt auf Absenden.
„It‘s a date.“
Heute ist sie ein Heißluftballon. Auf dem Weg zur Arbeit ist jeder Schritt ein kleiner Sprung, der sie etwas abheben lässt. Die Blätter der Bäume entlang der Straße nicken im Wind zum Takt ihrer Schritte, sie ist die Dirigentin des Sommers. Das helle Blau des Himmels ist wie für sie frisch gestrichen. Nur für sie. Sie saugt den Duft des Morgens genüsslich in sich ein. In einer Bäckerei bestellt sie einen Cappuccino zum Mitnehmen. Mit extra Zucker. Sie bezahlt mit ihrem Lächeln, denn heute ist sie die Sonne.
Warme Abendluft strömt durch die offene Balkontür und vermischt sich mit dem Geruch von frischer Pizza. Die Reflexion des Fernsehbildes funkelt in zwei halbvollen Weingläsern auf dem Tisch. Pia nimmt sich die Fernbedienung, drückt auf Pause und dreht sich zu Paul.
„Warum bist du wirklich zurückgekommen?“
Er schaut sie an und sagt nichts.
Sie stützt sich mit den Händen auf die Couch und lehnt sich zu ihm vor.
Er legt seine Hände auf ihre Schultern und drückt sie vorsichtig zurück.
„Ich dachte ...“, sagt sie.
„Ich muss dir was sagen.“
Letzte Woche hätte er es der Familie beigebracht, erklärt er. Als Nächstes wollte er es seinen Freunden sagen. Ihr zuerst. Er wusste nur nicht wie.
Drei Monate, hört sie ihn noch sagen, danach hört sie nur noch Rauschen. Er redet, aber sie versteht nichts. Sie starrt ihn an und öffnet den Mund, aber es kommt nichts raus. Sie ist ein in Sand geschriebenes Wort, das von der Brandung weggespült wird.
Dann weicht das Rauschen der Stille. Sein Mund bewegt sich nicht mehr, aber er schaut sie weiterhin an. Sie schaut an ihm vorbei auf die eingerahmte Fotocollage an der Wand. Auf dem großen Foto in der Mitte lachen Pia, Nina, Martin und Paul in die Kamera. Damals, damals, sie ist die Nostalgie. Stille, Stille, sie ertrinkt in ihr. Sie dreht sich zum Fernseher, greift mit zitternder Hand nach der Fernbedienung und drückt auf Play.