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Besser als nichts
Katy fuhr, als es passierte, und klar traf sie keine Schuld – jedenfalls nicht unbedingt. Ihr Geschrei riss mich aus einem seichten Schlaf. Trotz der Flecken auf dem Polster war es mir gelungen, eine gemütliche Position auf dem Beifahrersitz zu finden. Nur mein Nacken war verspannt, das merkte ich, als der plötzliche Umschwung der Gefühle mein Herz rasen ließ und das Blut durch Bahnen und Gedanken zirkulierte. Mir wurde ein bisschen schlecht und es dauerte einige Augenblicke, bis ich mir vollends meiner eigenen Existenz bewusst war. Ich schnallte mich an. Es roch nach verbranntem Plastik und ich sah, wie bedrohlicher Qualm unter der Motorhaube hervorquoll. Der Motorblock stand in Flammen, worauf Katy erstaunlich gelassen reagierte, sie lenkte den hellgrauen Toyota rechts ran und ließ ihn ausrollen. Mit dem kleinen Feuerlöscher konnte ich die Flammen schnell ersticken, während unzählige Autos an uns vorbeidonnerten. Wir waren auf einem Seitenstreifen im Nirgendwo gestrandet, außer der Interstate war hier draußen nichts.
«Und jetzt?»
Die Autovermietung empfahl, den Wagen erst mal abschleppen zu lassen. Sie würden uns ein Ersatzfahrzeug organisieren, wohl schon übermorgen, spätestens aber zum Ende der Woche. Es war Montagabend, als das alles passierte.
Nachdem uns der Fahrer des Abschleppwagens beim einzigen Motel der Gegend abgesetzt hatte, mussten wir nun alles zu Fuß erledigen. Wir hatten Hunger und am Ortsanfang gab es einen McDonald's. Viel los war hier nicht; der Junge hinterm Counter wirkte benommen, als hätte ihm jemand ein Beruhigungsmittel gespritzt. In Zeitlupe kramte er Pappboxen und Becher zusammen und stapelte das ungesunde Zeug auf einem Plastiktablett. Hinter ihm piepten Maschinen, wurden Pommes ins blubbernde Fett geschmissen. Alles lustlos, alles Routine. Die einzige Variable waren die Besucher, waren wir.
An den Tischen saßen einsame Gestalten, die ins Nichts starrten, saßen Familien, die sich auf Durchreise befanden. Kinder zappelten auf den Stühlen herum, während die Eltern auf helle Handydisplays schauten, als würde dort eine bessere Zukunft auf sie warten. Eines der Blagen brüllte, heulte und zeterte, bis ihm eine genervte Mutter endlich einen Milchshake kaufte.
Katy und ich setzten uns ans Fenster, von wo aus wir die Interstate sehen konnten – und die glücklichen Fahrer, die mit siebzig Meilen die Stunde der Sonne entgegen fuhren.
«Guten Appetit», wünschte ich und biss in Fleisch, das wie durchnässtes Zeitungspapier aussah.
«Spinner.»
Wir waren seit drei Wochen unterwegs, inzwischen bestimmte feste Gewohnheiten unseren Tagesablauf. Am frühen Abend suchten wir ein günstiges Hotel zum Übernachten, bisher haben wir nur eine Nacht im Auto verbracht. Das war keine angenehme Nacht, mehr als einen seichten Schlaf ließen die durchgesessenen Sitzpolster einfach nicht zu. Wenn wir dann einen Platz zum Schlafen gefunden hatten, machten wir uns auf die Suche nach einem Supermarkt, um unser Abendessen zu kaufen. Oft reichten mir ein paar Chips und eine Banane. Manchmal gingen wir irgendwo essen, aßen in kleinen Bars fettige Burger und tranken Bier, bis wir betrunken ins Bett torkelten. Das waren die lustigen Nächte. An langweiligen Abenden fielen wir hundemüde auf die Matratze und wachten erst wieder auf, wenn im Nebenzimmer irgendwer abgestochen wurde oder sich Nutten mit ihren Freiern stritten. Und jetzt waren wir eben hier gelandet, in einem McDonald's, irgendwo am Rande des Nirgendwo. Ich konnte nicht begreifen, wie Menschen hier draußen leben konnten.
Schnell zog es uns zurück in unser Motelzimmer. Der Himmel sah noch immer nach Regen aus und wir beeilten uns, um nicht nass zu werden. Fünf Minuten später rannten wir und wurden trotzdem nass. Als wir ankamen, zuckten die Blitze durch die Wolken. Lange Fäden aus Wasser fielen vom Himmel und zerplatzten auf dem Boden. Das Grollen des Donners wurde lauter, das Unwetter näherte sich, die Tür fiel ins Schloss und alles verlor an Bedrohlichkeit. Ich legte mich erschöpft aufs Doppelbett.
«Du bist doch ganz nass», sagte Katy, als würde sie sich Sorgen um die gute Bettwäsche machen. Ich schaltete den Fernseher ein, er knisterte und flimmerte, ein Bild tauchte auf, dazu hysterischer Krach, denn es lief gerade Werbung. Jetzt ein guter Film und ein kühles Bier – ich wäre zufrieden.
«Ich geh mal duschen», sagte Katy und streifte sich die feuchten Jeans von den Beinen und verschwand hinter der Badezimmertür, die sie nur anlehnte. Diese Einladung würde ich annehmen, ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich zu ihr ins warme Nass springen würde. Ich sah die Wassertropfen, wie sie um die Wette flossen und zwei Körper, an denen der Duschvorhang klebte, wie er es schon an tausend anderen Körpern getan hatte.
Ich blieb schließlich liegen, weil der Film begann.
«Beeil dich, Schindlers Liste läuft», rief ich ins Bad. Katy vergrößerte den Türspalt und steckte ihren Kopf hindurch. Wassertropfen liefen ihr die Haut entlang, ihre Haare klebten an ihrem Hals wie an die Wand geworfene Spaghetti.
«Hast du was gesagt?»
«Hier, Schindlers Liste», sagte ich und deutete etwas dümmlich auf den Fernseher. Katy seufzte und nuschelte irgendwas, das ich nicht verstand. Sie verschwand wieder im Bad, dann kreischte der Haartrockner. Ich lag noch eine Weile auf dem Bett und tat nichts, bis ich pinkeln musste. Katy stand am Waschbecken und zupfte sich unsichtbare Härchen aus dem Gesicht.
«Ich muss pinkeln», offenbarte ich mich. Manchmal ging mir die Enge der Hotelzimmer auf die Nerven, dann wollte ich einfach mal für mich sein und meine Ruhe haben. Der Nachteil am Zusammensein ist eben, nie alleine zu sein.
«Mach ruhig, stört mich nicht», behauptete sie, während sie konzentriert im Spiegel ihr Gesicht studierte. «Aber bitte im Sitzen.»
Wir saßen zusammen auf der weichen Matratze des Betts, als mir das Bier einfiel. Ich stand auf, öffnete den Kühlschrank, der nicht mehr als ein paar Dosen aufnehmen konnte. Im Inneren blieb es dunkel, die kleine Birne leuchtete nicht. Ich nahm mir eine Dose, hob die Lasche an und knackte den Verschluss, der klackend nachgab.
«Pisswarm», sagte ich, als ich an ihr nippte. Ich nahm einen weiteren Schluck, um ganz sicher zu gehen. Die Dosen hatten zwei Stunden im Kühlschrank gestanden und doch lief mir warme Plörre über die Zunge in den Magen. Ich stellte die Dose auf den Nachttisch. Katy schaute den Film. Eine Minute verstrich. Auf dem Nachttisch stand ein Radiowecker, daneben lagen einige Münzen. Quarter und Nickel. Ich öffnete die Schublade des Nachttisches und schaute hinein. Da lagen eine rote Gideon-Bibel und eine tote Fliege. Katy beachtete mich gar nicht, sie wirkte müde, nicht nur heute, nicht nur in diesem Augenblick, sondern die ganze Woche schon. Sie hatte zugegeben, dass sie allmählich das Heimweh plagte. Neulich, als wir gemeinsam in irgendeinem Motelbett lagen, hatte sie mich gefragt, wie lange ich noch «auf Achse» sein wollte. Ich hatte keine Antwort gewusst, denn es gab sie nicht. Seit wann hatten wir einen Plan, seit wann wollte sie es so genau wissen? Wir wussten zu Beginn unserer Reise nicht einmal, wohin es uns verschlagen würde.
Die Zahlen des Radioweckers sprangen eine Minute weiter. Ich schob die Schublade zurück in ihre Ausgangsposition, stand auf und verkündete meinen Plan: «Ich geh noch mal los.»
«Jetzt noch?»
«Willst du etwa warmes Bier trinken?» Ich glitt mit meinen Füßen in die noch feuchten Latschen.
«Du, eigentlich will ich heute gar kein Bier mehr trinken.»
Draußen hatte der Regen soweit nachgelassen, dass er kaum mehr auffiel. Eine Frau stand auf dem Parkplatz vor dem Motel und rauchte, sie bemerkte mich und lächelte, dann kam sie näher. Sofort fielen mir ihre Daumen auf, sie sahen aus wie große Fußzehen. Sie wirkten an ihren Händen wie zwei Fremdkörper: irgendwie fehl am Platz. Vielleicht hatte man nach einem schrecklichen Unfall ihre Zehen amputiert und an die Hände genäht. Immerhin besser als nichts.
«Hallo, junger Mann.»
Konnte sie ihre Daumen im Alltag voll einsetzen?
«Hallo», sagte ich. Wie sahen erst ihre Füße aus?
«Ihre erste Nacht hier?»
«Ja», sagte ich. Unsere erste und einzige.
«Ich bin Rita», sagte die Frau und wir unterhielten uns ein bisschen. Ich verabscheue Small Talk, ich weiß nie, was ich Fremden erzählen soll.
«Haben Sie vielleicht zwei Dosen Bier für uns?»
Rita antwortete etwas, das ich nicht verstand. Sie drehte sich um und ich nahm an, dass ich ihr folgen sollte. Einige Schritte später standen wir in ihrem düsteren Zimmer, das sich neben unserem befand. Rita wohnte offensichtlich schon länger hier. Eine furchtbare Unordnung erstreckte sich in den Raum, es müffelte nach Bananenschalen, die hier irgendwo vergammelten. Überall lagen Bücher verstreut, vergilbte Zeitschriften, Flaschen und Pullover, Hosen und Pappkartons. Im Hintergrund dudelte ein bekannter Song von Elvis Presley. Rita öffnete den kleinen Kühlschrank, schaute erst hinein und dann mich an.
«Kein Bier mehr, nur noch eine Dose 7UP.»
«Schade», sagte ich und wollte schnell weiter, als sie mich an der Schulter packte. Ich drehte mich zu ihr um, schaute ihr ins sonnengebräunte Gesicht und sah in ihre glanzlosen Augäpfel.
«Hab Pornos da», sagte Rita und nahm von einem Stapel eine Videokassette und hielt sie mir hin.
Love me tender.
«Ich muss jetzt wirklich gehen, aber vielen Dank.»
Love me sweet.
«Ich hab auch DVDs.»
Never let me go.
«Meine Frau liegt nebenan und wir wollten –»
«Sie kann gerne mitgucken», schlug Rita vor. Ich schaute auf ihre Hände, auf diesen grotesken Daumen, der mit den anderen Fingern die schwarze Kassette umklammerte.
«Einen schönen Abend noch», wünschte ich und verschwand. Ich ging wieder in Richtung Parkplatz, blieb kurz stehen und vergewisserte mich, dass mir die Fremde nicht folgte. Doch da war niemand.
Ein beißender Chlorgeruch waberte durch die feuchte Luft und führte mich hinter das L-förmige Motelgebäude, wo sich ein Swimmingpool befand. An der Wand des Gebäudes stand ein Eiswürfel-Automat, daneben hielt ein Spender Pappbecher bereit, in denen man die gefrorenen Wasserklötzchen ins Zimmer tragen konnte. Besser als nichts, also schob ich zwei Quarter hinein. Die Maschine schluckte mein Geld, dann passierte – nichts. Der Automat schwieg. Ich rüttelte an dem dunklen Kasten, er rasselte und klimperte, aber Eiswürfel spuckte er keine aus.
An der Rezeption döste ein Mann, dem ein Schneidezahn fehlte. Er gähnte und sagte mir dann, ich hätte einfach Pech gehabt.
«Und mein Geld im Automat?»
«Ist nicht unser Automat, wir vermieten nur den Stellplatz.»
«Die Eiswürfel sollten umsonst sein», sagte ich, aber der Kerl schaute so intensiv auf den Boden, als wäre dort eine nackte Frau abgebildet. Aber da krabbelte nur eine Kakerlake entlang, sie hatte es nicht eilig. Hier verschwendete ich meine Zeit, ich wollte gehen, als mir noch was einfiel: «Reparieren Sie wenigstens unseren Kühlschrank.»
«Vor Donnerstag ist das unmöglich», sagte er und sank wieder in sich zusammen.
Ich saß wieder auf dem Bett, saß auf der durchgelegenen Matratze. Katy schaute noch immer Schindlers Liste.
«Das ist doch bescheuert», sagte ich und stand wieder auf, um das Zimmer zu verlassen.
«Jetzt leg dich doch einfach hin», schlug Katy vor und schaute mich müde an. Unsere Reise war längst kein Abenteuer mehr wie zu Beginn; die Lust war verflogen, die Leidenschaft und der Hunger auf neue Eindrücke. Wir waren satt.
«Bin gleich wieder da.»
In meinen Flipflops ging die Straße entlang. Irgendwo hier musste ein Supermarkt sein. Die Kleinstadt, in der wir gestrandet waren, bestand aus nicht viel mehr als einer langen Hauptstraße, wenigen Geschäften und einer Bar, in der sich die wenigen Einwohner betranken. Hier kannte jeder jeden und ich war der Fremde, der im Regen die Straße entlanglief. Zehn Minuten dauerte es noch, bis ich endlich den Ort der Verheißung fand. Durchnässt betrat ich den Supermarkt und trat in ein kühles Licht, das leise surrte. Unaufdringliche Musik, die leise von der Decke dudelte, empfing mich. Ein paar Jugendliche alberten zwischen den Chipstüten herum und kicherten, vielleicht lachten sie mich aus. Ich griff das billigste Dosenbier aus dem Kühlregal und schleppte das Sixpack zur Kasse.
«Guten Abend», sagte der dürre Kassierer knapp. An seinem Kinn kräuselten sich zaghaft einige Barthaare, seine Haut war bleich, seine Lippen spröde. Er scannte den Barcode meiner Dosen und schaute kurz auf und überprüfte, ob ich auch alt genug war, um legal Bier zu kaufen. Es war der Blick, mit dem man einen Fremden mustert: latent interessiert, dann aber doch überwiegend lethargisch. Schließlich zurück zur Routine: «Vierzehn Dollar neunzehn.»
Ich griff an meine Gesäßtasche, fühlte nichts und wurde wütend, wirklich verdammt wütend.
Gerade lief der Abspann. Auf dem Nachttisch stand noch immer der Radiowecker, lagen noch immer die paar Münzen – und da lag auch mein Portemonnaie.
«Da bist du ja wieder», begrüßte mich Katy. Sie stand vom Bett auf und schlang ihre Arme um meinen Hals. «Die Frau von nebenan war gerade hier, sie hat uns eine Dose 7UP vorbeigebracht. Und diese DVD.»
«Sehr freundlich», sagte ich. Auf der DVD-Hülle waren schlecht fotografierte Menschen abgebildet, nackte Menschen und einfach viel zu viele Geschlechtsteile.
«Ich war so froh, als die wieder weg war. Hast du ihre Daumen gesehen? Furchtbar», sagte Katy.
«Die lebt da ganz alleine in ihrem Durcheinander.»
«So will ich niemals enden.»
«Wirst du nicht», sagte ich und küsste Katy; sie nahm mir die DVD aus der Hand und warf sie auf den fleckigen Teppich. Wir würden diese Art der Stimulans nicht brauchen. Wir ließen uns auf das Bett fallen, die Sprungfedern gaben viel zu weit nach, sie quietschten und wir lachten. Der Vorteil am Zusammensein ist eben, niemals allein zu sein. Nebenan saß die Fremde mit ihren Daumen, sie würde einsam bis in alle Ewigkeit in ihrer düsteren Höhle auf einem Stapel Pullovern hocken. Und wir würden bald weiterfahren, nur weit weg von hier, vielleicht ja doch nach Hause.
Zuerst klopften sie an Ritas Tür. Sie öffnete, eine kurze Unterhaltung folgte. Dumpf drangen die Stimmen durch die Wand. Dann war kurz Ruhe, ehe es heftig klopfte, diesmal an unserer Tür. Ich stand auf, zögerte einen Moment, es klopfte wieder, ich zog mir eine Hose an und öffnete. Vor mir standen zwei Polizisten. Aus ihren Funkgeräten plärrten Codes und Anweisungen. Eine Anweisung war ich.
Die beiden Beamten hatten den Abend damit verbracht, zunächst zum Supermarkt zu fahren, um Zeugenaussagen aufzunehmen. Anschließend waren sie direkt zum Motel gefahren, um von Tür zu Tür nach dem Täter zu fanden, der ein Fremder war, ein Tourist auf Durchreise. Also jemand, der hier nichts zu suchen hatte und bald wieder verschwinden würde. Sie durften keine Zeit verlieren.
Bereits bei der zweiten Tür hatten sie Glück.
«Ist er das?», fragte der Polizist. Auch der Rezeptionist mit der Zahnlücke stand da und rauchte. Ein Grinsen umspielte dezent seine Lippen. Rita stand in ihrer Tür und schaute neugierig zu mir herüber. Und Elvis sang.
Dann sah ich den Supermarktkassierer mit seinem lächerlichen Kinnbärtchen, seiner blassen Haut und den aufgeplatzten Lippen. Er sah beschissen aus, wirklich beschissen. Er hielt sich einen Beutel Eiswürfel an die Stirn, auf seinem weißen Shirt trockneten die Blutflecken. Ich schaute in ein scheußliches Panoptikum, dessen Insassen mich anstarrten.
Der Kassierer nickte entschieden. «Das ist er.»
Und klar traf mich jede Schuld. Neben unserem Bett stand das billigste Bier, das ich finden konnte. Noch war meine Beute kühl.
«Sie haben das Recht zu schweigen –»
Und ich schwieg.