Was ist neu

Besondere Menschen

Mitglied
Beitritt
11.02.2002
Beiträge
39

Besondere Menschen

Professor Doktor Gerald Fedokat unterrichtet Psychologie an der Universität Brizzdorf. Er ist zweiundfünfzig Jahre alt und hat eine besondere Gabe. Er erkennt den Charakter eines Menschen an der Mundpartie. Für ihn scheint es, als würden die Menschen ihre Seele wie ein offenes Buch darlegen, wenn sie nur ihre Münder zeigten.
Natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis Personen wie Dr. Fedokat von der Öffentlichkeit entdeckt und vermarktet werden. So erfährt der Doktor, dass er um einen Auftritt in der großen Samstagabend-Show „Besondere Menschen“ gebeten wird. Am Samstag, den 27. März 1992 soll es soweit sein. Der Doktor ist keineswegs ein schüchterner Mensch und seine Zusage erfolgt noch am selben Tag.

* * *
„Meine Damen und Herren, kommen wir nun zu unserem heutigen Ehrengast, einen Applaus für Professor Doktor Gerald Fedokat!“ Der Moderator der Show „Besondere Menschen“, Arnold Distel, weist mit seiner rechten Hand auf eine Tür, die sich auch im selben Moment öffnet. Es ist der Doktor, der unter großem Applaus seinen Platz einnimmt. Herr Distel begrüßt ihn mit einem Handschlag, das wirkt ‚kumpelhafter’ hatte ihm ein Berater gesagt.
„Herr Dr. Fedokat, wie wir alle wissen, haben sie die Gabe, Charaktereigenschaften eines Menschen an seinem Mund zu erkennen. Dr. Fedokat , eine ganz banale Frage: Wie geht das?“
„Ja, das ist eine kurze Frage mit einer sehr umfangreichen Antwort, ich schreibe gerade meine zweite Doktorarbeit darüber. Ich will versuchen, es grob zu umreißen.
Also, jeder Mund ist ein Unikat. Kleine Fältchen geben Auskunft über Lebensweisen eines Menschen: lacht er viel, lacht er wenig. Lippen sagen viel über Romantiker oder eher gröbere Menschen aus. Narben können nach kurzer Untersuchung Informationen über Lebensumstände geben. Ich weiß, dass es sich mehr nach Spekulationen anhört, aber das ganze ist ein klein wenig komplexer, so dass ich nicht imstande bin, es in einfachen Worten auszudrücken.“
„Sie sprachen das Wort ‚Spekulationen’ aus, in der jüngsten Ausgabe des Magazins „Homo Sapiens“ steht in dem Artikel über sie, dass ihre Trefferquote 93% beträgt, war das schon immer so oder haben sie ihre Gabe, wie soll ich sagen, trainiert?“
„Mit der Zeit konnte ich natürlich Feinheiten schneller erkennen und Urteile schneller fällen, das ist ganz klar. Man bekommt buchstäblich ein Auge dafür. Sagen wir, ich habe meine Fähigkeit perfektioniert.“
„Eine Frage, lieber Doktor, die uns allen unter den Nägeln brennt: Gibt es den perfekten Mund?“
„Für mich ist das zweifelsfrei der Mund meiner Frau, aber den Mund überhaupt, den gibt es nicht, nein.“
„Was halten sie von plastischer Chirurgie, derzeit auf dem Vormarsch, kann sich dadurch ihr Urteil verfälschen?“
„Nein, im Gegenteil, es lässt sich sagen, dass es ein Mensch ist, der mit sich unzufrieden ist und der sehr viel Wert auf sein Äußeres legt.“
„Herr Dr. Fedokat, wir werden ihnen jetzt drei Beispiele zeigen und sie werden versuchen, ihr Urteil abzugeben, einverstanden?“
„Nur zu.“ Sagte der Professor und zog mit beiden Händen sein Jackett zurecht, als wolle er sagen ‚Los geht’s’.
„Hier das erste Beispiel.“
Der Professor runzelt die Stirn, erkennt nach kurzer Überlegung aber eindeutige Zeichen, die darauf hinwiesen, dass es sich bei dieser Person um eine liebenswürdige, warmherzige Person handelt, eine Frau. Des weiteren musste diese Frau in ihrer Kindheit oft verzichten und Menschen sind für sie mehr wert als Geld. Das alles gab der Professor zum Besten.
Der Moderator lässt einen Steckbrief der Person an den riesigen Bildschirm über ihnen projizieren, aus dem hervorgeht, dass es sich um die 36jährige Vera Bonsinn handelt, die Leiterin eines Waisenhauses ist und von den dort wohnenden Kindern als ‚lieb’ bezeichnet wird. Tosender Applaus für den Professor.
„Beispiel Nummer zwei.“ Kündigt Arnold Distel an.
Diesmal kommt das Urteil noch schneller. Wieder eine Frau, aber diesmal eher der emanzipierte Karrieretyp. Vermutlich ein juristischer Beruf. Geld spielt eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Ehrgeizig und vielleicht auch ein wenig egoistisch.
Wieder wird der Steckbrief gezeigt:
Eva Vorderev, 42 Jahre, leitet ein Hotel, Abitur mit 1,2, fährt einen Mercedes und liebt das süße Luxusleben.
„Bis auf den juristischen Beruf alles richtig!“ verkündet Arnie und zeigt das dritte Beispiel.
Schlagartig verfinstert sich die Miene des Professors. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn und Adern an Hals und Kopf nehmen bedrohliche Ausmaße an. Mit zitternden Händen ergreift er sein Wasserglas, das jedem Besucher zusteht und trinkt es in einem Zug aus.
„Ja, he he, das ist schwer…“ Er wird zunehmend verlegener. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Arnold Distel ist die ganze Situation unheimlich. Er beobachtet den Professor, wie er immer wieder seine Brille den verschwitzten Nasenrücken hochschiebt. Der selbe selbstsichere Mann, der eben charismatisch und voller Rückgrat problemlos die Münder lesen konnte, scheint jetzt irgendwie bedrängt.
„Meine Damen und Herren wir sehen uns wieder nach einer kleinen Werbepause und dann wird uns Herr Dr. Fedokat sein Urteil über diesen geheimnisvollen Mund verraten.“
Der klägliche versuch Arnold Distels dem Professor ein wenig Zeit zu verschaffen.
„...und Finger weg von der Fernbedienung.“ Ein Standart-Spruch , den Arnold Distel schon seit Jahr und Tag bringt. Dabei formt er seine rechte Hand zu einer Pistole, um seiner ‚Forderung’ Nachdruck zu verleihen. Ein sehr humorvoller Akt, der besonders bei der Zielgruppe der 37-65jährigen für einige Sympathien sorgt.

* * *

Mit beiden Händen schaufelte Professor Doktor Fedokat sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Was war das eben bloß? Die Tür zur Toilette öffnet sich. Es ist Arnold Distel.
„Was war denn da eben los? Ist ihnen klar, dass vierzehn Millionen Menschen diese Show gucken?“
„Sie haben ja keine Ahnung...“
„Ne, hab ich auch nicht, darum frage ich ja!“
„Dieser Mann, dem dieser Mund gehört, der...der-“
„Ja?“
„- der ist gefährlich!“
„Wie? Gefährlich?“
„Dieser Mann ist das Böse in Person! Ich kann es ganz klar erkennen. Kein Zweifel...“
„Wissen sie, was dieser Mann ist?! Er ist Ein Schüler, ein ziemlich intelligenter sogar. Freunde beschreiben ihn als spontan und witzig. Er ist neunzehn Jahre alt! Na ja, ihre Fehlquote beträgt ja auch 7%...“
„Ich bin mir sicher!“ protestiert der Professor.
„So mein lieber, sie trinken jetzt einen Cognac, lassen sich in der Maske neu bepudern und dann machen wir weiter mit der Show. Sie erzählen den Leuten einfach das, was ich ihnen eben über diesen Mann erzählt habe, das ist besser für meine und für ihre Karriere. Ansonsten können sie ihre Gage vergessen! Ich hoffe sie haben mich verstanden!“
Leicht beleidigt folgt der Professor Arnold und lässt sich einen Cognac geben, den er in einem Zug leert. In der Maske wird sein Gesicht abgetrocknet und neuer Puder aufgelegt. Derartig aufgefrischt geht es zurück auf die Bühne. Kurz bevor die Werbeunterbrechung vorüber ist, legt Arnold Distel wieder sein falsches Lachen auf.
Die Anfangsmusik von „Besondere Menschen“ erscheint, ein Zeichen, dass die Werbeunterbrechung beendet ist.
„Hier sind wir wieder bei „Besondere Menschen“, bei mir sitzt Professor Doktor Gerald Fedokat, der uns nun sagen wird, was es mit diesem Mund auf sich hat. Herr Professor?“
„Ja, äh, ein sehr junger Mann, wahrscheinlich noch Schüler, humorvoller Typ, spontan und sehr sympathisch.“ Dem Professor tut es in der Seele weh zu lügen. Alles weist darauf hin, dass dieser junge Mann falsch, hinterhältig und böse ist.
„Richtig!“ schreit Arnold Distel und kredenzt dem Publikum den Steckbrief.

* * *

„Falsch!“ Mit einer gewissen Überheblichkeit habe ich den Äußerungen des Professors meine Aufmerksamkeit gewidmet. Es ist natürlich alles falsch. Ich bin weder humorvoll noch spontan oder sympathisch. Völliger Quatsch. Nach außen wirke ich vielleicht so, aber das ist sowieso alles Fassade, nicht von großer Bedeutung.
Seltsam war es, als mich diese eigenartigen Leute vom Fernsehen um eine Aufnahme von mir und eine Detailaufnahme meines Mundes baten. Ich wollte sie zur Hölle schicken, änderte meine Meinung aber, als man mir 30 DM versprach für „eine Viertelstunde meiner Zeit“. Das war ein Stundenlohn von 120 Mark. Dafür müssen manche Menschen 10-12 Stunden arbeiten. Ich machte also mit. Später, nachdem ich noch Sachen über mich erzählen musste, teilte man mir das Ausstrahlungsdatum mit, drückte mir das Geld in die Hand und schickte mich weg.
Nun sitze ich vor dem Fernseher und lache mich über diese Idioten kaputt. Wenn die wüssten... in meinem Kopf ist nämlich buchstäblich die Hölle los. Nichts hat Wert für mich.
Wenn man gelernt hat, dass man Menschenleben eben doch kaufen kann, verliert alles seinen Wert. Geld ist schließlich nur Papier. Irgendwie hasse ich Menschen. Am allerbesten weiß das natürlich das kleine blonde Mädchen, siebzehn muss sie sein, das sich gerade gefesselterweise in der Ecke meiner Wohnung windet. Ihr Mund ist mit Panzertape versiegelt, sie hat Tränen in den Augen...

 

Peng,weirdgeist, diese gesellschaftskritik sitzt! für geld ist eben jede meinung zu verbiegen - ganz nach bedarf. und dass hinter den kulissen des fernsehens gemauschelt und gemogelt wird haben wir längst vermutet. danke für die bestätigung. mit dem schluss hast du noch eins oben drauf gegeben. kurz und bündig. so mag ich es. beste grüße. ernst

 

Servus Weirdgeist!

Eine gute Geschichte, flüssig und flott geschrieben. Sie ist vielfältig und ich weiß noch nicht genau, wo der Kern der Aussage in dem üppigen Fruchtfleisch sitzt.

Sie zeigt vor allem die Käuflichkeit von Menschen, die Verlogenheit der Medien. Die möglichen Begabungen von Einzelpersonen, die dann letztlich wieder gesteuert werden. Wie diese vermarktet werden und nur so lange geduldet werden, solange sie in ein Schema passen. Sie zeigt aber auch das Gut und Böse, das Dargestellte nach Außen und die wahre Person im Inneren die oft sehr gegensätzlich sind.

Ein große Auswahl von "Sein" und "Schein" könnte der eigentliche Kern sein. Hat sich gut gelesen. Was mich vielleicht noch interessiert hätte ist, was dieser "Böse" mit dem Strahlerimage mit dem Mädchen vorhat. Denn einfach ein Gewalttätiger scheint er so nicht zu sein, er erweckt mehr den Eindruck des Subtilen. Das ist das einzige was mir nicht ganz stimmig schien.

Lieben Gruß schnee.eule

 

Erstmal danke für die Kritiken, hat mich gefreut.
@schnee.eule:

Was mich vielleicht noch interessiert hätte ist, was dieser "Böse" mit dem Strahlerimage mit dem Mädchen vorhat.

Na, was hat er mit ihr wohl vor, wo es sich hier doch um 'Don Böse' handelt?

@Kristin:
Ich finde, dass Geld, in diesem Falle das Ausbleiben des Geldes, für manche Menschen Druck genug ist. Offensichtlich auch für den Professor. Außerdem ist Arnold Distel schon länger im Fernsehen tätig (ungefähr wie Thomas Gott-schalk), da hat man doch Respekt! Na ja, vielleicht unklar rübergebracht.
Die Tatsache, dass da dieser Böse ist, soll nur zeigen, dass der Professor zwar recht hatte, mit der Wahrheit aber hinterm Berg geblieben ist. Dass er ein Mädchen bei sich hat (deren junges Leben hier mit Sicherheit ein grausames Ende finden wird), soll seine Bösartigkeit zum Ausdruck bringen, auf Details und Tötungsszenen habe ich diesmal verzichtet.
Vielleicht nicht richtig, vielleicht doch, wer weiß das schon...?

Vielen Dank an alle
Weirdgeist

 

Tja, da ist leider die Phantasie des Lesers gefragt, wie beim Fernsehen. In Zukunft werde ich daran denken.
Ciao Weirdgeist

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom