Beseitigung
Hastig schloss Rita die Tür auf. Sie blickte noch einmal zurück in den Garten, über dem sich die Dämmerung senkte wie ein graues Tuch. Dunkle Wolkenfetzen stoben am Himmel vorbei. der stürmische Herbstwind spritzte eiskalte Tropfen in ihr Gesicht und wirbelte die letzten Blätter auf dem Gehweg vor dem Haus auf. Rasch zog sie die Tür hinter sich zu und hinderte den frostigen Novemberwind daran, ihr in die Wärme des Hauses zu folgen.
Rita zitterte, als sie die Regenjacke auszog und der nasse Stoff die nackte Haut ihres Oberarms berührte. An ihren Händen klebte noch Schlamm von den Gummistiefeln und der Schaufel, die sie im Schuppen mühsam von Erdklumpen befreit hatte.
Sie ging ins Badezimmer und schrubbte ihre Hände bis sie rot wurden. Im Schlafzimmer wechselte sie Hose und Pullover, klaubte die getragenen Kleidungsstücke zusammen und warf sie in die Waschmaschine. Einen Moment lang starrte sie durch die milchige Scheibe der Trommel, die sich zögernd zu drehen begann. Nur mühsam konnte sie sich vom Anblick der weißschaumigen Strudel abwenden.
In der Küche stellte sie den Wasserkocher an. Während Rita auf das Heißwerden des Wassers wartete, räumte sie das Weinglas, das noch in der Spüle stand, in die Geschirrspülmaschine und drückte den Startknopf.
Der Aschenbecher auf dem Küchentisch verbreitete den muffigen Geruch kalten Rauchs. Sie leerte die Zigarettenstummel in den Abfalleimer, spülte den Aschenbecher aus und verstaute ihn im obersten Regal der Vitrine hinter den Vasen.
Noch einmal überwand sie sich, das Haus zu verlassen, um die Abfalltüte in die Mülltonne zu werfen. Morgen früh würde der Müllwagen kommen. Im Flur fiel ihr Blick auf Erdkrümel, die undeutlich den Abdruck eines Schuhs formten und störend aus den hellen Wollfasern des Teppichs hervorstachen. Rita holte den Staubsauger aus der Abstellkammer und saugte die Krümel weg. Dann fuhr sie mit dem Staubsauger noch durch Küche und Wohnzimmer, nahm den Staubsaugerbeutel heraus und verstaute ihn in der Abfalltüte.
Als Rita den Abfall in die Mülltonne vor dem Haus warf, blickte sie die Straße hinunter. Der Asphalt glänzte wie schwarzes Eis, und auf dem kleinen Beet vor ihrem Haus blieb der Schnee allmählich auf den letzten Blättern der Rosensträucher liegen. Verloren leuchteten die Fenster des fernen Nachbarhauses durch die Dunkelheit. Irgendwo rauschte ein Auto durch die Nacht.
Sie zog sich aus der schneekalten Dunkelheit zurück ins Haus, holte einen Teebeutel und eine Tasse aus dem Küchenschrank und goss das Wasser auf. Im Wohnzimmer glomm noch Feuer im Kamin. Rita warf ein paar Holzscheite nach und kuschelte sich, die Hände an der Tasse wärmend, in den Sessel. Während sie vorsichtig an ihrer dampfenden Tasse nippte, verfolgte sie, wie die Holzscheite allmählich Feuer fingen, knackend und knisternd von Feuerzungen angeleckt wurden und schließlich loderten wie kleine gebändigte Blitze.
Vor dem Kamin lag ein Stück Papier. Sie hob es auf. Eine Quittung aus einem Baumarkt, den sie nicht kannte. Sie warf den Zettel in die Flammen und beobachtete, wie er zu grauer Asche zerfiel.
Die Nacht drang durch die Fensterfront, die zum Garten führte. Nasse Schneeflocken warfen sich an die Scheiben und perlten schmelzend ab wie kleine glitzernde Tränen. Rita stand auf und zog den Vorhang zu. Unruhig ging sie wieder in die Küche. Dort hatte sich nichts verändert. Was hätte sich auch verändern sollen? Sie war allein im Haus - wie in all den Wochen, seitdem sie sich von Martin getrennt hatte. Fröstelnd nahm sie wieder ihren Platz vor dem Kamin ein.
Auf dem Kaminsims stand noch das alte Foto von Martin und ihr, das sie als letzte Erinnerung noch geduldet hatte. Martins Augen strahlten ihr entgegen, blau schimmernd, lustig funkelnd, junge offene Augen, denen man nicht ansah, zu was der Besitzer dieser Augen in späteren Jahren fähig gewesen war. Nur der herablassend heruntergezogene Mundwinkel hätte eine frühe Warnung sein können.
Rita nahm das Bild vom Kamin und wunderte sich über die Ruhe, mit der sie es betrachten konnte. Sie überlegte, wo sie es am besten verstauen sollte und entschied sich für die Wäschekommode, die im Keller stand und ein Sammelsurium aller Dinge enthielt, die sie als nutzlos aussortiert und dorthin verbannt hatte.
Als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, fiel ihr Blick auf das Sofa. Sie stutzte. Von dem Schwarz des Lederbezugs stach etwas Winziges, gelb Schimmerndes ab. Sie trat näher und betrachtete das Härchen, das sich dort niedergelassen hatte, als beanspruche es diese Stelle immer und ewig für sich, so selbstverständlich und gewohnt. Mit spitzen Fingern hob sie es auf, schnippte es jedoch nicht einfach auf den Teppich, sondern zog den Vorhang auf, öffnete die Terrassentür einen Spalt breit und ließ das Härchen mit dem Wind in das Nichts der Nacht fortziehen.
Für einen Augenblick meinte sie, eine Bewegung bei den Büschen am Gartenzaun zu sehen. Aber wer sollte dort sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie atmete tief durch und sah noch einmal genauer hin. Nein, sie musste sich getäuscht haben. Dort draußen rührte sich nichts außer den zitternden Schatten der Zweige im Licht der Straßenlaterne.
Nachdem sie die Terrassentür geschlossen, den Vorhang zugezogen und sich wieder gesetzt hatte, fühlte sie sich sicher. Kein Mensch war heute in die Nähe ihres Hauses gekommen. Außer Martin, mit dem sie sich auf sein Drängen nach der Arbeit getroffen und ihn mit nach Hause genommen hatte. Niemand wusste, dass er heute Nachmittag auf diesem Sofa gesessen und sie mit Erzählungen über seine neue Freundin gelangweilt hatte. Niemand wusste, dass er ihr gedroht hatte, das Haus – sein Haus! - zu fordern, wenn sie sich von ihm scheiden ließ. Niemand wusste, dass der Wein, den sie ihn vorgesetzt und den er hastig zwischen Zigarettenzügen in sich hineingekippt hatte, einen merkwürdig bitteren Beigeschmack gehabt hatte. Und niemand würde Martin in einem langsam zufrierenden Erdloch am Ende des Waldes vermuten.
Alle Spuren waren beseitigt.