Beschleunigung
„Glaubst du wir schaffen es?“ ängstlich schaut mich Sara mit weit aufgerissenen Augen an. Ich überlege, ob ich ihr Mut machen soll, oder bei der Wahrheit bleiben soll. Aber da ich weiß, dass Sara eine robuste Persönlichkeit besitzt, sage ich „Nein“.
Wir treiben schon seit Stunden auf dem offenen Meer, wir befinden uns mitten im pazifischen Ozean, an ein Stück Treibholz geklammert. Unter uns bodenlose Tiefe. Ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird. Entweder ertrinken oder verdursten. Ich habe beschlossen, mich für das Ertrinken zu entscheiden. Das setzt voraus, dass ich rechtzeitig unsere Rettungsinsel – das Stück Treibholz – verlasse, bis zur Erschöpfung herumpaddle und auf ein rasches Ende warte.
„Wie konnten sie das bloß tun?“ fragt Sara tonlos neben mir. Damit meint sie, dass wir von Bord gestoßen worden sind. Ich antworte nicht, sondern frage mich, was unsere – auf ewig verdammten - Ehepartner wohl der Polizei erzählen werden. Wir sind alle vier erfahrene Segler, kein Mensch wird ihnen glauben, dass sie – selbst wenn wir von Bord gefallen wären – kein Rückholmanöver geschafft hätten. Kollektiver Selbstmord? Sehr unglaubwürdig. Ein Sturm? Seit Tagen herrscht Badewannen-Wetter. Na, jedenfalls ist das für Sara und mich jetzt unerheblich.
Ich habe nichts davon gemerkt, dass meine von mir vergötterte Gattin nach meinem Leben trachtet. Sara dachte offensichtlich dasselbe von ihrem Ehemann. Wahrscheinlich sind wir beide naiv. Natürlich, bei näherer Betrachtungsweise bekommt das Ganze doch etwas Sinn. Ein Verhältnis war sicher im Spiel. Geldgier auch. Aber wieso ist offenbar Mord eine Lösung und Scheidung nicht? Und wenn doch ein Boot zu unserer Rettung vorbeikommen würde, was dann? Die zwei sind wirklich volles Risiko gefahren. Ein ausgefeiltes Komplott war es jedenfalls nicht.
Plötzlich schreit Sara neben mir auf „Ein Hai!“ und tatsächlich sehe ich eine Flosse über die spiegelblanke Wasseroberfläche ziehen. Mein Herzschlag setzt für Sekunden aus, aber dann erkenne ich an der Form der Flosse, dass es sich um einen Mondfisch, einen Mola Mola, handeln muss. Es ist ein Irrglaube, dass ein Hai so nahe an der Oberfläche schwimmt, dass seine Flosse sichtbar ist. Und das sage ich Sara auch, die bis unter die Haarwurzeln erblasst ist. Sie zittert, glaubt mir aber und muss dann erbrechen. Wenn sie so weitermacht, wird sie an Flüssigkeitsmangel vor mir sterben. Dieser Gedanke stimmt mich nicht gerade fröhlich, also verdränge ich ihn. Ich beobachte den Mondfisch, der jetzt neugierig um uns seine Runden dreht. Was hätte ich für ein solches Erlebnis in einer anderen Situation gegeben! Ich tauche meinen Kopf unter Wasser, öffne die Augen und sehe ihm zu, bis meine Lungen brennen. Schließlich verschwindet der majestätische Fisch elegant in der Tiefe.
An der Oberfläche ist das Wasser warm, also ist mit Erfrieren auch nichts. Das wäre mir eigentlich am liebsten gewesen. Extrawünsche! Ich lache trocken auf und Sara schaut mich erstaunt an, aber sie schweigt.
Schade, dass wir beide nicht zu Hysterie neigen. Wir hätten uns die Warterei wirklich sparen können. Ich male mir aus, dass es schon zu Ende wäre, wenn wir – nach dem Sturz über Bord – uns aneinander geklammert hätten, uns gegenseitig in die Tiefe ziehend.
Im Gegenteil, als wir dem schnell entschwindenden Boot nachsahen, kam besagtes Stück Treibholz angeschwommen – von kleinen Fischen umschwärmt, Schutz bietend vor den großen Räubern der Tiefsee. Uns bietet es nichts, außer ein Hinauszögern – denn natürlich klammern wir uns daran fest. Ich betrachte abwesend meine Hände, die vom Salzwasser völlig aufgequollen sind.
Weitere Stunden vergehen, wir schweigen. Ich beobachte die Wanderung der Nachmittagssonne am Horizont.
Sara`s Gesicht ist krebsrot, die Haut beginnt sich bereits abzupellen. Es muss weh tun, aber sie sagt keinen Ton. Mir kommen meine Bartstoppeln zuhilfe, die mich vor der Sonne schützen. Angesichts unserer Situation kommt es mir seltsam vor, dass ich über Sonnenbrand nachdenke.
In ein paar Stunden wird die Dämmerung einsetzen. Ich fürchte mich vor der Dunkelheit. Um mich abzulenken sehe ich den kleinen bunten Fischen zu, die das Treibholz umkreisen und keine Spur Angst vor uns zeigen.
Sara sagt „Ich halte es nicht mehr aus, ich werde verrückt. Das kann noch Tage dauern. Ich habe mich damit abgefunden, gut, wir werden also sterben. Hast du eine Idee, wie man diese qualvollen Warterei beschleunigen kann?“
Ich schaue sie überrascht an. Sie hat mir ihr Gesicht zugewandt – darin sehe ich keine Spur von Angst – nur Resignation. Und Ungeduld. „Das wird schwierig“ sage ich langsam, „aber es ist machbar“. Ich unterbreite Sara meine Theorie mit dem aneinander klammern und in die Tiefe ziehen. Sara sagt „Das kann ich nicht. Das schaff ich nicht“.
„Vielleicht kommt ja doch ein Boot vorbei“ murmle ich vor mich hin. „Das ist Blödsinn“ bringt es Sara auf den Punkt „und das weißt du auch“. Sie legt den Kopf auf ihre Hände und schließt die Augen. "Charlie, da ist noch etwas". Der Tonfall in ihrer Stimme beunruhigt mich. "Was ist?" frage ich und erkenne meine hohe piepsige Stimme kaum wieder. "Ich habe meine Menstruation" sagt Sara, und ergänzt "seit ungefähr einer Stunde". Zuerst begreife ich nicht, was will sie mir damit sagen? "Glaubst du nicht, dass deine Frauenangelegenheiten angesichts unserer Lage massiv in den Hintergrund treten?" fauche ich sie an, was mir anschließend sofort leid tut.
Sara hebt den Kopf, ihre riesengroßen Augen sehen mich an. "Charlie, wir treiben hier auf der Hochsee. Haie werden von elektrischen Schwingungen angezogen ... und von Blut".
Ich ziehe scharf den Atem ein, und versuche Haltung zu bewahren. Ich ringe um Worte, ich darf jetzt nicht durchdrehen. Jetzt wird mir klar, warum Sara dem ganzen Übel hier ein schnelles Ende setzen will.
"Es muss ja nicht so kommen" sagt Sara, aber wir beide wissen es besser. Ich sehe, wie tapfer sie ihre Angst unterdrückt und spontan lege ich einen Arm um sie, drücke sie an mich. Durch diese Geste der Zuneigung verliert Sara die Fassung und beginnt hemmungslos zu schluchzen. "Es tut mir so leid!" stammelt sie. Am liebsten würde ich mitheulen, aber ich fühle mich innerlich wie erstarrt. "Du kannst doch nichts dafür!" versuche ich Sara zu beruhigen. Schließlich versiegen ihre Tränen und sie verfällt in Apathie. Wieder vergehen Stunden.
Die Dämmerung setzt ein und ich starre in die Tiefe. Dann sehe ich einen Schatten unter uns vorbeigleiten. Ich kann unmöglich sagen, um welchen Fisch es sich handelt, aber er ist riesig. Der Schatten kommt zurück, er ist jetzt deutlich näher und ich erkenne den stromlinienförmigen Körper eines Hais. An der Kopfform wird ersichtlich, dass es sich um einen Hammerhai handelt. Hammerhaie jagen in Rudeln. Ein zweiter Schatten kommt dazu. Dann ein dritter. Die Panik drückt mir die Luft ab. Ich will schreien, aber aus meiner Kehle kommt nur ein Krächzen.
Sara sieht sie auch. Wir klammern uns aneinander, umschlingen uns heftig, ich habe nicht gewusst, dass Menschen so stark zittern können. Ich denke noch, dass wir dieses Ende nicht verdient haben, niemand verdient so ein Ende, dann streift der erste Hai mit seiner rauhen Haut mein Bein, mir eine tiefe Schramme versetzend, noch vorsichtig, noch auf der Hut.
Dann, als die natürliche Scheu der Fische nachlässt, denke ich gar nichts mehr.
[ 30.07.2002, 15:51: Beitrag editiert von: Liz ]