- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 33
Bertilein
„Ich mag nicht Robert heißen. Kein anderer Schüler heißt so. Selbst die vielen Kaninchen haben kein Kind Robert genannt.“
Roberts Mutter strich ihrem Sohn liebevoll über den Kopf. „Aber Robert ist ein wunderschöner und ehrenvoller alter Name. In unserem Stamm haben viele diesen Namen getragen. Robert bedeutet von glänzendem Ruhm. Dein Großonkel Robert ist sehr stolz auf seinen Namen.“
„Großonkel Robert! Der hat ja auch Prinzessinnen vor Hexen gerettet und Seeleute vor dem Ertrinken bewahrt und den bösen Zauberer zu Asche verbrannt und was noch alles. Wenn ich wenigstens Flammen spucken dürfte.“
„Warum möchtest du das denn?“
„Einige große Kinder nennen mich Bertilein.“
„Ja, das ist eine Kurzform für Robert.“
„Aber sie rufen: Da kommt Bertilein. Wo ist denn dein Babsilein? Hast du sie gefressen?“
„Das verstehe ich nicht.“
„Ach im Lesebuch der ersten Klasse stand eine Geschichte von Babsi und Berti. Und Berti macht da ziemlich dumme Sachen.“
Seine Mutter nahm Robert wortlos in ihre Arme und drückte ihn ganz fest. „Jetzt schlaf erst einmal. Morgen beginnt das Wochenende und dann hast du zwei Wochen Frühlingsferien. Ich denke, wir werden Großonkel Robert besuchen. Er kann dir gewiss einige Tricks beibringen, wie du dich gegen die anderen behaupten kannst, ohne dass es gleich Ärger gibt.“
Am Sonnabend reiste Robert mit seinen Eltern zum Großonkel. Sein Vater trug Roberts Gepäck für die Ferienzeit auf dem Rücken. Robert freute sich, dass er die Ferien bei seinen Verwandten auf dem Lande bleiben konnte und besonders auf spannende Abenteuergeschichten von Großonkel Robert.
Montagmorgen konnte Robert ausschlafen. Wohlig räkelte er sich in dem großen Erwachsenenbett. In sein Bett zu Hause passte er gerade noch hinein, aber sein Zimmer war auch zu klein für ein richtiges Bett. „Hoffentlich heiratet meine große Schwester bald, damit ich in ihr großes Zimmer umziehen kann.“
Die Sonne schien in sein Schlafzimmerfenster und kitzelte ihn so lange, bis er aufstand. In der Küche hatte Großtante Friedmute den Tisch gedeckt und Frühstück zubereitet. Robert verzehrte genussvoll Eier, Speck, Würstchen und Räucherhering, bis sich ein wohliges und sattes Gefühl in seinem Magen ausbreitete. Mit einer großen Schale Kaffee schloss er sein Mahl ab und fühlte sich richtig erwachsen. Zu Hause bekam er nur sonntags ein wenig Kaffee. Großtante Friedmute hatte ihm wortlos beim Essen zugeschaut, aber nun meinte sie: „Du bist im letzten Jahr ganz gut gewachsen.“
„Ja, ich bin von den Augenzähnen bis zur Schwanzspitze vier Meter lang.“
„Dann dürften deine Steuerorgane ausgebildet sein.“
„Ich kann beim Fliegen sehr gut steuern“, erwiderte Robert leicht beleidigt.
Seine Großtante lachte: „Ich meine die inneren Organe, die deinen Flammenwerfer steuern.“
„Oh, ach so.“ Roberts Hals errötete so sehr, dass sich seine grünen Schuppen am Bauch gelb färbten. „Was kann ich denn steuern? Ich weiß, dass ich ein Feuerdrache bin, aber ich habe noch nie einen Drachen Feuer spucken sehen.“
„Wir setzen unsere Fähigkeiten ja auch nicht ein, um Schaden anzurichten, sondern um zu helfen. Vor Jahrhunderten haben wir noch unsere Nahrung selber geröstet. Heute nutzen wir Herde, Aber wir setzen unser Feuer manchmal zum Grillen ein, etwa auf Abenteuerreisen.“
„Und wozu ist das Feuern dann noch gut? Eigentlich könnten wir es uns doch abgewöhnen.“
„Nun, es gibt schon Gelegenheiten, bei denen eine große Flamme benötigt wird. Einige traditionelle Schmiede arbeiten gerne mit Drachenfeuer, weil es heißer und besser zu regulieren ist als ein Kohlefeuer. Als der große Leuchtturm von Steilkliff ausfiel, haben zehn Drachen vier Nächte lang im richtigen Rhythmus Feuerstöße geblasen, bis der Turm wieder geleuchtet hat. Aber viel wichtiger sind die kleinen Flammen. Die Sonnenwendfeuer werden immer von Drachen entzündet, weil das die sauberste und sicherste Methode ist.“
„Ob Mama im Winter die Kamine gar nicht mit Streichhölzern anzündet?“
Großtante Friedmute lachte herzlich: „Genau das sollst du auch lernen. Eine so kleine Flamme zu hauchen, dass du eine Kerze anzünden kannst, ohne sie umzublasen und das Tischtuch in Brand zu setzen.“
„Könnte ich dann auch eine Zigarre anzünden?“
„Sicher, aber du willst sie doch wohl nicht rauchen.“
„Großtante, ich rauche doch nicht. Aber unser Lehrer, Professor Maulwurf, steckt sich in der großen Pause gerne eine Zigarre an. Und er findet nie seine Streichhölzer. Ich glaube, das würde ihn freuen, wenn ich ihm Feuer geben kann.“
Ihre Schuppen leuchteten geradezu, so sehr strahlte Großtante Friedmute den kleinen Robert an: „Das ist ein wunderbares Beispiel. Wir werden gleich anfangen zu üben.“
Die beiden gingen durch den Garten, der hinter dem Haus lag, zu einer großen Sandgrube. Da steckten einige verkohlte Holzpfähle im Sand. „Das ist der Übungsplatz in unserer Region“, erklärte Großtante Friedmute.
„Bei uns gibt es auch eine Sandgrube. Aber die ist bewohnt. Auf jedem freien Fleck baut in unserer Stadt irgendjemand seine Wohnung.“
„Aber das ist doch auch interessant, mit vielen anderen Wesen zusammenzuleben. Und deine Schule ist gleich nebenan. Hier auf dem Land gibt es keine Schule.“
„Du hast wohl recht. Neben uns wohnt ein Rudel Füchse im Bau unter der Erde. Über ihnen hat eine Rehfamilie ihre Liegeplätze und in den Bäumen um das Grundstück nisten viele Vögel. Da wohnen noch mehr Tiere, ein alter Dachs zum Beispiel. Aber ich kenne eigentlich nur die, deren Kinder mit mir zur Schule gehen.“
Und dann meinte Großtante Friedmute: „Als erstes wirst du jetzt lernen, Feuer zu spucken.“
„Das ist doch einfach“, platzte Robert heraus. „Ich brauch nur kräftig auszuatmen.“
„Dann mal los.“
Und Robert holte tief Luft und stieß sie in einem Schwall aus.
„Nicht einmal heiße Luft“, witzelte Großtante Friedmute.
„Ist wohl doch nicht so einfach“, erwiderte Robert verlegen.
„Wenn das funktionieren würde und du nachts im Schlaf einmal kräftig ausatmen würdest - was geschähe dann?“
„Äh … wäre wohl nicht so gut.“
„Und denk immer daran: Drachen können zwar feuern, aber wir sind nicht feuerfest. Also gibt es Sicherungen, um nicht aus Versehen sich selber oder jemand anderen in Brand zu setzen.“
Und dann begann Großtante Friedmute mit einer langen Erklärung. Da gab es Schließmuskeln und Rückstoßklappen, zwei Gastanks, Mischkammern und vor allem die langen Platinzähne, an denen sich das Gas entzündete.
Schon nach wenigen Sätzen hörte Robert gar nicht mehr zu. Sein Gedächtnis würde alles speichern und er konnte davon träumen, ein Held zu werden. „Prinzessinnen gibt es bei uns gar nicht mehr und böse Zauberer auch nicht. Das Meer ist weit weg und außerdem sollten andere Kinder bei den Abenteuern dabei sein. Sonst glaubt mir das ohnehin keiner. Also was könnte ich unternehmen?“
Endlich war die Theoriestunde vorbei und Robert durfte das richtige Feuerspucken üben, allerdings ohne Feuer. Morgens bekam er ein Glas Blaubeersaft zu trinken. Der Saft bildete mit den Gasen aus seinen Extramägen eine blaue Wolke und verhinderte, dass sich das Gemisch entzündete.
„Bäh, das schmeckt ja eklig.“ Robert hatte zu schwach geblasen und jetzt hing eine blaue Wolke unter seiner Nase und tropfte auf seine Zunge.
„Sei froh, dass da kein Feuerball hängt.“
Am nächsten Morgen schüttete Robert den Blaubeersaft heimlich fort. Was würde schon passieren, dachte er. Dann sollte er so weit blasen, dass die Wolke über drei Stäbe, die im Sand steckten, reichte. Robert blies aus voller Kraft und setzte zwei Stäbe in Brand, bevor ihm die Luft ausging und der Feuerstrahl seine Nase versengte.
„Au, oh, das schmerzt.“ Und jetzt begriff Robert, warum seine Großtante immer die große Tasche mitbrachte. Denn sie holte einen Topf mit Salbe und eine dicke Mullbinde hervor und verarztete seinen Nase.
„Du bist auf alles vorbereitet“, stöhnte Robert.
Großtankte Friedmute lachte: „Glaub nicht, du wärest der erste Heißsporn, der seine eigene Nase grillt.“
Am nächsten Tag ging Großonkel Robert mit ihm zur Sandgrube. Dort steckten sechs Fackeln nebeneinander und Robert sollte sie mit einem Flammenstoß von links nach rechts entzünden. „Alle Fackeln brennen“, stellte er zufrieden fest. Aber schon nach kurzer Zeit brannten nur noch die beiden mittleren Fackeln.
Großonkel Robert lächelte: „Die zwei ersten Fackeln hast du zu Asche verbrannt. Da ist nicht mehr viel zum Brennen übrig geblieben. Und bei den beiden letzten war dein Feuer zu schwach, so dass nur der Wachsüberzug gebrannt hat. Du siehst, richtig dosiert zu feuern ist nicht einfach.“
„Naja, weil ich nicht über längere Zeit gleichmäßig geblasen habe. Ich musste Luft holen und da ist die Flamme ausgegangen. Da muss ich eben lernen, die Luft länger anhalten zu können.“
„Dazu nutzen wir unserem Luftsack. Das funktioniert wie bei einem Dudelsackspieler.“
Robert hob seine linke Vordertatze und schaute in die Achselhöhle. „Wo ist denn mein Luftsack.“
Großonkel Robert lachte: „Der liegt in deiner Kehle und deshalb solltest du lernen, in den Sack zu atmen und dann die Luft in die Nasenhöhle zu drücken.“
Nach einigen ausgedehnten Übungen meinte Robert: „Ich hoffe, niemand hält mich für einen Frosch.“
„Solange du nicht anfängst zu quaken.“
Sobald Robert mehrere Minuten lang eine gleichmäßige Flamme blasen konnte, begannen sie mit der letzten Übung. Großonkel Robert stellte einen Tisch mit einem Windlicht direkt vor Robert auf: „Jetzt zünde das Windlicht an.“
„Aber so geht das nicht. Die Kerze steht unter meiner Nase. Ich müsste nach unten blasen können, um an den Docht heranzukommen.“
„Jetzt lernst du also noch einige deiner Muskeln kennen. Du weißt ja, dass die Haut um deine Nasenlöcher sehr dick ist.“
„Damit ich mich nicht so sehr verbrenne?“ Roberts Nase juckte immer noch ein wenig.
„Unter der Haut sind mehrere Muskeln, mit denen du die Nasenlöcher beliebig verstellen kannst.“
„Das macht Spaß“, lachte Robert nachdem er den Kniff raus hatte. Er blies seine Flämmchen nach oben, nach rechts, nach unten, nach links, ganz wie er es wünschte.
Dann kam die Abschlussprüfung. Zwei alte Drachen waren eingeflogen und bauten zusammen mit Großonkel Robert die Prüfungsaufgabe auf. Robert durfte nicht zusehen und half Großtante Friedmute bei der Zubereitung eines opulenten Buffets. Es gab Palmherzen und Spitzkohl zum Dünsten. Dazu verschiedene Käsesoufflés zum Überbacken und riesige Sojaburger zu Braten.
Die Dämmerung setzte schon ein, als Robert auf den Sandplatz gerufen wurde. Da stand jetzt ein großer Tannenbaum, der von der Spitze bis zum Boden mit Kerzen bestückt war. Um den standen zwei Kreise mit Windlichtern in bunten Gläsern und Teelichtern. Robert schaute leicht erschrocken den Baum an, der einiges höher war, als er selber.
Gerold, einer der beiden Gäste, erklärte ihm: „Nun, überlege dir, wie du alle Lichter am besten anzündest.“
Robert stellte sich vor, die Lichter nacheinander zu entflammen und schnell wurde ihm klar, dass er sich heftig verbrennen würde, wenn er unten anfinge. „Ich werde an der Spitze beginnen.“
„Sehr gut“, grummelte Roland, der andere alte Drache.
Robert schritt langsam mehrere Male um den Baum und bewegte seinen Kopf in einer Spirale von oben nach unten, um wirklich alle Kerzen zu erreichen. Das war bei der zunehmenden Dunkelheit nicht ganz einfach. Durch die brennenden Kerzen wurde es auch nicht heller, ihre Lichter blendeten ihn eher, aber schließlich hatte Robert es geschafft. Die Erwachsenen gratulierten ihm und die beiden Gäste übereichten ihm ein Diplom. Sie waren nämlich, wie Robert erst jetzt erfuhr, die offiziellen Prüfer der Drachenhochschule und das Feuerdiplom war eine Zulassungsbedingung für das Studium an der Hochschule. Dann feierten sie. Jeder schmolz sich sein Käsesoufflé und schmorte sich seine Palmherzen und Sojaburger so, wie er sie gerne aß. Erst lange nach Mitternacht wankte Robert müde und glücklich in sein Bett.
Die Frühlingsferien waren zu Ende. In der ersten großen Pause holte Professor Maulwurf eine Zigarre hervor und begann, in seinen Taschen nach Streichhölzern zu suchen. Da trat Robert an ihn heran, neigte seinen Kopf und bot ihm sein Feuer an. Während Professor Maulwurf seine Zigarre anzündete, schien er sich über Roberts neue Fähigkeit gar nicht zu wundern. Aber die anderen Schüler redeten aufgeregt durcheinander und kamen nach kleinen Schreckmomenten mit vielen Vorschlägen:
„Könntest du mein Schinkenbrötchen aufwärmen?“
„Magst du eben mal den Käse auf meiner Stulle schmelzen?“
„Mein Kakao ist kalt. Könntest du ihn bitte wieder heiß machen?“
Keiner nannte ihn mehr Bertilein. Er war bei seinen Mitschülern beliebt, aber es war auch ziemlich anstrengend, allen zu helfen, die eben mal eine Flamme brauchten. Und allmählich wurden seine besonderen Fähigkeiten selbstverständlich und niemand bewunderte ihn mehr. Robert war klar: Ein neues Abenteuer musste her - aber das ist eine andere Geschichte.