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Bernhard und die Zeit
Bernhard und die Zeit
In diesen Tagen, denkt Bernhard, wäre es schön, nur so ganz für sich, wenn er die Zeit ein bisschen kontrollieren könnte. Ein alltäglicher Wunsch von Allmacht. Er dreht die Worte in seinem Kopf. Ein allmächtiger Wunsch des Alltags.
Sie anhalten, nur für einen winzigen Augenblick. Weil das Kind gelächelt hat, in dem Auto, das vorbeifuhr. Ihn vermutlich nicht gesehen, hinter den verschmierten Scheiben der Straßenbahn. Vielleicht aber doch. Diesen Moment noch eine Sekunde festzuhalten. Das wäre schön.
Bernhard ist schon immer Straßenbahn gefahren. Schon als Kind. Das wird er auch weiterhin tun, bis seine Knochen ihn nicht mehr tragen. Bald wird das sein. Zu bald und auch nicht bald genug.
Bei jedem Blick aus seinem Wohnzimmerfenster, auf den Park gegenüber, fragt er sich, warum er auch diesen Herbst erlebt. Sein vierundachtzigster. Ereignislos spektakulär verfärbte Blätter, und niemand, dem er sie zeigen kann.
Ein Lächeln quält sich auf seine Lippen, wenn er daran denkt. Kein Lächeln voll Freude, sondern eines, das verrät, wieso ein Leben verläuft, verrinnt und niemand es aufhält. Noch ein weiterer Herbst. Und dann der Winter. Dann, vielleicht, wenn alles so geht, wie immer, auch wieder das Frühjahr. Sein fünfundachtzigstes. Und das alles, ohne noch ein Ziel.
Ja, wenn er Kinder hätte, und Enkel! Dann würde er wollen, dass sie es besser haben. Würde er wollen, dass sie lachen und die Blätter sehen. Dann würde er wollen, dass sie im Auto sitzen und lächeln. Auch, wenn sie groß sind. Es eben besser haben.
Aber soweit ist es nicht gekommen mit Bernhard. Einmal, wohl bald, wird die Zeit für diesen winzigen Moment stehen bleiben. Für diesen einen Moment vor der Unendlichkeit. Und dann, denkt Bernhard, wäre es schön, wenn ein Kind gerade lächelt. In einem Leben, in dem es ihm besser geht.