Berliner Hinterhof
Roland Seidel wurde von dem Schlagen der großen Holztür unten im Hof geweckt. Das Fenster halb offen hörte er die schnellen Schritte auf dem Steinboden des Innenhofes auf dem Weg, der das Vorder- und Hinterhaus miteinander verband. Ein zweites Schlagen in weiterer Ferne verriet ihm, dass sein Nachbar durch das der Strasse zugewandte Eingangstor das Vorderhaus verlassen hatte.
Als der Wecker anfing zu piepsen und zu jammern, erschlug er seinen Ruhestörer in weniger als zwei Sekunden. Ein Blick aus dem Fenster genügte ihm, um festzustellen, dass auch dies ein grau in grauer Berliner Tag werden würde. Das fein dosierte Nieseln würde den ganzen Tag andauern.
Der einzige Grund, das wohlig warme Bettchen zu verlassen, war die Büglerin. Roland ging in seine Küche, um Kaffee zu machen, und da war sie schon. Auf der anderen Hofseite im Vorderhaus stand hinter einem Hoffenster, erleuchtet vom warmen Licht einer Tischlampe, die Büglerin am Bügelbrett. Die Mittdreissigjährige bügelte wie jeden Morgen um sieben die Hemden ihres Ehemanns, und ihr weicher Busen wallte und wogte dazu in ganz sichtbarer Freiheit. Roland liebte es, seinen Kaffee zuzubereiten und dabei die Situation seiner halbbekleideten Nachbarin zu analysieren. Er fragte sich, warum es ihr so warm war, dass sie keinen Drang verspürte, sich zu bedecken. Oder die Frage, warum sie nicht die Vorhänge zuzog. Denn sie musste wissen, dass sie die Morgenfreude ihrer männlichen Nachbarn vom Hinterhaus darstellte.
Roland trank seinen Kaffee, und bevor er den Blick auf die Büglerin aufgab, um in die Dusche zu steigen, entdeckte er den großen, dicken Mann, mit nacktem Oberkörper auch er, sehr stark beharrt, ein Bär. Der Bär nahm die Hemden weg, die die Büglerin schon behandelt hatte. Dank seines ebenfalls regelmäßigen Erscheinens wusste das ganze Hinterhaus, dass er der Ehemann der Büglerin war.
Roland musste sich jetzt beeilen; in der Bank erwartete ihn die normale Überstundenarbeit des Monatsendes. Er flutschte aus der Dusche in die Klamotten, die Haare noch nass, schwupp das Bürotäschchen, und schon drehte er den Schlüssel in seiner Haustür. Pom, pom, pom, pom, pom, pom, machte er im Treppenhaus. Hinter ihm knallte dann das Tor des Hinterhauses ins Schloss, als er den Innenhof durchschritt; er öffnete das Tor des Vorderhauses, und der herbstliche Geruch der toten gelb-braunen Blätter auf dem Bürgersteig drang ihm in die Nase. Etwas Schlimmeres als dieses feucht-graue Novemberwetter konnte er sich kaum vorstellen. Seine Augen scannten die Strasse ab: Wo war bloß der Golf? Hatte er doch ein Bierchen zuviel gestern Abend getrunken?
Schließlich fand er den alten Golf in einer Nebenstrasse; sein Erinnerungsvermögen, ihn hier abgestellt zu haben, war schwach…
Das Innere des Golfs empfing mit derselben Kälte wie draußen. Nach zehn Sekunden waren alle Scheiben beschlagen.
„Scheisse“, dachte Roland.
Mit dem Ärmel seines Mantels wischte er vorne und an den Seitenscheiben. Man hatte ihn zugeparkt. „Scheisse.“ Er setzte vor, zurück, vor, zurück, und noch mal vor und zurück. Schließlich ein letztes Mal, um heraussetzen zu können. Er zog leicht rückwärts raus und iiiiiiisch-sch-sch kreischten Bremsen auf dem nassen Asphalt. Bummm!
Jemand fuhr ihm von hinten rein, der Golf wurde nach vorne gedrückt und schob sich von hinten in den vor ihm geparkten Wagen.
„Das ist doch nicht möglich, so ein…!“
Der Fahrer der quietschenden Bremsen stieg genauso schnell aus wie Roland: es war ein großer dicker Mann.
„Aber Sie sind doch…“ Ihm blieb die Spucke weg. Vor ihm stand der Berliner Bär.
„… ja ich bin der Fahrer dieses Wagens“, beendete der Bär anders als vorgesehen. Natürlich hatte der Bär eine tiefe Bärenstimme.
„Ja schade.“ sagte Roland.
„Schade für Sie, denn Sie werden wohl den Schaden bezahlen müssen. Sie ziehen raus, egal ob da jemand kommt oder nicht“, sagte der Bär.
„Wie denn das ? Sie können doch nicht Auto fahren“, entgegnete Roland.
„Natürlich, mein Kleiner, ich kann Dir bei Gelegenheit Fahrstunden geben“, sagte der Bär jetzt mit bärig-väterlicher Stimme.
„Wenn Sie Ihren Wagen nicht anhalten können, dann sollten Sie langsamer fahren!“, fing Roland an, sich aufzuregen.
„Junge, reg Dich nicht auf; Du weißt ja gar nicht, was Du sagst “, sagte der Bär und legte seine Pranke auf Rolands Schulter.
„Lassen Sie mich los“, riss sich Roland los und rief die Polizei von seinem Handy aus an.
Die kam dann auch 15 Minuten später und fand zwei Männer vor, die sich nichts mehr zu sagen hatten. Der eine Bulle, ein Kaugummi kauender Berliner Schnäuzer, hatte schlecht geschlafen und darüber hinausgehend auch keine Lust morgens um acht einen Blechunfall aufzunehmen. Seine Kollegin mit dem blonden Pferdeschwanz war die am wenigsten angenervte der vier. Sie nahm Roland und den Bär einzeln zur Seite, um auf sie einzuwirken, dass die beiden nach Sachlage besser den Unfall unter sich regeln sollten, da beide eine Mitschuld traf; aber sie biss auf Granit.
„Also was machen wir?“, fragte sie.
„Ich habe eine gute Versicherung“, sagte der Bär.
„Ich auch“, zog Roland gleich.
So zog dann ein jeder von dannen, jeder mit dem Gefühl, dass der andere wirklich ein Arschloch sei. Roland musste auf die Arbeit. Dort wurde er schon ungeduldig erwartet. Er hatte ein leichtes Ziehen im Nacken; seine Kollegen entdeckten natürlich die Riesen-Dötsche in Rolands geliebten Golf und taten das ihre, dass Roland in nicht bessere Laune kam. Mittags rief er seine Freundin Henriette an und erzählte, was passiert war.
„Warst du bei einem Arzt?“, war ihre Frage.
„Warum ?“
„Du musst zu einem Arzt gehen.“
„Hä ?“
„Dein Nacken! Hast du mir nicht gesagt, dass es dich im Nacken zieht?“
„Ja, aber das ist doch nichts.“
„Und wenn es etwas Bleibendes ist ?“
„Aber …“
„Du musst da hin, schon wegen der Versicherung!“
Der Filialleiter war nicht sehr glücklich, als Roland ihm ankündigte, dass er zum Arzt musste. Mit etwas Glück fand er sogar einen allgemein praktizierenden Arzt nicht weit von der Bank, der ihn diesen Nachmittag empfangen konnte.
An der Gegensprechanlage des Dr.-med. Friedrich Manhall verstärkte sich sein Gefühl, dass er wirklich nicht lange in der Praxis bleiben wollte. Die Empfangstussi war mit übernatürlicher Hautbräune gesegnet, die sich gut mit den strahlend wasserstoffblonden Haaren ergänzte. Roland dachte an das Solarium und den Friseur im Wellness-Center, die sich sicher an diesem Mädl gesundstießen. Die sexy L’Oréal-Lippen fragten, leider mit einer zu realen Berliner Schnauze für diesen Gesundheitstempel, ob Roland „privat“ -versichert sei. Das war der Fall; das Lippenwunder notierte den Namen der Zusatzkasse und bat, noch „einen kleinen Moment“ im Wartesaal Platz zu nehmen.
Dr.-med. Friedrich Manhall, ein Zwei-Meter-Riese, empfing ihn mit weit ausgebreiteten Armen.
„Mein lieber Herr Seidel! Was kann ich für Sie tun? Bitte nehmen Sie doch Platz!“
Roland erklärte seinen Fall, und der Herr Doktor runzelte die Stirn.
„Das scheint mir ernst zu sein“, sagte er mit Mitgefühl.
„Vielleicht ja, aber vielleicht ist es ja gar nichts.“
„Vielleicht, vielleicht“, der Medizinmann zuckte mit den Achseln, „ vielleicht behalten Sie bleibende Schäden zurück.
„Meinen Sie echt?“, fragte Roland beunruhigt.
„Man ist niemals ganz sicher“, sagte Manhall und untersuchte alle möglichen Halspartien.
„Und?“ fragte Roland nervös.
„Eine Frage von Mann zu Mann: Nehmen Sie sich einen Anwalt?“
„Äh ja … ich glaube schon …“, antwortete Roland etwas überrascht.
„Sehr gut“, war die befriedigte Antwort des Arztes.
„Warum?“
„Ich möchte, dass Sie jeden zweiten Tag in meine Praxis kommen, das müssen wir im Auge behalten; wir machen eine posttraumatische Rücken- und Halsgymnastik. Machen Sie sich keine Sorgen über die entstehenden Kosten. Ihre Privatkasse und Ihr Anwalt müssen ja auch mal für Sie arbeiten!“, lachte er über seinen eigenen Witz.
„Und wenn ich gar nichts habe?“
„Wir werden etwas finden“, sagte Dr.-med. Friedrich Manhall mit Bestimmtheit.
Als Roland in seine Wohnung zurückkam, erwartete ihn schon Henriette. Er hatte Nackenschmerzen; aber er wusste nicht, ob es sein Vorstellungsvermögen, die Manhall-Behandlung oder der Unfall war. Doch in den folgenden Tagen gingen langsam die Schmerzen weg. Er konnte wiederum nicht sagen, ob dies die Folge der posttraumatischen Manhall-Behandlung war oder nicht.
Rolands Anwalt informierte ihn, dass Herr Schmidt, so der Name des Bären, nicht gewillt war, auch nur einen Pfennig seiner ärztlichen Behandlung oder anstehenden Golf-Reparatur zu bezahlen.
Am nächsten Tag stand Roland auf, geweckt wie immer durch das Schlagen des großen Tors. Henriette schlief noch; der Wecker erfuhr ein vorzeitiges Aus. Auf nackten Füssen ging Roland in die Küche Kaffee machen. Gegenüber sah er die Tischlampe und die Silhouette einer Frau durch den zugezogenen Vorhang durchscheinen.
Er hörte das Eingangstor des Vorderhauses zufallen; der Bär tauchte kurz im Hausdurchgang auf, bevor ins Treppenhaus des Vorderhauses verschwand. Den Bären so früh auf zu sehen, gab ihm ein komisches Gefühl in der Magengrube. Da stimmte etwas nicht. Eine halbe Stunde später hatte er eine Erklärung. Er verließ das Haus und suchte mit seinen Blicken seinen verunglückten Golf; doch seine Augen blieben jäh an einer großen Graffiti-Aufschrift haften: „Der Fahrer ist ein Arschloch!“
Der Graffiti-Spruch prangte über die ganze Seite seines Golfs!
„Die dumme Sau!“ schrie Roland.
Ein Jähzorn überkam ihn mit einer Gewalt, die er selten zuvor erlebt hatte. Er öffnete erneut das Eingangstor und lief zurück in den Innenhof. Keiner hinter dem Fenster der Büglerin. Der Innenhof war leer und verlassen. Nur die traurigen, halbhohen Mülleimer schauten ihn müde an. Da nahm er sich einen, lief ins Treppenhaus des Vorderhauses, 2. Etage, 3 Wohnungstüren, an einer das Messingschild „Schmidt“, und hopp! Vergammeltes Gemüse, benutzte Präservative, Kaffeesatz, stinkende, halboffene Konservendosen verteilten sich vor der Wohnungstür der Büglerin.
Roland stieg von neuem die Treppe runter und nahm sein verunstaltetes Auto. Als er im Büro ankam, hielt ihn der Filialleiter an.
„Es gibt ein Problem!“
„Was ?“
„Ihre Freundin !“
„Ist sie verletzt?“, fiel Roland siedenheiss ein, dass er seine arme Freundin mit dem Bären alleine gelassen hatte.
Nein, warum ? Sie hat angerufen. Sie müssen sie zurückrufen, aber vergessen Sie nicht Ihren Anruf in der Liste der persönlichen Anrufe aufzuschreiben…“
„Jaja, natürlich, natürlich“, sagte er schnell, um den Chef loszuwerden.
„Henriette ?“
„Ja.“
„Geht es dir gut?“
„Ja warum ?“
„Was ist passiert?“
„Jemand hat einen Drohbrief unter der Tür durchgeschoben; ich dachte, das wäre ein Nachbar, der eine Nachricht verschickt, aber das ist ein echter Drohbrief!“
„Rühr dich nicht von der Stelle; ich komme!“
Roland verließ das Büro so schnell, wie er es betreten hatte, und ließ seinen Chef verdutzt zurück. Auf dem Heimweg hielt er an einem spezialisierten Geschäft an. „Johnny’s Security Instruments: Wir machen Haus und Hof sicher“
„Was ist das?“, fragte Henriette bei seinem Eintreten in die Wohnung.
„Ein Bewegungsaufnehmer.“
„Wozu das denn?“
„Später, später! Erzähl zuerst, was vorgefallen ist!“
„Ich habe das unter der Tür gefunden“, sagte Henriette und hielt ihm einen Umschlag hin.
„Hörn sie mitt ihren Saueraien auf Arschloch. sonst kriegste eins aufs maul !!!“ las Roland laut vor.
Er lachte laut.
„Aber das ist ja tatsächlich ein Analphabet.“ kommentierte er fröhlich.
„Der ist bescheuert, und?“, fragte Henriette.
„Ich werd mich doch nicht mit sooo einem schlagen“, sagte Roland mit offenkundigem Standesbewusstsein.
„Ach ?“ Sie schien überrascht von dieser Wendung.
„Das wäre doch vergebliche Liebesmüh“, sagte er ruhig.
„Wenn du es sagst.“
Beim Rausgehen passte Roland auf, nicht die Hoftür des Hinterhauses zufallen zu lassen. Als er unter dem Fenster der Büglerin angekommen war, beschleunigte er seinen Schritt, weil er Angst hatte, dass sie ihm das Bügeleisen an den Kopf schmeißt.