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Berlin Blues

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08.07.2012
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Berlin Blues

Als Lasse erwachte und sich benommen die Augen rieb, stand Jenny auf dem Tisch und fluchte. Sie trug nichts bis auf ihre geringelten Kniestrümpfe. Als sie Lasses fragenden Blick bemerkte, sagte sie: "Schau dir diese Sauerei an, Mann!"
Gähnend rubbelte Lasse über seinen kurzgeschorenen Kopf. Dann sah er das Wasser, das etwa zwei Zentimeter hoch im Zimmer stand. Offenbar war das Heizungsrohr geplatzt.
"Kannst dich bei deiner Hausverwaltung bedanken", sagte Jenny. "Alles Wichser. Quetschen den Leuten die Miete raus, aber lassen die Häuser verrotten."
Lasse rollte sich zur Seite und angelte auf der Bananenkiste, die als Nachtisch diente, nach Blättchen und Tabak.
"Echt mal, dass du in diesem Dreckloch nicht wahnsinnig wirst, begreif ich nicht." Balancierend setzte Jenny hinüber zum klobigen Schreibtisch, von dort auf die alte russische Munitionskiste, in der Lasse seine Klamotten aufbewahrte und machte einen Sprung in den Korridor, wo die Dielen halbwegs trocken waren.
Lasse bröselte etwas Gras in den Tabak.
"So kann es echt nicht weitergehen, Mann", sagte Jenny. Sie hatte im Flur Kleidungsstücke wie Strandgut nach einem Schiffbruch auf einen Haufen geworfen.
"Du musst endlich mal anfangen, dich um dein Leben zu kümmern."
Lasse rollte das Blättchen, verklebte den Joint und steckte ihn an. Vom Bett aus betrachtete er Jenny. Im fensterlosen Korridor, nur vom Schein der herabhängenden Glühbirne beleuchtet, tanzten die schwarzgrünen Drachentattoos, die sich um Jennys Brüste ringelten, wie kleine lebendige Schlangenwesen.
"Geht sonst alles den Bach runter."
"Hm", brummte Lasse unbestimmt. Er stieß eine dicke Wolke Rauch aus. "Ich fahr heute zu Backfist."
Jenny hatte sich in ihre Jeans gezwängt und suchte im Wäscheberg nach einem BH, doch jetzt hielt sie inne und fragte: "Bracke Backfist?"
Lasse nickte. Jenny stemmte die Hände in die Seiten und betrachtete Lasse wie ein Kind, dem sie etwas zum hundertsten Mal erklären musste, obwohl es im Grunde aussichtslos war.
"Dieser Scheißtyp nutzt dich nur aus."
Lasse zuckte mit den Schultern. "Er hat einen Job für mich."
"Einen Job, na klar", sagte Jenny, verdrehte die Augen und setzte ihre Suche im Klamottenhaufen fort.
Lasse inhalierte gedankenversunken, dann sagte er plötzlich: "Sind deine Titten gewachsen?"
Jenny hatte einen roten Push-Up gefunden. Sie hakte gerade den Verschluss ein. "Das fällt dir jetzt auf, wo ich schon fast weg bin", sagte sie, schlüpfte in einen Pulli und ging ins Bad.
Lasse sann dieser Bemerkung nach. Durch die geöffnete Tür war Jenny zu hören, die erst im Badschrank hantierte und sich dann das Haar bürstete.
"Warum hast du mich eigentlich nicht geweckt?", rief Lasse durch die Wohnung. "Wolltest du dich verdrücken?"
Jenny antwortete etwas, das Lasse nicht verstehen konnte, denn es ging im Rauschen von Wasser unter, das ins Handwaschbecken floss.


Bracke öffnete die Tür einen Spaltbreit und musterte Lasse mit finsterer Miene. Dann schloss er die Tür wieder, und Lasse hörte ihn in der Wohnung leise mit jemandem sprechen. Bracke war bekannt für seine Vorsicht. Der Name Backfist ging auf einen verpfuschten Deal zurück: Ein paar Jahre zuvor war er nach verpatzten Preisverhandlungen im Krankenhaus erwacht, nachdem ein unzufriedener Kunde ihm mit einem Hammerfaustschlag das Nasenbein gebrochen hatte. Seit diesem Tag litt Bracke unter Paranoia.
Die Sicherungskette wurde ausgehakt. Bracke öffnete erneut die Tür. Lasse betrat die Wohnung, ging wie immer durch den dunklen Flur und warf sich im großen Zimmer aufs Sofa. Er hörte, wie Bracke in der Küche den Kühlschrank zuknallte. Im Badezimmer rauschte die Dusche.
Bracke kam ins Zimmer geschlurft. Er trug eine silbrige Trainingshose und Gummilatschen. Eine Dose Warsteiner segelte durch die Luft, und Lasse fing sie.
"Sind die Boots sauber?", fragte Bracke und wies mit einer Bewegung des Kinns auf Lasses DocMartens. "Man muss die Bude sauberhalten. Sonst ist schnell alles fürn Arsch."
Lasse ließ die Dose zischen, nahm einen Schluck und sagte: "Damit liegt Jenny mir auch ständig in den Ohren."
"Jenny? Fickst du immer noch die Alte vom Ratteck?" Bracke stand vor dem Sofa, so, als warte er auf irgendetwas. Er kratzte sich umständlich den Rücken. Nachdenklich betrachtete er Lasses Boots.
"Die sind ja gar nicht mehr richtig zusammen", sagte Lasse. "Der Ratteck fickt doch auch jedes Chick, das er kriegen kann."
"Klar", erwiderte Bracke, "der kann sich das auch leisten." Er machte ein paar Schritte zurück auf den Flur und hämmerte mit der Faust gegen die Badezimmertür. "Jetzt mach mal ein bisschen Dampf! Ich habe hier eine geschäftliche Besprechung. Hau ab oder verzieh dich wenigstens in die Küche."
"Der Typ ist mir doch ganz egal", sagte Lasse. Er hatte Zigarettenpapier, Tabak und Gras aus den Taschen seiner Armeejacke gefischt und begann, einen Stick zu drehen.
Bracke kam zurück ins Zimmer. Er ließ sich in den Clubsessel sinken, der dem Sofa gegenüber stand.
"Da wäre ich vorsichtig", sagte er. "Dem lecken doch die Nazikids aus Buch die Eier."
Lasse zuckte die Schultern. Sein Feuerzeug klappte auf.
"Du musst dir einfach mal klarmachen", fuhr Bracke fort, "dass wir jetzt in einem anderen System leben."
Lasse schenkte ihm einen spöttischen Blick, inhalierte ein paar mal und reichte den Stick rüber.
Bracke sagte: "Die kuschligen Zeiten sind vorbei, Mann. Jetzt herrscht das Gesetz des Dschungels, also das Recht des Stärkeren – Survival of the Fittest, verstehst du." Er rauchte und blies blaue Wolken in die Luft. "Also der Ratteck ist jetzt so etwas wie ein Alpharüde. Nicht gerade ein Silberrücken, aber immerhin der Chef seiner kleinen Bande aus Hools und Nazipunks... "
"Mann, der Penner hat in der zehnten kaum den Abschluss geschafft. Ich weiß noch, wie der sich vor dem FDJ-Rat nass gemacht hat."
"Mag ja sein", erwiderte Bracke. Er drückte den Rest des Sticks in einem Ascher aus, der neben dem Sessel auf dem Boden stand.
"Aber jetzt ist er ein Unternehmer."
"Unternehmer?", lachte Lasse. "Er dealt mit getürkten Fußballtickets, bricht nachts Tankdeckel auf und klaut Benzin."
"Ist doch egal. Er handelt im Geist des Systems. Er ist erfolgreich, hat Kohle, und deshalb legt er auch die Chicks flach."
Die Badezimmertür öffnete sich und heraus kam Babette, ein dunkelhaariges Mädchen mit Pferdeschwanz, das Lasse irgendwann im Tresor oder im Bunker kennengelernt hatte. Sie war unbekleidet, bis auf einen Slip und eine offene, schimmernde Trainingsjacke, die bis zu ihren Knien herunter hing und zu Brackes Hose passte.
"Redet ihr schon wieder über Schlampen?", fragte sie und ging in die Küche.


Auf der Straße fiel schwer der Schnee. "Fährst du ins Haus?", fragte Babette. Lasse zuckte die Schultern. "Hab mehrere Stationen."
Babette blieb hartnäckig. "Musst du nicht zum Roten? Also, wenn du zuerst in die Schönhauser fährst, kannste mich mitnehmen."
Lasse scharrte einen Augenblick lang unschlüssig im Schnee, dann sagte er: "Aber zieh die Kapuze über. Ich will nicht, dass uns die Bullen anhalten."
Einige Minuten später knatterten sie auf der alten Suzuki durch den Prenzlauer Berg. Babette hielt Lasses Taille fest umschlungen, und als sie in die Schönhauser Allee einbogen, wanderten ihre Hände abwärts, so dass Lasse Schwierigkeiten hatte, die Maschine auf der verschneiten Straße zu halten.
Im besetzten Haus öffnete jemand, nachdem Babette das Codezeichen gegen die verrammelte Tür gehämmert hatte. Die beiden schlüpften hinein, klopften den Schnee ab und kletterten über die Barrikade im Hausflur. Sie stiegen die Treppe zum ersten Stock hoch, wo bereits eine Wohnungstür offenstand.
"Komm doch noch in den vierten hoch, wenn du fertig bist", sagte Babette, lachte und drehte sich um.


"Na endlich", sagte der Rote. Er zog Lasse in die Wohnung. "Ich hatte dich schon vor drei Tagen erwartet."
Lasse stapfte durch den ungeheizten Korridor und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Der Rote hatte die Wohnungstür geschlossen und verriegelt und folgte ihm. Im Zimmer gab es außer einer zerfetzen Couch keine Möbel. Lasse ließ sich auf der Couch nieder und sah sich um.
"Mann, verheizt du deine Möbel oder warum wird die Bude immer leerer?"
Der Rote war ein Asket und ein Sozialist und ein kluger Kopf. Seinen Namen verdankte er aber nicht seiner Gesinnung, sondern dem Umstand, dass sein langes, stets verwuscheltes Haar leuchtend rot war - so rot, als stünde tatsächlich sein Kopf in Flammen. Er winkte ab. "Hab den ganzen Krempel rausgeschmissen, beim Nazialarm letzte Woche."
"Die Penner machen euch eine Menge Ärger in letzter Zeit", sagte Lasse. Er holte zwei Päckchen aus seiner Jackentasche. "Shit oder Gras?"
Der Rote deutete auf die durchsichtige Tüte mit dem Haschisch. Er machte ein paar Schritte durch den Raum und fingerte verschiedene Rauchutensilien aus einem kleinen Beutel, der an einem Haken an der kahlen Wand hing.
"Weißt du, was mich wirklich fertig macht?", sagte er. "Einige von den Typen, die ich jetzt regelmäßig mit Flaschen und Stuhlbeinen bewerfe, haben vor ein paar Jahren in meiner Klasse gesessen."
Lasse nickte. "Ja, das Thema hatte ich vorhin schon mit Backfist." Er machte ein wenig Hasch über der Flamme seines Feuerzeugs weich.
Der Rote breitete Blättchen, Filter und Tabak auf den Holzdielen vor der Couch aus und setze sich auf den Boden. Während Lasse einen Joint baute, begann der Rote, seine eigenen Prophezeiungen zu zitieren: "Ich habe euch damals gesagt, dass wir eine Strategie brauchen, um mit all den Kids, die sich gearschfickt fühlen, ins Gespräch zu kommen. Sonst wird es Krieg geben - das waren meine Worte." Lasse nickte.
"Ich habe euch gesagt, dass wir einen Dialog brauchen, dass in diesem Gefühl, verloren zu sein, kein Unterschied besteht zwischen denen und uns." Lasse reichte ihm den Joint, der Rote steckte ihn an und rauchte. Einige Momente andachtsvoller Stille folgten.
"Im Kern", sagte der Rote schließlich, "geht es denen, nicht anders als uns." Er gab Lasse den Joint zurück.
"Wir wollen Gerechtigkeit in diesem Scheißland", fuhr der Rote fort, "und die auch." Lasse inhalierte tief und sank zurück in die Polster der Couch.
"Allerdings wollen wir sie für alle." Der Rote verstummte. Vor den mit abnehmbaren Gittern gesicherten Fenstern wirbelten Schneeflocken in der Nachmittagssonne. Lasse versank in einem angenehmen Gefühl von Wärme und Schwere. Plötzlich riss ihn die Stimme des Roten aus seinem Dämmer.
"Was hast du gesagt?", fragte er und sah den Roten an.
"Ob er sie noch fickt."
"Wer?"
"Backfist."
"Wen fickt?" Lasse hatte ein wenig Mühe, sich zu sammeln.
"Babette."
"Wieso, bist du scharf auf sie?"
Der Rote nahm von Lasse den Joint entgegen und tat gleichgültig. "Die kann machen, was sie will. Ich frag nur aus Neugier."


"Seit wann rasierst du dir die Möse?" Vor Lasses Augen verschwammen die Bilder, aber dass zwischen Babettes Schenkeln etwas anders war, konnte man nicht übersehen.
"Wach mal auf, Mann. Wir leben nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert."
"Klar, aber ganz kahl?"
"Wieso, gefällt es dir nicht?"
Lasse ließ es dabei bewenden und zog Babette an sich heran. Sie küssten sich, und seine Finger erkundeten die zarten, neu erschlossenen Gebiete. Als er spürte, dass sie feucht wurde, drückte er Babette vor sich auf den Teppich.
"Stopp mal", sagte Babette und drehte sich rasch auf die Seite. "Hast du nicht was vergessen?"
Lasse sah sie ratlos an. "Gummis sind im Badezimmer, im Schrank", half Babette ihm auf die Sprünge.
Während Lasse im Badschrank nach den Gummis suchte, dachte er darüber nach, wie sehr Jenny und Babette sich ähnelten. Beide taten beispielsweise gerade so, als müsste man ihm selbst das Ficken erklären. Oder war er der Auslöser dieses Verhaltens? Als er mit einer Handvoll Kondomen zurückkam – es waren verschiedene Sorten, und er wusste nicht, welche Babette bevorzugte – empfing sie ihn masturbierend auf dem Bett. Lasse warf die Gummis auf die Bettdecke, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und schaute ihr zu.
"Du bist ganz schön dünn geworden", sagte Babette, betrachtete Lasse und streichelte ihre Vulva.
Lasse nahm die Pose eines Meditierenden ein.
"Wie ein Heiliger mit Ständer", kommentierte Babette und spreizte ihre Schamlippen.


"Hat Backfist die Preise erhöht?", fragte Matti, während er stirnrunzelnd beobachtete, wie Lasse ein paar Gramm abwog und eintütete.
"Nee, ist besseres Gras", gab Lasse zurück. "Son genmanipuliertes Weed. Haut dir die Birne weg, wenn du nicht aufpasst."
Lasse warf das fertige Päckchen auf den Tisch, steckte die Federwaage ein und stand auf.
"Im Grunde kommst du sogar billiger." Er trat an die Fensterfront und schaute rüber zum Friedrichshainer Park.
"Ist eine Wahnsinnsaussicht", murmelte er.
"Ja, das sagst du jedes Mal", erwiderte Matti.
"Ich hätte auch Bulle werden sollen", sagte Lasse. "Dann müsste ich nicht in einer Bude wohnen, in der Schimmel an den Wänden wächst."
Matti grunzte zustimmend. "Hättest damals zu den Fallschirmjägern gehen sollen, als du die Chance hattest."
"Sicher. Um mich jetzt in den Irak schicken zu lassen."
"Deutsche Fallschirmjäger werden niemals in den Irak gehen", stellte Matti kategorisch fest. Er hatte das Päckchen geöffnet, ein bisschen Gras in den Kopf der bereitgestellten Wasserpfeife gekrümelt und zückte nun sein Feuerzeug. Während er inhalierte, sah sich Lasse in der Wohnung um. Das Eichenparkett glänzte seidig. An den Wänden hingen Schwarzweißfotografien vom Grand Canyon, und die schwarzlederne Sitzgruppe passte perfekt zu den wuchtigen dunklen Bücherregalen, in denen vor allem Klassiker standen. Lasses Finger strichen über die Buchrücken – Dante, Melville, Twain, Cervantes…
"Du liest viel", sagte Lasse nachdenklich.
"Lesen ist die beste Methode, um den Geist beweglich zu halten", erklärte Matti, eingehüllt in Schwaden aus blaugrauem Dunst. "Wenn ich einen Roman lese, besonders eine Detektivgeschichte, kann ich dir ziemlich schnell sagen, worauf das Ganze hinausläuft."
Lasse betrachtete die Bücher im unteren Teil des Regals - T. S. Eliot, Faulkner, Fitzgerald, Reed… Vom Tisch her war das Blubbern aus dem Bauch der Pfeife zu hören.
"Ein Kriminalist muss lernen, selbst die subtilsten Spuren und Schwingungen wahrzunehmen. Er muss verstehen, was ein Krimineller tut und warum er es tut, auch wenn der Kriminelle es selbst nicht genau versteht." Lasse kannte diesen Monolog.
"Die Literatur hilft dabei, die vielfältigsten Motive der Menschen kennenzulernen – natürlich nur, wenn es gute Literatur ist."
Während Lasse sich wieder dem Sofa zuwandte und schließlich mit einem Seufzer in die Polster warf, kam Matti auf den für ihn wichtigsten Punkt: "Ein Kriminalist – und sogar ein einfacher Polizist auf Streife – muss wissen, was einer tut, bevor er es selbst weiß."
Er schob die Bong über den Tisch. "Und deshalb muss ein Polizist still sein können und subtil und genau beobachten, was passiert."
Lasses Feuerzeug klickte, eine Flamme leuchtete auf. Nachdem Lasse tief inhaliert hatte und nun träge Rauchwolken über dem Sofa aufstiegen, sagte er: "Haut ihr deshalb den Hausbesetzern die Fresse ein und beschützt die Nazidemos? Weil es so subtil ist?"
Verärgert wedelte Matti mit einer Hand durch die Luft.
"Jedes Mal die selbe Diskussion, Lasse! Es nervt langsam."
Lasse spürte, wie ihn etwas schwer in die Polster drückte. In seinen Ohren rauschte das Blut, der Schlag seines Herzens hallte dumpf durch seinen ganzen Körper.
"Mann, die Pfeife fickt mich aber", sagte er leise.
"Ich habe dir schon x mal gesagt, dass sich kein normaler Beamter am ersten Mai oder bei so einer Besetzeraktion mit den Autonomen prügeln will." Matti stemmte sich mühsam aus dem Sessel. "Du siehst das Gesamtbild nicht, Mann. Es gibt hierarchische Strukturen, eine Chain of Command nennt man das."
Lasse spürte, wie er wegsackte. Irgendwo, weitentfernt, gestikulierte Matti und erging sich in Erläuterungen, denen Lasse nicht mehr folgen konnte.


Vor dem Tresor standen drei Typen in Bomberjacken, die Lasse kannte. Security. Im Inneren des Clubs hämmerten dumpfe Bässe, aber vermutlich tanzte niemand, denn es war noch nicht einmal Mitternacht. Lasse grüßte und fragte: "Wie läuft's denn heute?"
"Is ein Scheißabend", gab Watzak zurück, der wie immer schlecht gelaunt war und schon den nächsten Problemfall kommen sah.
"Da ist deine Konkurrenz", sagte er, schob Lasse zur Seite und fixierte mit finsterem Blick ein paar türkische Jungs in weiten Klamotten, die mit hochgezogenen Schultern und Händen in den Hosentaschen langsam näher kamen. Die beiden anderen Securities schnippten ihre Kippen in den Schnee.
Die Türken traten heran, nickten beiläufig, und einer von ihnen sagte an Watzak gerichtet: "Wie sieht's aus? Wollt ihr was?"
Watzak spuckte in den Schnee und sagte: "Klar, ein Döner wär nicht schlecht."
Die Prügelei ging sofort los. Lasse war ein paar Schritte zur Seite getreten und hämmerte mit der Faust an die Tür des Clubs. Als diese aufschwang und zwei weitere Securities heraussprangen, war die Schlägerei schon vorbei. Die türkischen Jungs schleppten den Typen, der sich mit Watzak eingelassen hatte, rüber zum Parkplatz.
Einer der Securities hatte sich wohl einen Knöchel gebrochen. Seine Hand sah schlimm aus. "Bring ihn zur Notaufnahme", sagte Watzak zu einem der Typen, die aus dem Club gekommen waren. "Und ruft mal bei den Aushilfsleuten an. Kann sein, dass die zurückkommen."
Etwas später standen Watzak, Lasse und ein paar andere zusammen und rauchten. Das Gras schien Watzak gesprächig zu machen, denn er erzählte von einer lustigen Party, die ein paar Tage zuvor von der Polizei geräumt worden war, nachdem jemand aus dem offenen Fenster geschossen hatte. Lasse beobachtete die Schneeflocken, die aus der Dunkelheit herabrieselten und im Lichtkreis der Straßenlaterne aufleuchteten.
"Naja, der Ratteck wird sich wohl jetzt ein bisschen zusammenreißen, wo seine Alte schwanger ist", sagte Watzak, inhalierte und gab den Joint weiter.
"Ratteck war auch auf der Party?", fragte Lasse benommen.
Watzak nickte, und einer der Securities meinte grinsend: "Was glaubste denn, wer dem besoffenen Idioten, der aus dem Fenster geschossen hat, die Knarre gegeben hat?" Alle lachten, bis auf Lasse.
"Moment mal, wer ist schwanger?", fragte er, und seine Stimme zitterte ein wenig.
"Rattecks Alte, die Schlampe mit den Tittentattoos", sagte Watzak. "Is noch nicht offziell, aber irgendjemand hat gequatscht."
Lasse schwankte und schaffte es gerade noch, sich zur Seite zu drehen. Er erbrach sich nahe der Stelle, wo noch das Blut des Türken im Schnee schimmerte.
"Mann, du solltest echt mal weniger kiffen", sagte Watzak mürrisch. "Das Zeug macht dich fertig."

 

Hallo Achillus

Das geht ja rassig bei Dir, eine Neue, dabei kam ich bei der Vorgehenden noch gar nicht zum Lesen. Ich las hier mal die ersten Zeilen an, der Meinung sie mir vorzumerken, dann liess mich der Text nicht mehr los.

"Warum is es denn so warm hier drin, wenn die Heizung kaputt ist?", wollte Lasse wissen.

Hier blieben meine Gedanken hängen. Mir war klar, dass Lasse sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt und er ein Typ ist, dem Satinwäsche im Bett und ein weicher Teppich davor nichts sagen. Dennoch, er muss doch zumindest ein paar Habseligkeiten haben, die versumpfen und ihm nicht gleichgültig sind? Dass die Temperatur dabei angenehm ist, wäre das Letzte, das mir in den Sinn käme, obwohl mir materielle Werte immer ersetzbar sind.

Sie hatte im Flur diverse Kleidungsstücke wie Strandgut nach einem Schiffbruch auf einen Haufen geworfen.

Schönes Bild. :)

"Sind deine Titten gewachsen?"
Jenny hatte einen roten Push-Up gefunden. Sie hakte gerade den Verschluss ein. "Das fällt dir jetzt auf, wo ich schon fast weg bin", sagte sie, schlüpfte in einen engen Pulli und ging ins Bad.

Hier war mein zweiter Hänger, da mir die Reaktion und Antwort von Jenny ungewöhnlich erschien. Letztlich kam ich zum Eindruck, sie müsse es als Anmache betrachten, was in der momentanen Situation mir wiederum eigenartig vorkam.

Durch die geöffnete Tür war Jenny zu hören, die erst im kleinen Badschrank hantierte und sich dann das Haar bürstete.

Da hat Lasse ein extrem feines Gehör, das er den Schall wahrnimmt, den das bürsten der Haare verursacht? Beinah bin ich versucht an Hyperacusis zu denken, wobei er wohl dann den Rohrbruch selbst im Schlaf wahrgenommen hätte, auch wenn das Wasser nur tropfend kam. – Es mag kleinlich klingen, aber der so formulierte Satz zwang mich zu dieser Überlegung.

Er hatte Paper, Tabak und Gras aus den Taschen seiner Armeejacke gefischt und begann, einen Stick zu drehen.

Dieses Wort in Deutsch wirkte mir hier angezeigter.

Das Eintauchen in dieses Milieu war mir unterhaltsam zu lesen, bilder- und facettenreich umschrieben. Auch wenn der Handlungsstrang mir etwas zufällig erschien, und das Ende die Pointe verdeckt offenbarte, find ich es ein gelungenes Stück. Zum Schluss wurde mir nun auch Jennys Reaktion eher verständlich, wenngleich ich mich nun Frage, welche Antwort ich in dieser Situation ihr in den Mund gelegt hätte. :D

Gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Achillus,

ich schreibe mal Zeug mit, was mir so auffällt:

Berlin Blues
Ich stehe total auf den Titel, deswegen habe ich auch auf die Geschichte geklickt. Ich mag nicht nur die Musik, sondern auch das Wortspiel, es gibt ja den Boston Blues und so als echten Begriff, da fand ich das mit Berlin nett.

Als Lasse erwachte und sich benommen die Augen rieb, stand Jenny auf dem Tisch und fluchte.
Interessanter Name: Lasse. Ohne Wertung, ist mir eben nur so durch den Kopf gegangen, weiß nicht, ob ich den Namen schon mal gehört habe.

Sie hatte im Flur diverse Kleidungsstücke wie Strandgut nach einem Schiffbruch auf einen Haufen geworfen.
ich würde das diverse rausstreichen; entweder zählst du ein paar Sacken, T-Shirts auf, oder es sind einfach nur Kleidungsstücke, finde ich. Ansonsten gefällt mir der Vergleich sehr gut

Lasse bröselte etwas Gras in den Tabak.
"So kann es echt nicht weitergehen, Mann", sagte Jenny.
Okay, bis hier hin habe ich schon mal einen guten Einblick in das Szenario; kurz geschorene Haare, alles-egal-Einstellung, Kiffen, verwahloste Bude, und das anscheinend in Berlin. Macht auf jeden Fall neugierig auf den Rest der Story.

"Kannst dich bei deiner Hausverwaltung bedanken", kommentierte Jenny
"Weil ich die anderen Heizungen auf Anschlag gedreht habe", erwiderte Jenny.
Ist vllt. eine Spitzfindigkeit, ich weiß im Moment auch noch nicht, wie sich das in der Story entwickeln wird, aber diese Synonyme zu sagen gefallen mir nicht besonders, die wirken für mich als Leser etwas "bemüht"; ist vllt. auch eine Geschmacksfrage, aber ich bin Fan vom klassischen "sagen" anstelle von Synonymen, da flutscht der Text irgendwie viel schöner - aber nur meine Meinung.

Im fensterlosen Korridor, nur vom Schein der herabhängenden Glühbirne beleuchtet, tanzten die schwarzgrünen Drachentattoos, die sich um Jennys Brüste ringelten, wie kleine lebendige Schlangenwesen.
Das gefiel mir.

Jenny verdrehte die Augen, setzte ihre Suche im Klamottenhaufen fort und schnaubte verächtlich:
Du schreibst viel mit Adjektiven, das störte mich jetzt auch nicht groß, ist mir eben nur so aufgefallen; aber das verächtlich hier könntest du auch raus streichen, das kommt mir redundant vor

sagte sie, schlüpfte in einen engen Pulli und ging ins Bad.
Lasse sann dieser Bemerkung nach. Durch die geöffnete Tür war Jenny zu hören, die erst im kleinen Badschrank hantierte und sich dann das Haar bürstete.
Ich streiche ungern besserwisserisch mit dem Rotstift in anderne Texten herum, aber bei den unterstrichenen Adjektiven könntest du dir überlegen, ob du sie streichst, einfach, weil man sie in der Story nicht vermissen würde, finde ich

und warf sich im großen Zimmer aufs Sofa.
im großen Zimmer - da hätte ich mir eine bessere Beschreibung gewünscht, als nur, dass das Zimmer groß ist, weil ich dabei keine griffigen Bilder vor Augen habe

Bracke redete sich in Fahrt:
Mhm, ich finde erstens, das ist eine abgedroschene Floskel, und außerdem könntest du das auch streichen; dass er sich in Fahrt redet, merkt man als Leser selbst, wenn man weiterliest

"Mann, der Penner hat in der zehnten
Zehnten groß?

Auf der Straße fiel schwer der Schnee.
Irgendwie hört sich der Satz falsch an; gewollt? Auf der Straße fiel der Schnee schwer., hätte ich jetzt gesagt. Den folgenden Absatz mochte ich: Da will man richtig wissen, was für einen Job Lasse jetzt hat, was er machen muss, wieso er dorthin fährt.

Der Rote war ein Asket und ein Sozialist und ein kluger Kopf. Seinen Namen verdankte er aber nicht seiner Gesinnung, sondern dem Umstand, dass sein langes, stets verwuscheltes Haar leuchtend rot war - so rot, als stünde tatsächlich sein Kopf in Flammen.
Die Beschreibung mag ich total. Ich kann mir den Typ richtig vorstellen, ist auch sehr originell geschrieben, finde ich.

Während Lasse einen Joint baute, begann der Rote, seine eigenen Prophezeiungen zu zitieren:
Mhm, mhm ... manchmal kündigst du vor der wörtlichen Rede an, was dann gesagt wird; ich weiß auch nicht. Ich bin einer von denen, die meinen, das solltest du nicht machen und lieber wegstreichen; da dreht sich dein Erzähler sonst unnötig im Kreis. Aber musst du wissen - ich finde eben, dass es Texte flüssiger zu lesen macht, wenn solche Sätze nicht dastehen.

Einige Momente andachtsvoller Stille folgten.
andachtsvolle Stille ... mhm. Du beschreibst sehr viel mit Adjektiven. Ich mag es kurz und knackig, sowas wie: Danach schwiegen sie eine Weile., oder so, hätte mir besser gefallen; aber gut

Lasse versank in einem angenehmen Gefühl von Wärme und Schwere.
Das ist gut beschrieben, treffend und ohne viel Schnörksel, gefällt mir

"Seit wann rasierst du dir die Möse?" Vor Lasses Augen verschwammen die Bilder, aber dass zwischen Babettes Schenkeln etwas anders war, konnte man nicht übersehen.
"Wach mal auf, Mann. Wir leben nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert."
"Klar, aber ganz kahl?"
"Wieso, gefällt es dir nicht?"
:D Klasse Dialog.

Lasse ließ es dabei bewenden und zog Babette an sich heran.
dabei bewenden gefällt mir irgendwie nicht, einfach, weil es sich - im Gegensatz zum restlichen Erzählton - ungewöhnlich hochgestochen anhört, fällt ein bisschen aus der Reihe, finde ich

"Gummis sind im Badezimmer, im Schrank", half Babette ihm auf die Sprünge.
Also ich will dir mit meiner elendigen Wegstreicherei echt nicht auf den Geist gehen, wenn du die Kleinkrämerei in Zukunft nicht mehr haben willst, sag mir das bitte, manche Leute nervt das ja total ... ich will dir hier bloß zeigen, dass du das Unterstrichene raus streichen könntest, und so deinen Text mehr verdichten könntest. Dass sie ihm nämlich auf die Sprünge hilft, mit dem, was sie sagt, ist schon ersichtlich, finde ich, das bräuchtest du nicht explizit noch mal erwähnen

"Du bist ganz schön dünn geworden", sagte Babette, betrachtete Lasse und streichelte ihre Vulva.
Lasse nahm die Pose eines Meditierenden ein.
"Wie ein Heiliger mit Ständer", kommentierte Babette und spreizte ihre Schamlippen.
Gefällt mir! Besonders der Vergleich mit dem Meditierenden, und dann ist er noch ein Heiliger mit Ständer

Er hatte das Päckchen geöffnet, ein bisschen Gras in den Kopf der bereitgestellten Wasserpfeife gekrümelt und zückte nun sein Feuerzeug.
bereitgestellten könntest du z. B. auch wegkürzen, dass sie bereitgestellt ist, kann sich der Leser denken

An den Wänden hingen geschmackvolle Schwarzweißfotografien,
Was sind denn geschmackvolle Fotografien? Irgendwie kann ich mir darunter nicht so richtig was vorstellen

"Ich habe dir schon x mal gesagt, dass kein normaler Beamter, sich am ersten Mai oder bei so einer Besetzeraktion mit den Autonomen prügeln will."
Das Komma nach "Beamter" ist zu viel

Jo, im Allgemeinen hat mir deine Geschichte gut gefallen, wobei ich auch einige Abstriche machen muss. Aber zuerst das Positive: Ich mochte das Setting, ich mocht es, in dieses Millieu hineinzuschauen, ich mochte das leicht Kaputte, das die ganze Zeit über beim Lesen mitschwingt, das Triste, dieses Drogen-Großstadtding eben. Und ich habe es in einem Rutsch durchgelesen, fühlte mich nicht gelangweilt, ich finde, du schreibst gut, ein paar Feinheiten habe ich dir ja herausgeschrieben, liegt an dir, ob du das annimmst, oder nicht.
Bei den Figuren bin ich irgendwie zwiegespalten: Am Anfang hatte ich die Hoffnung, tief in die Gedanken- und Seelenwelt des Prots einblicken zu können, aber leider erfahre ich nach der ersten Seite relativ wenig über ihn; er schläft mit vielen Frauen, handelt mit Drogen, wohnt in Berlin, kifft; aber ich weiß nicht, ob mir diese Figur in vier oder sechs Wochen noch im Kopf ist - was ich dir damit zu sagen versuche, ist, dass einem Figuren, die aus Stereotypen herausfallen, die Eigenheiten und Individualität haben, in Geschichte plastisch erscheinen und auch lange im Kopf bleiben, einfach, weil sie aus der graue Masse an Gesichtern herausstechen; ich hoffe du weißt, was ich meine. Z. B. der Rote aus deiner Geschichte: Ich finde, der hatte irgendwie was, der hatte Eigenheiten und so. Schmeißt seine Möbel aus dem Fenster gegen Nazikids, ist schlau und links, wohnt in einer Bruchbude. Der war zwar bloß in einer Szene, aber irgendwie hatte ich ihn gut vor Augen - und dafür, dass dein Prot in allen Szenen deiner Story auftaucht, kam ich irgendwie bisschen wenig an ihn ran. Aber gut, ist echt bloß meine Meinung so direkt nach dem Lesen, ich hätte mir in der Hinsicht halt mehr gewünscht, mehr Vergangenheit, wieso der Prot so geworden ist, was ihn antreibt, was für (geplatzte) Träume er hat, so Zeug.
Trotzdem habe ich deine Story echt nicht ungern gelesen, verstehe mich da nicht falsch, ich fand sie gut, hätte mir zwar ein bisschen mehr Drama und Action und sonst was gewünscht, so bisschen Drogendealerprobleme, ein geplatzter Deal, mit dem Stoff geht was schief, was weiß ich, aber ich glaube, das wolltest du gar nicht erzählen; und das Ende mit der Schwangerschaft fand ich gut, da dachte man sich als Leser auch: Scheiße, nein! Jetzt kommt das große Dilemma.
Hoffe du kannst was mit meinen Anmerkungen anfangen.

Grüße!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Anakreon

Das geht ja rassig bei Dir, eine Neue, dabei kam ich bei der Vorgehenden noch gar nicht zum Lesen.

Ja, ich hatte jetzt ein bisschen mehr Zeit fürs Schreiben und wollte gern noch ein paar Geschichten umsetzen, die mir vom Plot her schon länger durch den Kopf gehen. Würde mich natürlich freuen, wenn Du bei der Lana-Geschichte auch noch rein schaust.

Ich las hier mal die ersten Zeilen an, der Meinung sie mir vorzumerken, dann liess mich der Text nicht mehr los.

Yipee!

Hier blieben meine Gedanken hängen. Mir war klar, dass Lasse sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt und er ein Typ ist, dem Satinwäsche im Bett und ein weicher Teppich davor nichts sagen. Dennoch, er muss doch zumindest ein paar Habseligkeiten haben, die versumpfen und ihm nicht gleichgültig sind? Dass die Temperatur dabei angenehm ist, wäre das Letzte, das mir in den Sinn käme, obwohl mir materielle Werte immer ersetzbar sind.

Hm, da hast Du recht. Ich werde die Stelle rausnehmen oder ersetzen, wenn ich den Text überarbeite.

Hier war mein zweiter Hänger, da mir die Reaktion und Antwort von Jenny ungewöhnlich erschien. Letztlich kam ich zum Eindruck, sie müsse es als Anmache betrachten, was in der momentanen Situation mir wiederum eigenartig vorkam.

Ja, das wirkt erst mal etwas schroff und seltsam. Wie Du ja weißt, löst sich das am Ende auf.

Da hat Lasse ein extrem feines Gehör, das er den Schall wahrnimmt, den das bürsten der Haare verursacht? Beinah bin ich versucht an Hyperacusis zu denken, wobei er wohl dann den Rohrbruch selbst im Schlaf wahrgenommen hätte, auch wenn das Wasser nur tropfend kam. – Es mag kleinlich klingen, aber der so formulierte Satz zwang mich zu dieser Überlegung.

Ich verstehe, was Du meinst. In meiner ersten Wohnung stand kaum ein Möbel drin, auch das Bad war leer bis auf ein Regal. Das wirkte wie ein Schallverstärker. Da hast Du wirklich eine Nadel zu Boden fallen gehört, wenn Du im Nachbarzimmer standest.

Dieses Wort in Deutsch wirkte mir hier angezeigter.

Stimmt. Werde ich machen.

Das Eintauchen in dieses Milieu war mir unterhaltsam zu lesen, bilder- und facettenreich umschrieben. Auch wenn der Handlungsstrang mir etwas zufällig erschien, und das Ende die Pointe verdeckt offenbarte, find ich es ein gelungenes Stück.

Vielen Dank fürs Lesen, Anakreon. Ich freue mich, dass es Dir gefallen hat. Es war mein erster Alltags- bzw. Gesellschaftstext, und ich hatte so meine Schwierigkeiten damit. Wenn man quasi autobiografisches Material verarbeitet, dann kommt man nicht drum herum, das auch zu bewerten und einzuordnen.

Meine Eltern, die die Wendezeit mit mehr innerem Abstand betrachten, meinen, dass wir Kids damals alle einen Knacks wegbekommen haben. Ich sehe das auch bei meinen Freunden, die es so im Alter zwischen sechszehn und neunzehn erwischt hat. Viele von uns hat das aus der Bahn geworfen, die neuen Drogen, die neuen Freiheiten, die neuen Notwendigkeiten, sich für eine bestimmte Weltsicht zu entscheiden und zu engagieren, das würdelose Verhalten vieler Erwachsener die zuvor jahrelang Kommunismus und Solidarität gepredigt haben, Veränderungen in Verständnis sexueller Beziehungen und Praktiken… Für einige war es zu viel, die haben sich damals aus dem Gleichgewicht bringen lassen und ihren Schwerpunkt bis heute nicht wieder gefunden und eiern immer noch orientierungslos von einer Katastrophe in die nächste.

Vielen Dank für Deine Zeit!

Beste Grüße, Achillus

Hey Zigga, vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich antworte später, wenn ich etwas mehr Zeit habe.

 

Hallo Achillus,
das Großstadttempo der Erzählung hat mich schnell durch Deine Geschichte getrieben. Nun mal langsam!
Titel: Berlin Blues? Was ist an dieser Geschichte berlinerisch? Sicher, die Erwähnung vom Prenzlauer Berg. Und sonst? So etwas geschieht auch in Klein- und mittelgroßen Städten.
Blues: Ja, sehr schön, zum Heulen schön, tun so erhaben und wenn ein Kind kommt – von wem auch immer –, kotzen sie, die harten Burschen der Szene. Aber die ganze Geschichte bluest einen an: Melancholia.

Als Lasse erwachte und sich benommen die Augen rieb, stand Jenny auf dem Tisch und fluchte. Sie trug nichts bis auf ihre geringelten Kniestrümpfe. Als sie Lasses fragenden Blick bemerkte, sagte sie: "Schau dir diese Sauerei an, Mann!"
Zwar ist das Bild sehr lustig, ‘ne Nackte uffm Tisch, aber dass Lasse erst jetzt aufwacht, lässt mich ihn um seinen Schlaf beneiden? Warum aber steht Jenny auf dem Tisch?
Gähnend rubbelte Lasse über seinen kurzgeschorenen Kopf. Dann sah er das Wasser, das etwa zwei Zentimeter hoch im Zimmer stand. Offenbar war das Heizungsrohr geplatzt.
Hat die Überschwemmung symbolische Bedeutung: Sind die Personen Deiner Geschichte überschwemmt mit Drogen, von Gefühlen, von der Großstadt? Sind sie hilflose Schwimmer im Strudel des Kapitalismus?
"Alles Wichser. Quetschen den Leuten die Miete raus, aber lassen die Häuser verrotten."
Lasse rollte sich zur Seite und angelte auf der Bananenkiste, die als Nachtisch diente, nach Blättchen und Tabak.
"Echt mal", fuhr Jenny fort, "dass Du in diesem Dreckloch nicht wahnsinnig wirst, begreif ich nicht." Balancierend setzte sie hinüber zum klobigen Schreibtisch und von dort auf die alte russische Munitionskiste, in der Lasse seine Klamotten aufbewahrte.
Eine Armutsidylle und ein Zeichen der Verwahrlosung, des Desinteresses an der Lebensgestaltung, eine Leckmichamarschhaltung? Immerhin guter Einfall: In dieser Kiste ist Explosion drinnen.
Jenny als Ordnungsmacht::
"So kann es echt nicht weitergehen, Mann", sagte Jenny.
"Sind deine Titten gewachsen?"
Jenny hatte einen roten Push-Up gefunden. Sie hakte gerade den Verschluss ein. "Das fällt dir jetzt auf, wo ich schon fast weg bin", sagte sie, schlüpfte in einen engen Pulli und ging ins Bad.
Lasse sann dieser Bemerkung nach.
Hier die Ankündigung des Schlusses?

Bracke, ein Paranoiker und Saubermann, die Gegenfigur zu Lasse, bietet die politische Dimension an: Nazis und fittest. Und die Gefahr „Rattek“, die Ratte, der Liebhaber von Jenny, taucht am Horizont auf. Und wieder erscheint eine beinahe nackte Frau, Babette.
Diese fährt Lasse nach Hause und wird auf dem Motorrad im Schnee von Babette befriedigt: kein Unfall!
Mit dem Roten kommt Intellektualität und politisches Bewusstsein ins Spiel.

"Ich habe euch gesagt, dass wir einen Dialog brauchen, dass in diesem Gefühl, verloren zu sein, kein Unterschied besteht zwischen denen und uns." Lasse reichte ihm den Joint, der Rote steckte ihn an und rauchte. Einige Momente andachtsvoller Stille folgten.
"Im Kern", sagte der Rote schließlich, "geht es denen, nicht anders als uns." Er gab Lasse den Joint zurück.
"Wir wollen Gerechtigkeit in diesem Scheißland", fuhr der Rote fort, "und die auch."
Wie schon mal gehabt: Rote und Braune sind gleich, wollen nur Gerechtigkeit in einem "Scheißland“. Welche politische Parteiung unserer Gegenwart vertritt der Rote?
Und am Schluss: Ob er sie noch fickt?
„Seit wann rasierst du dir die Möse?"

Als wäre sie in einer Anti-AIDS Kampagne, verlangt Babette einen Gummi. Immerhin liest die Polizei (Matti) Dante, Melville, Twain, Cervantes…
"Ein Kriminalist muss lernen, selbst die subtilsten Spuren und Schwingungen wahrzunehmen. Er muss verstehen, was ein Krimineller tut und warum er es tut, auch wenn der Kriminelle es selbst nicht genau versteht." Lasse kannte diesen Monolog.
Aus „Psychologie heute“?
"
Die Literatur hilft dabei, die vielfältigsten Motive der Menschen kennenzulernen – natürlich nur, wenn es gute Literatur ist."
Während Lasse sich wieder dem Sofa zuwandte und schließlich mit einem Seufzer in die Polster warf, kam Matti auf den für ihn wichtigsten Punkt: "Ein Kriminalist – und sogar ein einfacher Polizist auf Streife – muss wissen, was einer tut, bevor er es selbst weiß."
Philosophie im Rinnstein? Ist das nicht etwas dick aufgetragen?
Dafür kommt eine Schlägerei ohne ersichtlichen Grund zustande.
"Moment mal, wer ist schwanger?", fragte er, und seine Stimme zitterte ein wenig.
"Rattecks Alte, die Schlampe mit den Tittentattoos", sagte Watzak. "Is noch nicht offziell, aber irgendjemand hat gequatscht."
Lasse schwankte und schaffte es gerade noch, sich zur Seite zu drehen. Er erbrach sich nahe der Stelle, wo noch das Blut des Türken im Schnee schimmerte.
Natürlich ist dies ein symbolisches Kotzen, es wird das Versagen herausgewürgt, vor allem Angst.
So ein wenig kommentierend der Inhalt.
Wie wirkt die Story auf mich? Ich habe sie gespannt gelesen. Gut! Meine Fragen oben signalisieren aber schon Distanz. Eigentlich ist es eine Gesellschaftsstudie, aber dazu ist sie zu kurz. Für eine Kurzgeschichte ist sie nicht kohärent genug. Ich habe den Eindruck, der Verfasser wollte die Welt so beschreiben, wie sie wirklich ist, was nicht geht, denn Literatur ist Literatur ist Literatur und sonst nichts.
So habe ich die Geschichte interessiert gelesen, finde sie aber für die von mir vermutete Absicht, Spannungsfelder aufzubauen (Brau/Rot, Moral/Gewalt, Reliion/Dope …) zu wenig ausgearbeitet. Rohmaterial scheint sie mir zu sein.
Frauen vernaschen, Dope rauchen und damit handeln, das ist der traurige Alltag der Personen. In deiner Geschichte meine ich, die acedia zu spüren, den Mittagsteufel, der einen niederdrückt, dass man alles zu Kotzen findet.
Mehr Lokalkolorit und mehr Sozialstudie, dann würde der „Berlin Blues“ swingen.
Und nackte Frauen sind sowieso überall das Salz in der Suppe der Erzähler.
Herzlichst
Wilhelm Berliner

 

Hallo Zigga,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich finde es toll, wie ausführlich und genau Du den Text analysierst. Das hilft mir auf jeden Fall. Ich habe schon mit der Überarbeitung begonnen und werde viele Deiner Vorschläge umsetzen, denn das meiste davon leuchtet mir ein. Das betrifft vor allem überflüssige Adjektive, das Hin und Her in den Inquit-Formeln, abgestandene Redewendungen.

Was den Background von Lasse betrifft, der ist ziemlich dünn, da hast Du recht. Meine Idee war, ihm die Rolle des Zeugen zu geben. Er ist ein bisschen jenseits von links und rechts, oben und unten. Er ist nicht aggressiv, ein bisschen naiv, jemand ohne starken Antrieb. Das ist aber eben auch Resultat einer Entwicklung, die im Zerfall eines Systems ihren Anlauf nahm, an Dynamik gewann, weil das neue System auf ganzer Linie enttäuschte. Und das Kiffen gab ihm den Rest. Ich überlege, ob ich ihn im Gespräch mit Matti noch etwas mehr Hintergrund gebe. Das ist vielleicht eine gute Idee von Dir.

Ansonsten freue ich mich, dass Du die KG unterhaltsam fandest. Vielen Dank für Deine Hilfe!


Hallo Appo,

danke für Hinweise, die ich alle sehr hilfreich finde. In der überarbeiteten Fassung werde ich einiges davon umsetzen. Das 2x „als“ am Anfang nervt mich auch, aber wie ich es auch umstelle, ich finde einfach keine Variante die mir dann im Gesamtbild des ersten Absatzes besser gefällt. Manchmal ist schreiben schon eine merkwürdige Puzzlearbeit.

Kurz zu Deinen Fragen: Die Kapuze soll Babette überziehen, damit nicht so auffällt, dass sie ohne Helm mitfährt. Der Tresor (hat 91 aufgemacht) war kein rechter Laden, aber die Türsteher waren (nicht nur bei diesem Club) immer ein ziemlich gemischter Haufen, es gab „sone und solche“.

Die Story spielt nicht 23 nach der Wende sondern etwa zwischen 1991 bis 1995. Tresor und Bunker gibt es schon lange nicht mehr, das waren sehr spezielle Läden, in denen Musik gespielt wurde, die man sonst nirgends zu hören bekam. Der Bunker (Reichsbahnbunker Friedrichstraße) hatte harten und ultaharten Techno zu laufen, und das Gefühl in diesem monströsen Bau mit seinen engen Gängen und Nischen war unvergleichlich. Vielleicht muss ich aber noch deutlicher rausbringen, wann das Ganze spielt.

Die Problematik mit Jennys Schwangerschaft hast Du gut auf den Punkt gebracht. Es ist jetzt eigentlich an der Zeit für Lasse, sein Leben zu ändern. Doch ob ihm das gelingt?

Vielen Dank für Deine Hilfe!


Hallo Wilhelm,

das ist ja ein wunderbarer, analytischer Kommentar! Vielen Dank dafür! Ich fand es sehr spannend Deine Gedanken zum Text zu lesen.

Ich habe mich auch gefragt, was das Berlintypische an dem Ding ist. Freunde, die mich aus anderen Städten besuchen und die Szene entweder kennen oder Leute, die mal in der Szene waren, sagen mir oft, dass es hier einen eigentümlichen Mix aus Punk, Berliner Kodder und Philosphie gibt bzw. gab. Die Zeit, in der diese Geschichte spielt war erfüllt von politischen und philosophischen Gedanken. So ungefähr könnten auch 68er gewesen sein, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen.

Ich erinnere mich daran, dass nächtelang diskutiert wurde, als würden sich die Leute zum ersten mal in ihrem Leben fragen, was sie von der Welt wollten, was Gerechtigkeit, was eine gerechte Gesellschaft eigentlich sein könnte beispielsweise. Und Kids die zusammen aufgewachsen waren, standen sich auf einmal in mehr oder weniger feindlichen Positionen gegenüber (Punks, Redskins, Naziskins, Hools, Autonome, Häuserbesetzer, Gothics, Hippies) und alles wild durcheinander.

Ich glaube nicht, dass es in anderen Städten so krass ablief, gerade weil die ehemalige Trennung ja mitten durch die Stadt ging.

Zu Deinen Fragen: Ich wollte Jenny auf dem Tisch stehen haben, nicht nur wegen des Effekts, sondern weil sie sich dort mit trockenen Füßen die Strümpfe anziehen konnte.

Das Gespräch mit dem Roten hat mir Spaß gemacht, es zeigt so lustig, wie damals die Diskussionen abliefen: Von Marx/ Lenin vs Bakunin/ Trotzki kam man zum Penner, der einem schlechtes Dope angedreht hatte und dann zum Thema wer fickt wen und dann landete man wieder bei revolutionären Ideen. Es war wirklich ein bizarrer Mix.

Der Grund der Schlägerei ist, dass Kids, die nicht gelernt haben, miteinander umzugehen, sich in Berlin nicht wirklich aus dem Wege gehen konnten. Es gab ständig Trouble. Oft waren es Szenekonflikte (links gegen rechts), oft waren es Konflikte, mit rassistischer Wurzel, oft waren es Drogen, die die Kids aus dem Osten zunächst nicht kannten und damit überschwemmt wurden, oft war es purer Frust und Überdruss.

Deine Hinweise sind sehr hilfreich, Wilhelm. Ich werde sie in die Überarbeitung einfließen lassen.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,

das ist definitiv eine der Geschichten, die mich so ein wenig gespalten zurücklassen.

Einerseits gefällt es mir wirklich gut.
Ich mochte das Setting. Vor allem die Einstiegsszene finde ich sehr stark, weil du da ziemlich viel transportierst und ich dann schon ein ziemlich gutes Bild deines Protagonisten vor Augen hatte. Ich meine, die Szene, dass da gerade seine Bude absäuft, während er im Bett herumliegt - die finde ich schon ziemlich bezeichnend für ihn.

Mein Interesse war dann auch geweckt und ich war wirklich gespannt, wie es weitergeht. Was mit diesem Lasse passiert.
Und während des Lesens habe ich mich auch gut unterhalten gefühlt. Das sind ja schon einmal die Hauptvoraussetzungen (finde ich jedenfalls) für eine gute Story.

Aber am Ende hat´s mich das Gesamtwerk dann doch nicht so stark begeistern können. Ich denke, das lag daran, dass es mir - insgesamt - doch zu sehr "Momentaufnahme" war. Jeder einzelne für sich stark, aber mir fehlt so ein bisschen der Bogen.
Als er am Schluss von Jennys Schwangerschaft erfährt, wird auch nicht so ganz klar, was ihn denn so stark schockt - dass er der Vater sein könnte oder dass seine Freundin jetzt möglicherweise von nem anderen ein Kind kriegt? Es könnte natürlich auch beides sein, aber so wirklich wissen tut man das als Leser nicht.
Klar, beim Schreiben muss man nicht immer jedes Gefühl und jede Regung bis ins letzte erklären - sonst wär´s ja auch schon wieder langweilig. Aber ich finde - ich kann mir zwar ziemlich gut vorstellen, wie Lasse so ist (von außen), aber ich weiß gar nicht, wie es in ihm aussieht.
Ich denke, in diese Richtung hat deine Geschichte auf jeden Fall noch Potential.

Viele Grüße
die Bella

 

Hallo Bella,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich habe ja versucht, einen Ereignisbogen zwischen der ersten und letzten Szene zu schlagen. Jennys Schwangerschaft korrespondiert mit den Ermahnungen, die am Anfang und im Verlauf der Geschichte an Lasse herangetragen werden, nämlich, er müsse anfangen, sich um sein Leben zu kümmern (Jenny), endlich mal das neue System kapieren (Bracke), aufwachen (Babette), das Gesamtbild ins Auge fassen (Matti) und schließlich ist da sogar Watzak, der ihm rät, weniger zu kiffen.

Alle diese Ermahnungen (von denen einige klug, andere fragwürdig sein mögen) gehen ja in Richtung persönlicher Weiterentwicklung, Erwachsenwerden wenn Du so willst. Und das ist umgekehrt auch das Hauptproblem von Lasse und der Grund, weshalb Jennys Schwangerschaft ihn so hart trifft – er ist eigentlich noch kein Mann, sondern ein Junge, der irgendwann stehengeblieben ist.

Ich habe die erste Version jetzt überarbeitet und stelle sie in Kürze ein. Da hat Lasse dann auch noch einen Hauch mehr Background.

Hab mich über Deine Hinweise gefreut, vielen Dank dafür.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Leute,

ich habe jetzt ein paar Details der Geschichte überarbeitet und einige Vorschläge umgesetzt. Vielen Dank an alle Kommentatoren. Eure Hinweise haben mir geholfen, ein paar Schwachstellen auszuwetzen.

Beste Grüße
Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Achillus,

jetzt hab ich ihn gelesen, Deinen Berliner Blues, weil ich ja doch neugierig war, wie Du das Verrohte, oder Verrohende am Punk beschreiben würdest, das ich so eigentlich nicht erlebt habe.

Ich habe mich auch gefragt, was das Berlintypische an dem Ding ist. Freunde, die mich aus anderen Städten besuchen und die Szene entweder kennen oder Leute, die mal in der Szene waren, sagen mir oft, dass es hier einen eigentümlichen Mix aus Punk, Berliner Kodder und Philosphie gibt bzw. gab. Die Zeit, in der diese Geschichte spielt war erfüllt von politischen und philosophischen Gedanken. So ungefähr könnten auch 68er gewesen sein, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen.

Ich erinnere mich daran, dass nächtelang diskutiert wurde, als würden sich die Leute zum ersten mal in ihrem Leben fragen, was sie von der Welt wollten, was Gerechtigkeit, was eine gerechte Gesellschaft eigentlich sein könnte beispielsweise. Und Kids die zusammen aufgewachsen waren, standen sich auf einmal in mehr oder weniger feindlichen Positionen gegenüber (Punks, Redskins, Naziskins, Hools, Autonome, Häuserbesetzer, Gothics, Hippies) und alles wild durcheinander.

Ich glaube nicht, dass es in anderen Städten so krass ablief, gerade weil die ehemalige Trennung ja mitten durch die Stadt ging.

Das ist eine total interessante Prämisse, weil es ja auch wirklich eine ganz einzigartige lokale und historische Konstellation ist. Ich kann mir total gut vorstellen, dass das genau so war, wie Du das hier beschreibst. Bei uns war das eindeutig nicht so krass, weil wir doch irgendwie in einem System aufgewachsen sind, das wir zwar an einigen Ecken theoretisch ungerecht fanden, das uns aber de facto doch einiges an Stabilität und Freiheit geboten hat, auch wenn wir das niemals zugegeben hätten. Also es ging uns glaub ich weniger darum, dass wir uns irgendwie perspektivlos gefühlt hätten, sondern dass wir wollten, dass jeder ebensolche Perspektiven wie wir haben sollten. So eine abstrakte Unzufriedenheit mit der Gesellschaft ist natürlich was ganz anderes als eine Wut, die aus persönlicher Frustration und Betroffenheit entsteht. Klar, Nazis hatten wir auch und zum Teil diese absurde Überblendung, dass man da plötzlich Punks trifft, die zugeben, mkit Faschos zu saufen. Oder einen Skin-Kumpel, der sich in den Kopf gesetzt hatte, ein paar Fascho Skins "umzupolen", aber dann selbst umgepolt wurde. Aber so im engsten Kreis waren die Fronten immer klar. Und es war auch eindeutig nicht die ganze Jugend politisiert, oder einer bestimmten Fraktion zuzuordnen, so dass man sagen könnte, dass es da tiefe Gräben zwischen Schulkameraden, oder kriegsähnliche Zustände auf den Straßen gegeben hätte. Was haben wir doof geguckt, als wir mal Kumpels im Osten besuchten, als da tatsächlich ein paar Nazis mit Baseballschlägern aus einem Auto sprangen und wir zum ersten Mal richtig um unser Leben laufen mussten. Also dagegen war unsere Punkexistenz wirklich Wattebäuschchenschlacht.
Also ich hätte sehr gerne einen Text gelesen, der mir diese ernsthaftere, düstere Variante ganz nahe gebracht hätte. Einen Text, der eben Deine oben zitierten Erläuterungen in Figuren, Handlung und Gefühl übersetzt. Dann wäre ich ein glückliches Häschen gewesen. Aber so ganz gelingt es dem Text leider nicht. Das liegt so ein bisschen daran, dass er keinen klaren Konflikt, keine wirkliche Handlung und eine etwas schwache Hauptfigur hat. Also der Protagonist treibt da irgendwie so von Station zu Station und redet über die Dinge, um die es im Text gehen soll. Das ist so der Minimalplot, der aus einem Essay eine Geschichte macht. Anstatt dass man bestimmte Positionen durch die Stimme des Essayisten analysieren lässt, verteilt man sie auf Figuren, die miteinander sprechen. Das ist als Geschichte recht statisch. Und so besonders weit kommen die Figuren in ihren Diskussionen auch nie, mal abgesehen davon, dass sich die Gespräche manchmal etwas gestellt anfühlen, damit gewisse Inhalte in die Geschichte hineingetragen werden. Der Königsweg wäre aber für mich gewesen, Handlungen und Begegnungen zu gestalten, in denen diese Problematiken nicht nur diskursiv verhandelt, sondern richtig greifbar werden. Zum Beispiel dieser Bericht von der Schlacht zwischen besetztem Haus und Nazis. Dass man da plötzlich gegen Bekannte kämpft. Das wäre so eine Geschichte gewesen, die das ganze Dilemma in sich trägt und erzählerisch unheimlich viel, nicht zuletzt action und Spannung geboten hätte. Stattdessen wird das Spannende zum Hintergrundbericht und das Langweilige (Held schlurft von Kumpel zu Kumpel) zur Vordergrundhandlung. Das ist taktisch unklug. Es bereitet zwar im ersten Moment weniger Arbeit, aber Lorbeeren wird man sich damit nicht verdienen.
Ganz schade fand ich auch das Ende. Also das ist ein guter Gedabke, dass ihn da erstmals was richtig berührt. Das wird auch Zeit, weil der Leser sonst echt nichts hat, wo er sich emotional drannapfen kann. Nur: Mich hat dieser emotionale Ausbruch am Ende total überrascht, weil ich bis dato nicht den leistesten Schimmer hatte, dass ihm an der Schlangenfrau irgendwas liegt. Klar, wahrscheinlich wird ihm das selbst erst in diesem Moment klar. Aber es hat halt den Effekt, dass ich ihm seine Gefühle da nicht so richtig aubkaufe.

Also das hört sich jetzt vielleicht sehr mäkelig an. Die Geschichte ist auch keineswegs schlecht geschrieben und war angenehm zu lesen. Aber ich hab einfach das Gefühl, dass Dein Grundgedanke für die Geschichte unheimlich viel Potential hat, dem Du hier nicht gerecht wirst. Dafür müsstest Du meiner Meinung nach die Geschichte hier einmal komplett auf links stülpen: Praktische Handlung nach Außen und theoretische Diskussionen nach innen.

lg,
fiz

 

Hallo Feirefiz,

ich kann Deine Bedenken zum Text verstehen, aber ich seh es ein bisschen anders.

Ich finde, man kann einerseits unterscheiden zwischen dem Anspruch, den ein Text an sich selbst stellt und andererseits privaten Erwartungen, die man an einen Text hat. Wenn beispielsweise ein Text vorgibt, eine authentische Mittelaltergeschichte zu erzählen (und keine Parodie) und dann überläuft vor Klischees, dann wird der Text seinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Und nur das kann man ihm vorwerfen, glaube ich. Persönliche Erwartungen andererseits sind eben eine persönliche Sache. Dafür kann man den Text nicht verantwortlich machen. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Aspekten ist aber manchmal schwierig.

Ich wollte ja keine ernsthafte, düstere Beschreibung der jugendlichen Subkultur im Berlin der Nachwendezeit schreiben. Falls das mein Anliegen gewesen wäre, dann hättest Du mit Deiner Kritik völlig recht. Das sehe ich auch so.

Die Geschichte ist ja ein bisschen wie ein Stationsmarsch (Methode im militärischen Training, bei der eine Gruppe oder ein Einzelner durch ein Waldgebiet von Station zu Station läuft, um Granatenwerfen, Schießen, Tarnen etc. zu üben) geschrieben. Lasse wird auf seinem Trip mit den verschiedensten Typen konfrontiert, die ihm alle eine persönliche Betrachtung zu den Dingen liefern. Ich finde schon, dass man da einiges an Konflikten rauslesen kann, die die Leute damals umgetrieben haben.

Ich wollte eine leichte Geschichte schreiben, die einen authentischen Hintergrund in dieser Zeit hat. Sicher ist es auch lohnenswert, mal die Härte der damaligen Zeit in einer Geschichte zu verarbeiten, die ewigen Prügelein, die Straßenschlachten in der Mainzer oder in der Weitlingstraße etc. Aber das wäre dann ein ganz anderes Projekt, und ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich mir soetwas zutrauen würde.

Dass Du die Geschichte langweilig fandest, zeigt vielleicht, dass es mir nicht gelungen ist, die Dinge, die für uns damals neu und abenteuerlich waren (z.B. Drogenkonsum, alternative Lebensentwürfe, verändertes Verständnis von Sexualität) spannend zu beschreiben. Deshalb finde ich Deinen Kommentar sehr hilfreich. Vielen Dank dafür!

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus

Lasse, Bracke, Ratteck, Matti - ich mochte die Namen sofort, sie wirken erfrischend neu und passen gut zum jeweiligen Charakter.
Und irgendwie kennen die sich alle, wie bei einer ehemaligen Clique, bei der sich die gemeinsamen Ziele langsam auflösen und die starken Banden auszufransen beginnen, werden Polizist, bleiben Hausbesetzer, oder sind sonst schief abgebogen.

Die Geschichte selber liest sich flüssig, wirkt authentisch - soweit ich, der die Szene nur vom Hörensagen kennt, das beurteilen kann. Allerdings wird mir fast etwas viel geredet, was den Blues zwar unterstreicht, das Geschehen aber etwas dahinplätschern lässt. So kommt erst am Schluss vorm Tresor so richtig Fahrt rein, und die Schlusspointe sitzt und holt damit den Anfang wieder ein, die gewachsenen Titten eine natürliche Ursache werden lassen und mich nicht mehr an "Bruce Allmächtig" denken lässt. ;)

Wie andere bereits erwähnten, schwimme auch ich eher so mit deinem kiffenden, drogenvertickenden und beischlafenden Prot durch die Geschichte, dabei bleibt er mir eher blass und unnahbar. Und gerade dann, wenn der Konflikt so schön zutage tritt, hört die Geschichte auf. Aber wie ich der anschliessenden Diskussion entnehmen kann, sollte dein Prot auch nicht im Vordergrund stehen, sondern eher wie ein Reiseführer zu den Stationen verschiedener Ansichten über den alternativen (Jugend-)Zeitgeist führen.

Trotz der kleinen Abzüge, deine Kurze hat einige schöne Redewendungen, die Namen hauen rein und du erzählst flüssig. Somit fühle ich mich gut unterhalten, auch wenn sie bei mir - trotz deines Anspruchs an den Text - nicht lange nachhallen wird.


Liebe Grüsse
dot

 

Hallo Dot,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Es ist wirklich ein bisschen erstaunlich, wie viele Leute sich damals gegenseitig kannten. Es gab viele Events (Podiumsdiskussionen, Besetzeraktionen, Demonstrationen, Parties, Konzerte), bei denen man sich immer wieder über den Weg lief. Es war insgesamt eine hyperaktive Zeit. Zwanzig Jahre später dürfte der Bekanntenkreis der meisten von uns auf ein Zehntel zusammengeschrumpft sein. Das ist schon auffällig.

Du hast recht, es wird viel gequasselt im Text. Die Handlungen wirken ein bisschen nebensächlich, was auch am lakonischen Stil der Schilderung liegen mag. Der Konflikt mit Jennys Schwangerschaft war von mir gedacht als ein Sinnbild dafür, dass Lasse jetzt etwas in seinem Leben ändern sollte. Es ist der Startschuss für ein neues Kapitel, von dem der Leser allerdings nicht weiß, wie es sich entwickeln wird.

Freut mich, dass die Geschichte Dich unterhalten hat. Vielen Dank fürs Lesen!

Beste Grüße
Achillus

 

Als Lasse erwachte und sich benommen die Augen rieb

Jemanden am Anfang einer Kurzgeschichte aufwachen zu lassen, ist eigentlich ein allgemein bekanntes "No Go".


Gähnend rubbelte Lasse über seinen kurzgeschorenen Kopf.

"Rubbelte" klingt nicht gut

Lasse rollte sich zur Seite und angelte auf der Bananenkiste, die als Nachtisch diente, nach Blättchen und Tabak.

"Angelte" klingt nicht gut

nachdem ein unzufriedener Kunde ihm mit einem Hammerfaustschlag das Nasenbein gebrochen hatte. Seit diesem Tag litt Bracke unter Paranoia

Bekommt man wegen einem gebrochenen Nasenbein Paranoia?
Hast du diese psychologischen Auswirkungen recherchiert?

Er kratzte sich umständlich den Rücken

Der Satz klingt merkwürdig. Wie kratzt man sich umständlich den Rücken?

Er ließ sich in den lederbezogenen Clubsessel sinken, der dem Sofa gegenüber stand.
Welche Bedeutung für die Geschichte hat es, dass der Sessel lederbezogen ist? Könnte man streichen.

Auf der Straße fiel schwer der Schnee

Wie kann Schnee schwer fallen?

Die Story liest sich in einem Stück eigentlich gut und flüssig.
Aber für mich erzeugt sie keine Spannung, ist einfach eine Momentaufnahme.
Die ordinäre Ausdrucksweise wirkt auf mich irgendwie gezwungen.
Du benutzt eine Sprache, die du selbst scheinbar nicht anwendest, oder die du selten bis nie hörst.
So wirkt es auf mich jedenfalls.
Aber mit viel Übung wird das schon.


Gruß
Raimond

 

Hallo Raimond,

wirklich? Na gut. Danke, dass Du meinem Text Deine Zeit gewidmet hast. Ich stelle bei Deiner Besprechung dieses Textes mal einen Zusammenhang her, zwischen meinem Kommentar zu Deiner Geschichte heute und dem, was dann folgte. Tut mir leid, dass ich Dich damit offenbar verletzt habe.

Deinen Hinweis zum lederbezogenen Sessel werde ich umsetzen. Guter Punkt.

Was die Hinweise zum sprachlichen Ausdruck betrifft, da haben wir wohl einfach einen unterschiedlichen Geschmack. Trotzdem, nochmal danke.

Gruß Achillus

 

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