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Bergwanderung
Sonne hüllte das Tal in warmes Gold unter blauen Himmel. Eine sanfte Windbrise trug den Duft von frisch gemähtem Gras und geschnittenen Blumen durch die Straßen, von Haus zu Haus. Vögel zwitscherten fröhliche Lieder. An jenem Samstagmorgen entschied sich Peter, für ein Erholungswochenende ins nahe gelegene Fichtelgebirge zu fahren. Er mochte die Berge und er genoss es, die unberührte Natur zu beobachten und die Tiere bei ihren Aktivitäten mit seiner Kamera aufzunehmen. Es war vier Jahre her, als er sich für sein neues Leben entschied.
Peter fuhr mit seinem Auto auf den Parkplatz neben der Gaststätte „Zum Berg“ und stieg aus. Er sah die eindrucksvolle Höhe des Berges, das viele Grün, das sich um den Felsen schlang und roch die frische Luft dieser Gegend. Peter zog seinen Rucksack auf den Rücken, nahm die Kamera in die Hand, sperrte das Auto ab und begann zu Wandern. Nach ein paar Metern fiel ihm eine tote Maus am Wegesrand auf. Er war am Fuß des Berges, als er von einem abwärts gehenden, gebeugten Mann mit „Glück auf!“, begrüßt wurde. „Glück auf!“, erwiderte Peter lächelnd und lief mit großausgreifenden Schritten den Pfad nach oben.
Einen Augenblick überlegt er, ob ihm dieser Mann bekannt vorkam. Peter schüttelte den Kopf und bewunderte die farbenfrohe Pflanzenvielfalt. Es war Mai und seit langem kam Peter nicht mehr aus dem Alltagstrott heraus. Er liebte seinen Beruf als Fotograf. Aber oft saß er bis spät abends vor dem Computer und bearbeitete Aufnahmen, sodass er nur selten Unternehmungen tätigte. Unentwegt blieb er am Wegesrand stehen und schoss Fotos von Bäumen, die an den Abhängen standen, von breiten Verwurzelungen, die sich wie ein Netz über den Berg zu spannen schienen und von der Aussicht, die ihm das Gefühl grenzenloser Freiheit brachte.
Nach einer Weile, die Sonne stand hoch über dem Berg, kam er an eine Gabelung. Dort gab es einen Holztisch mit zwei Bänken. Peter strich sich den Schweiß von der Stirn und beschloss, zu rasten. Während er auf seinem Brot kaute und die Aussicht genoss, fiel ihm nahe der Bergwand ein seltsam dürrer Baum auf. Die weißen Äste trugen keinerlei Blätter und wirkten tot. Graues Gebüsch dahinter vermittelte den Eindruck, als sei seit Jahren kein Tropfen Wasser an diese Stelle gelangt.
Nachdem Peter mit dem Essen fertig war und seinen gepackten Rucksack wieder auf den Rücken spannte, lief er zu dem gespenstisch wirkenden Baum. Denn eigentlich kannte er sich mit der Natur und den in dieser Region wachsenden Bäumen gut aus. Als er näher kam und den Stamm abtastete, zog er schlagartig seine Hand zurück. Die Rinde war eiskalt und die Berührung brannte in Peters Finger. Verwundert ließ er den Blick über die verdorrten Büsche wandern, als ob er dort des Rätsels Lösung finden würde.
Zwischen zwei Felsplatten gähnte ein kleiner Spalt, der einer Art Eingang glich. Peter sah um sich. Nervös strich er sich mit der Hand in das Gesicht und über die Haare. Ein letzter Blick über die Schulter. Nachdem er sicher war, dass niemand sonst ihm nahe war, trat er langsam vor in Richtung der Öffnung. Alte Sträucher hingen über dem Eingang, als ob sie versuchten, etwas zu verschleiern.
Als er das Gestrüpp zur Seite hob und durch den Spalt schritt, wurde er von einem Spinnennetz begrüßt. Hastig wischte er es sich aus seinem Gesicht und trat durch die Schwelle. Die Luft war abgestanden und modrig. Der Geruch erinnerte ihn an eine Gruft, in der jahrzehntelang keine Frischluft hereingekommen war. Peter wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und lief ein paar Meter weiter zu einer kleinen Wasseransammlung im Boden. Von oben tröpfelte gleichmäßig Wasser, das sich über die Jahre eine Mulde grub. Rechts davon stand eine verschnörkelte Steintafel. Bei näherer Betrachtung entdeckte Peter, dass es sich um einen alten Runenstein handeln musste. Er strich mit dem Finger über den rechteckigen Stein und fühlte tiefe Gravuren. Fasziniert holte er sein Handy heraus und aktivierte die Taschenlampenfunktion, um sich die Schrift auf dem Stein näher ansehen zu können. Er beugte sich mit seinem Kopf ganz nah an den Stein vor und besah sich die Schriften, als plötzlich ein aufgeschrecktes Tier aus der Dunkelheit kreischend aufflatterte. Es flog auf Peter zu und hätte um Haaresbreite sein Gesicht erwischt. Um Haaresbreite brachte er noch eine schützende Hand vor die Augen und spürte scharfe Krallen, die in seine Hand schnitten. Ein stechender Schmerz durchzuckte Peter und Blut rann von seinem rechten Handgelenk über seinen kleinen Finger. Dabei flossen Blutstropfen auf den Runenstein. Peter schrie und stolperte fast, ehe er erfasste, was genau geschah. Der Schmerz raubte ihm jeden klaren Gedanken. Vermutlich war es eine Fledermaus, die er aus dem Schlaf gerissen hatte. Er wusste es nicht genau. Als er sich seine Hand im Licht seiner Taschenlampe ansah, schnappte er nach Luft. Die Schnittwunde war so tief, dass er in aufklaffendes Fleisch sah. Umgehend erschien sein Schmerz weitaus stärker. Dennoch bemerkte Peter, dass der Runenstein, der bis eben ein alter, viereckiger Stein mit alten Inschriften gewesen war, auf einmal verändert schien. Die Gravuren wurden kräftiger und begannen zu leuchten. Der Boden pulsierte. Ein entsetzlicher Schatten legte sich auf Peters Herz und Eiseskälte verwandelten seinen Atem in sichtbaren Dampf. Etwas Unerklärbares ging in dieser Höhle vor sich. Völlig verstört hastete er zu dem Spalt und flüchtete ins Freie.
Dort atmete er tief ein und genoss die klare Luft und die Wärme, die nach dieser kalten Höhle wie Balsam für ihn war. Er besah sich seine Hand und beschloss sofort heimzufahren. Als er sich nochmal zu dem Eingang umdrehte, glaubte er, ein tiefes Dröhnen aus der Höhle zu hören. Schlagartig nahm er den Weg nach unten zu seinem Auto. Ihm war schwindelig und er torkelte mehr den Weg, als dass er ihn lief. Kurz bevor er den Fuß des Berges erreicht hatte, begegnete er wieder dem gebückten Mann, der nun seltsam griente. Peter hatte für einen kurzen Augenblick den Eindruck, als hätte der alte Mann zwei große Hörner, die auf seinem Kopf türmten. Umgehend schüttelte er diesen Gedanken ab und sah die zwei Baumspitzen, die weit hinter dem Mann emporragten.
Als er am Parkplatz angekommen war, stieg Peter in sein Auto und fuhr ohne Umwege nach Hause. Er drehte das Radio laut auf und versuchte sich mit lauter Rockmusik abzulenken. Der Wetterdienst prophezeite eine stürmische Nacht. Nachdem Peter seine Hand gesäubert und die Wunde soweit wie möglich versorgt hatte, ließ er sich samt Klamotten ins Bett fallen und schlief ein.
Abends zogen dunkle Wolken auf, während die Temperatur rapide sank. Kein Stern war zu sehen. Regen strömte auf den Asphalt. Wind preschte durch die Straßen. Die klappernden Rollläden waren der dunklen Nacht hilflos ausgeliefert. Peter wand sich in seinem Bett hin und her. Sein Kissen war nassgeschwitzt, als er unter Stöhnen plötzlich sprach:
„Nein, bitte nicht! Lasst mich in Ruhe. Nein. Das ist unmöglich. Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Nein, ich habe das nicht getan!“
Mit durchgebogenem Rücken lag er in seinem Bett, die Füße und sein Kopf fest in die Matratze gestemmt.
„Nein! Geht weg von mir! Hilfe!“, schrie er mit zusammengeballten Fäusten. Plötzlich wachte er auf. Er schnaufte panisch und blickte um sich. Niemand war hier. Während Peter über sein schweißgetrieftes Gesicht fuhr, versuchte er, sich an seinen Traum zu erinnern. Dieser war aber schon wieder verblasst. Schmerz, der sich wie Glut durch seine rechte Hand brannte, trieb ihn in Rage. Er sprang auf und eilte zur Küche. Hinter einem Regal in der Speisekammer gab es noch eine letzte Erinnerung an alte Zeiten. Aus Angst eines Tages etwas davon zu benötigen, hielt er sich im Geheimen sein kleines Versteck. Eine glasklare, hochprozentige Flüssigkeit war dort seit vier Jahren gebunkert und bisher nie gebracht worden. Er desinfizierte die Wunde mit Wodka. Es war zwei Uhr morgens und eine Fahrt ins Krankenhaus hätte er nicht ausgehalten. Beim Abnehmen des provisorisch angebrachten Verbands sah er triefenden Eiter. Peter öffnete die Flasche und schüttete sie über die Wunde. Er schrie auf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Der Anblick dieser matschigen Hautrisse raubte Peter den Verstand und das Pochen in seiner Hand war übermächtig. Er hielt es nicht mehr aus. Er nahm die Flasche, setzte an und trank.
Der Augenblick war ein Fluch und Segen zugleich. Er spürte die alten Geister, die sich seiner in jenem Moment wieder bemächtigten. Aber er konnte nicht anders. Er hatte nie gelernt, sich in schwierigen Situation anders zu helfen. Und die Schmerzen der Wunde waren unerträglich. Nach der dreiviertel Flasche schlurfte er zurück in das Schlafzimmer. Als er auf den Treppen nach oben lief, drehte er sich mehrmals um. Er hatte das Gefühl, dass jemand hinter ihm sei und ihm auflauerte. Als er sich umdrehte, war nichts zu sehen. Das Knarzen der Holztreppe war ungewöhnlich laut und er bekam Angst. Ein eisiger Luftzug an seinem Nacken streifte ihn. Als er sich erneut umdrehte, glaubte er, für den Bruchteil einer Sekunde eine schemenhafte Gestalt wahrgenommen zu haben. Er blickte wieder nach vorne und rannte nach oben. Tränen schossen aus seinen Augen. Stimmen in seinem Rücken trieben ihn vor ihnen her. Als er an der Türschwelle war, sah er sich erneut um. Niemand. Doch ihm war, als kämen seltsame Geräusche aus dem Erdgeschoss. Peter war wie versteinert. Er schloss die Türe, sperrte sie ab und legte sich in sein Bett. Anschließend lauschte er weiteren Geräuschen. Sie blieben aus. Es musste an seiner Verletzung liegen. Wahrscheinlich waren seine Sinne beeinträchtigt. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, bekam er einen Schwindelanfall. Im wurde schlecht und sein Sichtfeld war eingeschränkt.
Plötzlich rissen ihn erneute Geräusche aus der Trance. Ein fremdartiges Knurren brachte sein Herz fast zum Stehen. Im Gang hinter der Türe lauerte etwas Böses, das Peter nicht zu beschreiben vermochte. Er konnte das Unmenschliche in jenem Moment fühlen. Feuerrotes Licht schien durch den Türspalt. Grauer Dunst schlich durch die Türritzen und ein dunkles Dröhnen ertönte vom Gang außerhalb seines Zimmers. Obwohl ihm eiskalt war, spürte Peter, wie die Wände glühen und drohten, ihn samt dem Raum zu verbrennen. Peter war nicht mehr imstande einen klaren Gedanken zu fassen. Panisch suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit. Irgendetwas schlug gegen die Türe. Putz bröckelte von der Decke. Etwas raubte Peter die Luft zum Atmen. Er lag keuchend in seinem Bett. Mit letzter Kraft mühte er sich raus und torkelte zum Fenster. Gerade als er dieses zu öffnen versuchte, wurde die Türe aufgeschlagen und ein großes, rötlich schimmerndes Wesen fixierte Peter mit rot lodernden Augen. Regungslos starrte Peter dieses Monstrum an und er spürte, wie ihn der todbringende Blick innerlich zerriss. War der Schmerz seiner Hand einige Minuten vorher nahezu unerträglich, so glaubte er sich in jenem Moment dem Tode nahe. Peter fiel in Ohnmacht, als laute Sirenen heran sausten und Blaulicht die schwarze Nacht erhellte.
Es war Mittag, als Peter aufwachte. Ein Blick durch das Zimmer verriet ihm, seinen Aufenthaltsort. Seine Hand war verbunden und ein Infusionsschlauch steckte in seinem Unterarm. Als er versuchte, sich an vergangene Nacht zu erinnern, öffnete eine Krankenschwester die Zimmertüre.
„Hallo Herr Müller, schön Sie wach zu sehen. Wie geht es Ihnen?“, fragte die grauhaarige Schwester.
„Hallo. Ich, also, mir geht es gut. Wie bin ich hier hergekommen?“, fragte Peter und war sich zu diesem Zeitpunkt erst richtig bewusst, dass er zuletzt noch in seinem Schlafzimmer war.
„Sie kamen heute Nacht mit dem Rettungsdienst. In Ihrem Haus hat es gebrannt. Ihre Nachbarn haben die Feuerwehr gerufen. Aber nun ruhen Sie sich erst einmal aus und kommen Sie zu Kräften. Ich werde Essen für Sie bringen lassen. Benötigen Sie bis dahin etwas?“, antwortete sie Peter und lächelte ihn auf eine beruhigende Weise an. Er war in Sicherheit. Er wusste nicht genau, was in jener Nacht passierte, aber das war jetzt egal. Alles was zählte, war Ruhe und das Ordnen seiner Gedanken.
Eine Zeit lang lag er wach in diesem Bett und konnte sich nur bruchstückhaft an Ausschnitte erinnern. Er wand sich in seinem Bett hin und her und stöhnte, während sein Körper erneut in Schweiß ausbrach. Die Höhle und der seltsame Runenstein erschienen ihm traumartig. Als wäre er niemals wirklich da gewesen. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Die Speisekammer. Der Wodka. Er wurde rückfällig. Der Alkohol, dem er sich so lange entziehen konnte, holte ihn wieder ein. In einer Situation, wie sie gar nicht geben durfte. Die rote Gestalt in seinem Haus, die lodernde Todesgefahr rings um ihn herum. Er musste sich das alles eingebildet haben. Aber das war nicht möglich, zu real erschienen ihm die knurrenden Geräusche, die dicke Luft, dieses fremdartige, dämonische Etwas und die Wunde an seinem Arm. Das konnte er sich auf keinen Fall eingebildet haben. Gedanken überschlugen sich, als er von einem Klopfen an der Türe unterbrochen wurde.
„Guten Tag, Herr Müller. Wie ich hörte, sind Sie aufgewacht. Doktor Satnos ist mein Name und ich wollte mich sofort erkundigen, wie es Ihnen ergeht.“
„Hallo, Doktor. Es geht mir gut, danke. Ich weiß noch nicht genau, was passiert ist. Ich hörte bereits von dem Brand in meinem Haus aber ich kann mich nicht daran erinnern“, antwortete Peter.
„Ja, es hat gebrannt. Sie hatten großes Glück, dass man den Notruf noch gerufen hat. Wissen Sie denn gar nichts mehr? Nun ja, Sie hatten heute Nacht über 2,3 Promille Alkohol im Blut, da wundert mich das auch nicht wirklich“, sagte Doktor Satnos.
„Ich weiß es nicht genau. Es war gestern Abend, ich wollte meine Wunde säubern. Sie hat stark geeitert und...“
„Welche Wunde?“, unterbracht ihn der Arzt.
„Die an meinem rechten Arm. Da wurde ich von einem Tier gebissen“, erklärte er dem Doktor zitternd. Doch als er sah, wie er nur ungläubig angestarrt wurde, stutzte er. Peter sah auf seine Hand. Sie war völlig in Ordnung. Der einzige Grund für den Verband war der, die Infusion zu fixieren. Es gab keinerlei Schnittwunden.
„Herr Müller, vielleicht ist es besser, wenn Sie sich erst einmal ausruhen. Die Medikamente werden noch etwas nachwirken. Ich bin jedenfalls froh, Sie wach und munter zu sehen. In zwei bis drei Stunden werde ich nochmal nach Ihnen sehen“, sagte der Arzt und lief durch die Türe.
Peter konnte es sich genau erklären, aber hatte der Arzt nicht seltsam aussehende, runde Narben an den Schläfen? Wieso kam ihm das Gesicht so bekannt vor? Außerdem wunderte Peter sich, weshalb das Krankenzimmer kein Kruzifix an der Wand hängen hatte. Peter war nicht sonderlich gläubig aber soweit er wusste, gehörte das zur Standardausstattung in Krankenhäusern.
Er lag eine Weile in dem Bett und besah sich die Wände. Auch wenn er Krankenhäuser nie leiden konnte, so hatte er in diesem ein seltsames Gefühl. Die Wände erschienen ihm auf eine skurrile Weise dreckig. Nicht, dass sie nicht achtbar gestrichen waren. Etwas Sonderbares wohnte ihnen inne. Er fragte sich die ganze Zeit, wie die Verletzung seiner Hand so schnell heilen konnte. Er wurde verrückt bei dem Gedanken, sich womöglich doch nur alles eingebildet zu haben. Er beschloss, das Krankenhaus zu verlassen und sich selbst zu überzeugen. Er wusste, dass es ihm nicht möglich war, nach Hause zu gehen. Nicht jetzt, da es einen Brand gegeben hatte. Aber er hatte immer noch seine Klamotten, mit denen er abends eingeschlafen ist. Wenn er flüchten sollte, würde man draußen keinen Verdacht schöpfen.
Peter verließ die Klinik und lief nach draußen. Den Verband am Arm hatte er bereits im Zimmer abgelegt. Er lief vor die Straße. Er marschierte zum ersten Taxi, das er an einem Rondell stehen sah und nannte dem Fahrer die Adresse der Hütte „Zum Berg“. Auf dem Weg dorthin mussten sie an einer Bank anhalten. Peter war froh, den Geldbeutel noch in seiner Hose zu haben. Gerne wäre er in die Tankstelle nebenan und hätte sich ein Bier gekauft. Es blieb beim Wunsch. Er wusste, dass das alles nur verschlimmern würde. Die Fahrt bis zum Gebirge überlegte er sich, wer die Feuerwehr gerufen hatte und wie er das alles seiner Familie erklären sollte. Der Fahrer schaltete das Radio ein und überließ Peter sich und seinen Gedanken. Dieser war froh darüber.
„So, da wären wir. Das macht 85 Euro glatt“, sprach der sonst recht wortkarge Taxifahrer.
„90. Stimmt so. Danke“
Peter verließ das Taxi und nahm ohne Umwege den Pfad nach oben. Er hatte riesigen Hunger und seine Hände begannen zu zittern. Er ahnte bereits, dass er sich vielleicht in die Gaststätte „Zum Berg“ hätte setzen sollen. Aber Peter hatte Angst. Er hatte großes Verlangen nach Alkohol und er wusste, dass er sich nur schwer entziehen könnte. Und er musste nach oben. Jetzt.
Es war 19:00 Uhr, als er den Pfad mit gesenktem Blick beschritt. Nach einer halben Stunde musste er pausieren. Er war müde. Am Wegesrand setzte er sich in das Gras und schloss für zwei Minuten die Augen. Als er erwachte, dämmerte es. Der Mond spendete Licht und noch schwach schimmernde Sterne kündigten eine klare Nacht an. Völlig erschöpft hievte sich Peter auf und lief weiter. Vor Kälte zitternd mühte er sich den Berg nach oben, setzte einen Fuß vor den anderen. Jede Sekunde dachte er jene Gruft, den modrigen Gestank, die Stimmen aus seinen Träumen und diese Teufelsgestalt.
Er war nicht mehr weit von dem Eingang entfernt, als ihn ein mulmiges Gefühl beschlich. Er drehte sich um und sah zu allen Seiten. Es waren nur kleine Tiere, die mit leuchtenden Augen aus den Gebüschen spähten. Endlich gelangte er an die Gabelung. Er blickte zur Innenseite des Weges, direkt auf die Bergwand. Der weiße Baum war verschwunden. Ebenso das abgestorbene Gestrüpp. Da wo gestern noch ein untoter Baum stand, waren auf einmal lebendige Sträucher und farbige Pflanzen. Zudem gab es keinen Eingang in den Felsen mehr. Völlig aufgelöst stand Peter vor der steinernen Wand und schlug gegen den Berg. Er fing an zu schreien und hämmerte immer weiter auf die Felswand ein, bis rote Blutflecken an der Wand hängen blieben.
Plötzlich hielt er inne. Er blieb still und sah panisch um sich. Die Erinnerungen an die vergangene Nacht überschlugen sich. Die Stimmen in seinem Haus, die blutende Wunde und der verrauchte Gang. Dieser monströse Dämon, mit dem höllischen Blick. Sein Herz tobte und versuchte sich durch seine Brust zu prügeln. Peter torkelte weg von der Wand. Ihm wurde übel. Ein dunkles Lachen erscholl hinter ihm mit der Stimme eines tobenden Donners. Als Peter sich umblickte, sah er die gigantische Gestalt auf dem Pfad. Sie hatte zwei Hörner und rote Haut. Benommen starrte Peter auf das abscheuliche Wesen und tapste langsam rückwärts. Plötzlich stieß das Ungeheuer einen lauten Schrei aus und Peter drehte sich um und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen.
Als er an einer Kurve angelangte, blickte er um sich und sah dieses große, zweibeinige Monster immer näher heranspurten. Peter drehte seinen Kopf wieder nach vorne, als er ausrutschte und über den hölzernen Handlauf fiel. Er schaffte es nicht mehr, sich zu halten, und stürzte in die Tiefe.
Bei der später folgenden Beerdigung legten zwei Menschen Fotos von Peter, die ihn inmitten einer Gruppe zeigten, an das Grab. Dort war er in einer anonymen Selbsthilfegruppe zu sehen. Seit einiger Zeit blieb er den Treffen fern.