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Bergfeuer
Bergfeuer
An einem der selten gewordenen Abende, an denen sich die vier einflussreichsten Männer des Dorfes noch zu einem gemütlichen Kartenspiel in der Hinterstube des „Hubertushirschen“ zusammenfanden, störte ein jäher Lufthauch die trägen Rauchwirbel aus dem Pfeiferl des Bürgermeisters, der sich mit vollem Bauch genüsslich zurückgelehnt hatte. Ursache dieser unfeinen Störung der allgemeinen Gemütlichkeit war der Reibinger, der schnellen Schrittes zur Tür hereingepoltert kam, noch bevor die Bedienung auch nur ein Wort herausgebracht hatte.
„I mach’ des alles nimmer mit!“, keuchte der Reibinger, und sein hochroter Kopf verriet, dass er den ganzen Weg von seinem Hof herab gelaufen war. Auch sonst bot er kein schönes Bild: Über die Stallkleidung hatte er offenbar recht hastig einen löchrigen Wolljanker angezogen, der wohl das einzige Kleidungsstück an ihm war, das nicht durchnässt und fleckig war. Die schwitznassen Haare hingen ihm ins Gesicht, und an den Schläfen standen die Adern so deutlich hervor, dass man ihm seinen hohen Blutdruck auf den ersten Blick ansah. Und in seinen Armen hielt er ein großes, blutbeflecktes Bündel Laken, das sich im schnellen Rhythmus seines Atems hob und senkte.
„Jetzt beruhig’ di erst einmal!“, versuchte der Pfarrer ihn zu beschwichtigen, und rief, zur Bedienung gewandt: „Geh, Gitti! Bring dem Reibinger doch a Schnapsl!“
„A Schnapsl brauch i keins!“, schnaubte dieser und warf sein Bündel mitten auf den Stammtisch, so, dass dem Gendarmerievorsteher der Bierkrug über die Hose kippte und das ganze Kartenspiel durcheinander gebracht wurde.
„Da! Das is’ schon die dritte in dem Jahr!“, und als man ihn nur verwundert anglotzte, schlug er die blutigen Laken zur Seite, um den Blick auf den Inhalt freizugeben.
Den vier Männern schlug ein fauliger Geruch entgegen, der sie das erst kürzlich beendete Mahl bereuen und ihre Augen tränen ließ. Auf den schleimigen Laken lag etwas, das entfernt an einen Menschen erinnerte – nein, an eine Kuh! Aber nackert und von blauroter Farbe wie frischer Lungenbraten, mit Vorderbeinchen, die das Totgeborene wohl nie wirklich getragen hätten. Der Hinterleib bestand nur aus aufgequollenen Knollen, die aussahen wie übermäßig befüllte Würste oder grotesk abgebundene Darmschlingen, die Nabelschnur hatte sich um einen behaarten Knochen gewickelt, der komplett widersinnig aus dem Fleisch ragte – und der Kopf endete gleich nach dem Unterkiefer in einem korallenartigen Wulst aus Horn.
„Die Mutterkuh is’ mir wegg’storbn’ dabei!“ Der Reibinger baute sich in seiner vollen Größe vor den Männern auf, so dass sein grobschlächtiges Gesicht von den beiden Hirschgeweihen flankiert wurde, die hinter ihm an der Holzwand hingen, und donnerte: „Die Hex’ muss weg. Ein für alle Mal!“
***
Mit einem rot-weiß karierten Taschentuch wischte sich der Geheimpolizist aus Wien den Schwitz von der Stirn und schaute dem Postauto nach, das gerade hinter einer leichten Biegung im Wald verschwand. Er hatte noch keine dreißig Sommer gesehen, und dies war das erste Mal, dass man ihn so weit in die Berge geschickt hatte. Weiter unten im Tal stieg der Rauch der Dampflokomotive in die klare Bergluft und verlor sich darin, während das Schnaufen der Lok hier oben schon vom unnatürlich lauten Zirpen der Grillen übertönt wurde, das alles noch unwirklicher erscheinen ließ. Der Geheimpolizist aus Wien ließ seinen Blick noch einmal über das sommerliche Tal schweifen, bevor er den schwarzen Hut wieder aufsetzte, seinen Koffer in die Hand nahm und weiter auf das Dorf zu marschierte.
„Wir ham’ schon gewartet auf Sie!“, sagte der Gendarmerievorsteher, dessen Büro von oben bis unten mit den verblichenen Fotografien vergangener Jagdausflüge dekoriert war – „Es is’ jetzt schon a Woche her, seit wir den Herrschaften aus Wien telegrafiert hab’n.“
Links und rechts von ihm saßen zwei Gendarmen, die sorgfältig ihre Dienstwaffen putzten und dabei nur gelegentlich innehielten, um den Geheimpolizisten aus Wien unverhohlen anzuschauen.
„Ihnen hat man doch telegrafiert, dass die Entscheidung ein paar Tage dauert“, entgegnete dieser nervös. „Und wenn sich das Ministerium schon die Mühe macht, ihren Antrag gebührlich zu prüfen, dann hat das auch seine Richtigkeit.“
„Naja, jetzt sind’s ja gekommen …“, sagte der Gendarmerievorsteher mit einem versöhnlichen Lächeln auf den Lippen. „Dann quartiern’s Ihnen erst einmal im Hubertushirschen ein, und danach schaun’ wir weiter.“
Doch dazu sollte es nicht kommen: Von draußen hörten die Männer ein Mädel schreien, und Augenblicke späte flog die Tür auf und die Tochter vom Reibinger stürmte herein, ganz außer Atem.
„Der Vater!“, heulte sie. „Der Vater is’ mit dem Strassacher und den Knechten ’gangen, die Hex’ ausräuchern!“ Und dann verdrehte sie die Augen und kippte um, als wäre mit einem Schlag das ganze Leben aus ihr gewichen.
***
Angeführt wurde die ungewöhnliche Prozession vom Gendarmerievorsteher, der seine vierläufige Jagdflinte nicht wie üblich über die Schulter gehängt, sondern entsichert in beide Hände genommen hatte. In respektvollem Abstand folgten die beiden Gendarmen, die Hände nervös an den Halftern ihrer Dienstwaffen, und das Schlusslicht bildete der Geheimpolizist aus Wien. Die Tochter vom Reibinger hatte man im Dorf gelassen, obwohl sie sich mit Händen und Füßen gesträubt hatte, sobald sie wieder zu sich gekommen war.
Viel gesprochen wurde nicht auf dem Weg nach oben, was dem Geheimpolizisten aus Wien nur recht war, da er sich ohnehin schon schwer tat, mit den stämmigen Dörflern Schritt zu halten. Während sich die Nachmittagssonne also langsam anschickte, zwischen die schneebedeckten Viertausender auf der gegenüberliegenden Talseite zu sinken, ließ die schweigsame Prozession die Gehöfte des Reibingers und des Strassachers unter sich zurück und näherte sich der Baumgrenze.
Die verbliebenen Familienmitglieder sowie die gesammelte Mägdeschaft der beiden Höfe hatte man zuvor in der abgedunkelten Stube des Strassacherhofes beim Rosenkranzbeten angetroffen: Die alte Reibingerin hatte auf der Eckbank am Zirbentisch gesessen, den mehrere Meter langen Rosenkranz um ihre gichtigen Hände geschlungen, und zahnlos Beschwörungen gemurmelt, die als vielkehliges Echo von den Mägden zurückgeworfen wurden. Auf dem Tisch hatte man das Bildnis der Jungfrau Maria aufgebaut, umgeben von unzähligen Wachskerzen und einem abgeschlagenen Porzellanteller, gefüllt mit einer zähen, schwarzen Flüssigkeit, in der die Dotter von drei Eiern geschwommen waren, und über alledem hatte der Geruch von Stall, von Kerzen und von Weihrauch gelegen. Die Stube war bis unter die rauchgeschwärzte Decke voll gewesen, abgehärmte Gesichter mit tiefen Augenhöhlen hatten den vier Männern aus der Dunkelheit entgegengeschaut und den Geheimpolizisten aus Wien frösteln lassen.
Schlussendlich hatte man nicht viel Neues erfahren: Nachdem man im Stall des Strassachers zwei Kühe mit aufgeplatztem Euter und Schaum vor dem Maul aufgefunden hatte, beschloss man, dem Treiben der Hexe, die man für die Vorfälle verantwortlich machte, ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Die beiden benachbarten Bauern hatten ihre Knechtschaft versammelt, und waren bewaffnet mit Sensen, Fackeln, Flinten und einem alten Maschinengewehr, das sich seit dem Krieg im Besitz des Reibingers befand, losgezogen, um für Gerechtigkeit zu sorgen.
Ein einzelner Schuss zerriss die Stille und ließ die vier Männer aufschrecken. Als vom Kar herab wenige Sekunden später das Echo folgte, hatte der Gendarmerievorsteher schon seinen Schritt beschleunigt, und der Geheimpolizist aus Wien bemühte sich schnaufend, den Abstand nicht noch größer werden zu lassen.
***
Die Hütte der Hexe lag friedlich im goldenen Licht der untergehenden Sonne. Aus dem Rauchfang stieg ein dünner grauer Faden schnurgerade in den Abendhimmel, und das Stubenfenster war hell erleuchtet.
Der Gendarmerievorsteher hatte die Gruppe etwas abseits vor der Hütte angehalten und bedeutete dem Geheimpolizisten aus Wien mit der Flinte, dass er doch vorausgehen solle, und so setzte sich dieser zaghaft in Bewegung. Auf halbem Weg drehte er sich nochmals um, und was er in den Gesichtern der Dörfler sah, war nicht nur die verbitterte Entschlossenheit, mit der sie aufgebrochen waren. Er schnaufte noch einmal tief durch, legte die letzten Meter bis zur wettergebleichten Holztüre zurück, und klopfte vorsichtig.
Nichts geschah.
„Frau Wurzer?“
Seine Stimme verlor sich in der milden Abendluft. Er klopfte ein zweites Mal.
„Frau Wurzer, wir wissen, dass Sie da sind!“
Als er zurücktreten wollte um den immer noch abseits stehenden Gendarmen zu bedeuten, die Tür einzuschlagen, wurde diese plötzlich geöffnet, und eine junge Frau blickte dem Geheimpolizisten aus Wien entgegen. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase, blonde Haare die sie zu Zöpfen geflochten hatte, und eine Schürze um den schlanken Körper gebunden.
„Oh, der Herr aus Wien“, lächelte sie, und blickte dann kurz an ihm vorbei: „Und die Gendarmerie … was hat denn Sie um diese Zeit noch zu mir heraufgeführt? So kommen’s doch herein!“
Keiner der Männer machte Anstalten, ihrer Aufforderung nachzukommen, und die beiden Gendarmen spielten nervös mit ihren Dienstwaffen.
„Es liegen Anschuldigungen bezüglich Ernte- und Viehschädigung, Wetterhexerei, Kirchenschändung und schwarzem Zauber gegen Sie vor“, sagte der Geheimpolizist aus Wien, nachdem er seine Fassung wieder gefunden hatte. Er hob an, noch etwas zu sagen, doch da fing die Hexe an, herzhaft über seine Worte zu lachen.
„Entschuldigen’s“, gluckste sie, nachdem sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte.
„Außerdem sind wir hier um den Verbleib der Bauern Reibinger und Strassacher und deren Knechtschaft zu ermitteln“, fuhr der Geheimpolizist irritiert fort.
„Tut mir leid, da weiß i nix“, meinte sie, immer noch sichtlich belustigt. „aber vielleicht wollen’s ja hereinkommen – es is’ ja schon spät, und im Dunkeln wollen’s doch sicher nicht mehr draußen herumirren …“
„Ich möcht’ Sie bitten, dass’ Ihnen nicht widersetzen“, versuchte es der Geheimpolizist aus Wien noch einmal mit unsicherer Stimme. Irgendwie kam ihm alles immer absurder vor – das junge Ding, allein hier auf der Alm, und man war zu viert gekommen, bewaffnet sogar, um sie abzuführen. Und dann lief noch irgendwo in diesen Bergen eine mordlustige Meute herum, die weiß Gott was angerichtet hätte, hätte sie die Alm vor ihm erreicht.
„Schon zu Ihrem eigenen Schutz sollten’s heute nicht allein hier heroben bleiben“, sagte er, und versuchte dabei gelassen, ja vielleicht sogar ein wenig freundlich zu wirken.
„Aber i bin doch gar nicht mehr allein, jetzt, wo Sie da sind“, lächelte sie. „Und jetzt kommen’s herein, i schau, ob ich Ihnen weiterhelfen kann …“
So schlecht gefiel dem Geheimpolizist aus Wien dieser Vorschlag gar nicht, wo doch die Berge schon am Tage so tückisch waren. Er schaute sich um, und bedeutete seinen Gefährten, die noch immer misstrauisch Abstand hielten, näher zu kommen.
„Nein!“
Der Gendarmerievorsteher hatte seine Flinte auf den Eingang der Hütte gerichtet, so dass der mattschwarze Lauf im letzten Sonnenlicht blutrot erstrahlte.
„Net mit uns, Hex!“ Und zum Geheimpolizisten aus Wien bellte er ein kurzes „Zur Seit’n!“.
Die beiden Gendarmen hatten sich auf ein Handzeichen des Gendarmerievorstehers hin in Bewegung gesetzt und kamen mit gezückten Dienstwaffen langsam auf die Hütte zu, ein wölfisches Grinsen auf den Lippen.
„Gendarmerievorsteher! Sein’s nicht unvernünftig!“
„Zur Seit’n hab’ i g’sagt! Sie wiss’n ja gar net, auf was Sie sich da einlass’n!“
„Genug!“ Die Stimme des Geheimpolizisten aus Wien zitterte. „Ich hab’ da die Autorität – also weg mit den Waffen!“
Die Mündung der Jagdflinte des Gendarmerievorstehers flammte auf, und eine Silberkugel bohrte sich in die Wand der Hütte, so, dass kleine Holzsplitter nach allen Seiten wegspritzten. Erschrocken klammerte sich die Hexe an den Geheimpolizist aus Wien, dem die Berührung eine wohlige Wärme durch den ganzen Körper schickte. Eine Ewigkeit später kam das Echo des Schusses vom Kar zurück.
„Noch einmal sag i’s net!“ Der Lauf der Flinte war jetzt genau auf das ungleiche Paar vor der Hütte gerichtet, und die beiden Gendarmen hatten die Hütte beinahe erreicht, als der Geheimpolizist aus Wien sich ein Herz nahm, und den Entschluss, den er wahrscheinlich schon viel früher gefasst hatte, in die Tat umsetzte: So schnell, dass es selbst die erfahrenen Waidmänner überraschte, packte er die Hexe, zog sie zurück ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Die Donnerschläge der Waffen setzten keinen Augenblick später ein, doch die Kugeln konnten das massive Holz nicht durchschlagen. Erst als die Waffen verstummt waren, wagte es der Geheimpolizist aus Wien, die Augen wieder zu öffnen, und da erkannte er endlich, dass es in der Hütte stockdunkel war.
***
Ein andauerndes Geräusch – ein Reißen oder vielleicht auch ein Schreien – weckte den Geheimpolizist aus Wien, aber als er die Augen aufmachte, war es mit einem Mal weg. Er lag auf dem Rücken, und auf seiner nackerten Haut spürte er grobes Leinen.
Das erste, was er sah, war eine grob gezimmerte Holzdecke. Er schaute zur Seite, und merkte, dass er in einer Schlafkammer lag, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Durch die unregelmäßigen Scheiben des kleinen Fensters drang ein Morgenrot, wie es wohl auf keinem Flecken von Gottes weiter Welt so schön sein kann wie hier in den Bergen. Die schwarzen Gipfel standen in Flammen und verwandelten den Himmel in einen Ozean aus Blut, der die Sterne, einen nach dem anderen, in seinem dickflüssigen Purpurrot ertränkte. Von hinten schlang sich ein Arm um ihn, und er erschrak, doch als er sich umdrehte, sah er, dass es nur die Hexe war, die sich im Schlaf zu ihm gedreht hatte, also beruhigte er sich wieder und machte die Augen zu.
***
Das Reißen war die ganze Zeit schon da, aber langsam wurde es immer lauter, und der Geheimpolizist aus Wien wachte erschrocken auf. Er riss die Augen auf, und das Geräusch verstummte.
Auf ihm saß die Hexe, nackert und schweißglänzend, er spürte ihr Gewicht, spürte ihre Haut auf der seinen, und sie sah ihm in die Augen und lächelte. Er fuhr hoch und schlang seine Arme um sie, sein Schwitz mischte sich mit dem ihren, und alles um ihn herum wurde zu einer Symphonie aus nackter Haut: Er spürte das Glühen der Sonne auf dem Rücken, und seine Haut schlug Blasen die sich umgehend mit Blut und Wasser füllten, er spürte die trockenen Schuppen der Schlangen, die sich um seinen Körper wanden und scharlachrote Furchen in sein Fleisch pflügten, er spürte ihre Lippen auf den seinen, und sein Gesicht verbrannte und tropfte ihm vom Schädel wie heißes Fett. Die Hexe lächelte und schaute zum Fenster, er folgte ihrem Blick und sah die weißrot glühende Sonne, sah entstellte Wolkenfetzen, die mit atemberaubender Geschwindigkeit über das Firmament jagten. Die schwarzen Wasser des Styx brachen hinter den Bergen hervor und übergossen den Himmel und die Erde mit ihrer Dunkelheit, so vollständig, bis sogar die Sonne darin versank.
***
Irgendwo, weit weg, hörte der Geheimpolizist aus Wien immer noch das Reißen und das Schreien, doch dann rüttelte ihn jemand an der Schulter, und er wachte auf.
Das erste, was er sah, war das Gesicht des Gendarmerievorstehers, so nahe, dass es fast sein gesamtes Blickfeld ausfüllte, und links und rechts davon, unverhohlen grinsend, aber in respektvollem Abstand, die beiden Gendarmen.
„Das hätt’ i Ihnen net zugetraut, ganz ehrlich“, sagte der Gendarmerievorsteher mit unverkennbarer Zufriedenheit.
„Was … ?“
„Sogar mich habn’s hinters Licht g’führt, und des will was heiß’n!“ Im Gesicht des Gendarmerievorstehers machte sich ein fast andächtiger Ausdruck breit.
Völlig irritiert versuchte der Geheimpolizist aus Wien, sich aufzusetzen, aber da fuhr ihm ein so starker Schmerz in den Leib, dass ihm schwarz vor den Augen wurde.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer behelfsmäßigen Bahre aus zwei langen Stecken, zwischen die man Kleidungsstücke aus grob gewebtem Stoff gespannt hatte – sogar die beiden Gendarmen, die ihn schnaufend talwärts trugen, hatten ihre Uniformjanker dafür hergegeben. Es war schon fast dunkel, aber aus den Augenwinkeln konnte er noch für einen Augenblick den Flecken sehen, auf dem die Hütte der Hexe gestanden hatte: Sie war bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und in weitem Umkreis lagen schwelende Trümmer verstreut. Der Geheimpolizist aus Wien wollte fragen, was passiert war, doch noch bevor er den Mund öffnen konnte, wurde er wieder ohnmächtig.
***
Die Tochter vom Reibinger, die inzwischen zur Reibingerin geworden ist, nachdem ihr Vater im letzten Sommer nicht mehr vom Kar heruntergekommen ist, steht in der Nachmittagshitze auf dem abschüssigen Acker und klaubt Kartoffeln. Die Mägde sind längst Mittag machen gegangen, und sie ist als einzige zurückgeblieben. Hier in den Bergen als fleißig zu gelten bedarf schon besonderer Anstrengungen, aber der Reibingerin macht das nichts aus – die harte Arbeit ist das Einzige, was sie vergessen lässt, das Einzige, was ihr vielleicht sogar ein bisserl Trost spendet, denn in der Kirche war sie schon lang nicht mehr.
Sie hält kurz inne um sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht zu wischen, schaut hinunter auf das Dorf, und schon sind die Erinnerungen wieder da: Wie die Gendarmen mit dem verletzten Geheimpolizist aus Wien vom Kar heruntergekommen sind und nach dem Doktor verlangt haben. Wie man vergeblich nach ihrem Vater gesucht hat – die Bergwacht, die Gendarmerie und viele Freiwillige aus dem ganzen Dorf und den umliegenden Gemeinden.
Trost hat sie dabei gefunden, sich in einem kleinen Kammerl des Pfarrhofs, das nach abgestandenen Weihwasser und welken Blumen gerochen hatte, um den Geheimpolizist aus Wien zu kümmern. Dieser hatte mehrere Tage lang gefiebert, doch dann hat es so ausgesehen, als würde er sich wieder fangen. Sie hat seine Wadenwickel gewechselt und ihm mit einem Tuch den kalten Schwitz vom Gesicht gewischt. Dabei sind ihr seine fein geschnittenen Züge aufgefallen, und sie ist ihm mit ihren Fingern durch das dichte schwarze Haar gefahren, hat seine heißen Wangen gestreichelt und dabei seinen zarten Bartflaum gespürt, und irgendwo dazwischen hat sie sich in ihn verliebt. Von diesem Moment an hat ihr Lebensinhalt nur mehr darin bestanden, den ganzen Tag an seinem Bett zu sitzen, sich um ihn zu kümmern und seinem flachen Atem zu lauschen.
Aber als der Geheimpolizist aus Wien dann wieder kräftig genug war, einzelne Worte über die Lippen zu bringen, hat er nur von der Hex’ geredet, und wie schön sie doch wär’, und dass es ihm so leid tut, und dass sie doch auf ihn warten soll. Da ist sie sich so allein vorgekommen, wie sonst kein Geschöpf auf Gottes weiter Welt je zuvor, hat bittere Tränen geweint, und einen Tag später ist der Geheimpolizist aus Wien dann entschlafen.
Sie merkt, dass ihr eine einsame Träne über die Wange läuft, und wischt sie zusammen mit den Erinnerungen fort. Ihre Hände graben sich wieder in das lockere Erdreich, und klauben die großen Kartoffeln in den groben Jutesack, den sie umhängen hat. Seit die Hexe tot ist, sind die Ernten im ganzen Dorf wieder normal geworden, aber die Ernte in diesem Feld ist so gut wie noch nie zuvor, so weit die älteste Magd sich zurückerinnern kann. Die Pflugscharen haben Knollen in der Größe von Kinderköpfen ans Tageslicht gebracht, und als die Reibingerin erneut in die Erde greift, hat sie eine Kartoffel in der Hand, die noch um einiges größer ist. Und warm. Nicht von der Hitze der Sonne, sondern von innen heraus.
Als sie die große, graubraune Knolle mit beiden Händen hochhebt, beginnt diese plötzlich, zu pulsieren. Wie das Herz einer kranken Kuh, sprunghaft und unregelmäßig, und die junge Reibingerin ist so erschrocken, dass sie sich das Ding nicht einmal wegwerfen traut. Oder will sie etwa gar nicht? Irgendwas an dieser hässlich angeschwollenen Knolle fasziniert sie auf eine obszöne Art, die sie sich noch vor einem Jahr niemals zugetraut hätte. Aus dem Stengel quillt schwarzes, dickes Blut auf ihre Hände, während die Kartoffel immer stärker schlägt. Neugierig drückt die Reibingerin die weich gewordene Knolle, und fingerdicke, weiße Maden brechen durch die dünne Schale, kriechen ihr über die Hände und fallen auf den Acker, wo sie sich in das schattige Erdreich bohren. Das erste Mal, seit sie den Geheimpolizist aus Wien verloren hat, spürt die Tochter vom Reibinger wieder eine Regung in sich, ja mehr noch: eine ganze Reihe verschiedener Gefühle durchströmen sie – Faszination, Neugierde, vielleicht sogar so etwas wie Hoffnung. Nein, eher eine Vorahnung. Die Vorahnung auf etwas Großes.
Hier darf die Kartoffel nicht bleiben, die Mägde würden sie vielleicht entdecken, und so trägt die Reibingerin sie in den Schatten eines Apfelbaumes, wo sie mit einem rostigen Spaten ein Loch aushebt. Liebevoll legt sie die Kartoffel hinein, deren Puls sich inzwischen an ihren Herzschlag angepasst hat, und schüttet lockere, gute Erde darüber.
Als die Mägde wieder auf das Feld kommen, finden sie die Reibingerin wie gewohnt bei der Arbeit vor. Aber die eine oder andere bemerkt ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht der jungen Bäuerin, und hofft, dass es ihr wieder besser geht.
Und wahrlich ist die junge Reibingerin zufrieden: die Saat ist ausgebracht, und jetzt harrt sie der Dinge, die kommen werden.