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Berührungen
Ein Mann erwacht früh morgens durch das surrende Geräusch des Weckers. Zärtlich beugt er sich zu seiner Frau, gibt ihr, vorsichtig um sie nicht zu wecken, einen Kuss und berührt dabei sanft ihre Schulter mit seiner Hand. Er geht hinüber ins Bad, aber die Berührung lässt er da. Sie erzählt noch still und warm von seinem Dasein während er selbst schon längst aufgestanden ist.
Als die Tür ein wenig später ins Schloss fällt, streckt seine Frau, die noch müden Glieder durch und lässt die Nacht von sich abgleiten. Sie erledigt die morgendliche Routine ohne große Begeisterung und ruft danach ihr Kind zum Frühstück. Das Mädchen kommt in die Küche und reibt sich die letzten verirrten Traumbilder aus den Augen. Es kuschelt sich noch ein wenig verschlafen in die Arme ihrer Mutter und holt sich die liebende Berührung, welche ihr Vater zurückgelassen hat, auf ihre zarte Kinderhaut.
Wie jeden Tag, nachdem sie ihr Butterbrot schweigsam, aber mit den wundersamsten Grimassen kauend, verzehrt hat, eilt sie an der Hand der bereits in Zeitnot befindlichen Mutter in den Kindergarten. Ein Toben und Spielen, ein Laufen und übermütiges Durcheinander empfängt sie. Sie begrüßt, wie meist, wenn sie morgens hereinkommt, ihre Tante die am Basteltisch sitzt, mit einer kurzen, aber herzlichen Umarmung.
Die Berührung nimmt also ihren Lauf. Fürs erste über die ausgefransten Haare der Tante gleitend. Danach verweilt sie kurz im Nacken der Frau nicht ahnend wohin ihr Weg führen wird. Ein Junge hat sich beim Gerangel mit einem Freund den Kopf angeschlagen. Er kommt nun zornig und tränenverschmiert, trostsuchend in die Arme der Tante. Liebevoll nimmt sie ihn zur Seite und lässt die Berührung mitfühlend über seinen vom Weinen geschüttelten Rücken entlanggleiten. Es beruhigt ihn dieses Streicheln der Hand und er nimmt die Berührung bald darauf mit, zu seiner kleinen Freundin mit den großen Augen und den lustigen Sommersprossen, in welche er ein bisschen verliebt ist.
Er reicht ihr die Berührung in Form eines freundschaftlichen Stoßes, weil ihm das als angepasst erscheint. Das begehrte Mädchen will diese Berührung nicht haben und sie wirft sie ihm herzlichst mit der offenen Hand zurück in sein Gesicht, wo sie liegen bleibt bis seine Schwester ihn abholen kommt. Behutsam streichelt das einige Jahre ältere Mädchen über seine schmutzigen Wangen und nimmt die Berührung mit einer Umarmung auf. Sie wird begleitet von der flehentlichen Bitte noch ein wenig auf den Spielplatz mit ihm zu gehen.
Die beiden spazieren in den nahegelegenen Park, wie sie es ohnehin geplant hatte. Während der Junge spielt und seine Kindergartenfreundin längst für den Rest des Tages vergessen ist, hält seine Schwester bereits Ausschau nach ihrer ersten großen Liebe. Der junge Mann entdeckt sie schneller und kommt winkend auf sie zu. Sie stehen nahe beeinander und sie schenkt ihm fast scheu eine zärtliche Berührung seiner Augenbrauen, ein Streicheln der Wangen, bevor sie sich sehnsüchtig umarmen.
Es wird ein schöner Nachmittag sein und einer von den beiden wird die letzte Berührung mitnehmen, wenn er sich zu Ende neigt. Und wenn die Kette der Berührungen nicht zum Stillstand kommt, dann wird sie mich eines Tages auch erreichen.