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- Anmerkungen zum Text
Kurzgeschichte Alltag
Für mich ist dieser Text in den Tagen von Corona noch wichtiger geworden.
Viele Menschen erfahren zu wenig Berührung.
Berührung
„Liebe, kannst du dich ein bisschen neben mich legen?"
Erschrocken blicke ich in das faltig bleiche Gesicht, sehe das Flehen in den Augen. „Bitte nicht falsch verstehen." Das Flehen .... brüchig. „Ich will nichts Böses von dir."
Ich schaue ihn an, wie kann er so etwas verlangen? Es ist mir klar, dass dieser fast Neunzigjährige nichts Böses will.
„Herr Moller, ich muss nach Hause, mein Mann wartet mit dem Abendessen auf mich."
Er dreht sich um, wendet mir den Rücken zu.
„Gute Nacht, Liebe."
„Gute Nacht, Herr Moller, bis morgen früh, schlafen Sie gut." Erleichtert aus dem Zimmer zu kommen, schließe ich die Schlafzimmertür.
Im Auto der Sozialstation bleibe ich noch eine Weile sitzen, blicke auf das in den sechziger Jahren erbaute Wohnhaus. Ich bin wütend auf den alten Mann, der hinter den geschlossenen Rollladen im Bett liegt.
Wie konnte er so etwas von mir verlangen?
Ich erinnere mich an meinen ersten Tag in der Sozialstation. Nie zuvor musste ich einen Mann waschen. Eine Kollegin hatte es mir am Vortag gezeigt: Vorhaut nach hinten schieben und vorsichtig das Glied abwaschen.
„Pass doch besser auf, das tut doch weh!" Wütend hatte er mir den Waschlappen aus der Hand gerissen. Dabei das Spülbecken losgelassen, an dem er sich mit beiden Händen festhielt. Er schwankte und nur mit Mühe konnte ich den zitternden Körper halten. Wir waren beide eine ganze Weile sauer aufeinander gewesen.
Inzwischen verstehen wir uns prima, der alte Herr ist mir sehr ans Herz gewachsen.
Aber doch nicht so, dass ich mich zu ihm ins Bett lege, das geht nicht, in Gedanken schüttle ich den Kopf. Was würde denn meine Chefin sagen?
Ich starte den Wagen.
Als ich später in meinem Bett liege, die gleichmäßigen Atemzüge meines Mannes höre, fällt mir der alte Mann wieder ein. Wie verloren er in dem großen Ehebett gewirkt hatte.
Was wäre denn so schlimm, wenn ich mich neben ihn gelegt hätte? Er ist immer allein. Nie nimmt ihn jemand in den Arm.
Du kannst doch nicht? Doch! - So etwas tut man nicht! - Sagt wer? Dieser Dialog in meinem Kopf bringt mich um den Schlaf.
Was wird denn schlimmstenfalls passieren, wenn ich mich das nächste Mal zu ihm lege und ihn ein paar Minuten in den Arm nehme? Er hätte es am andern Morgen wieder vergessen und mir bleibt das gute Gefühl, diesem einsamen Menschen ein bisschen Zuneigung und Körperkontakt vermittelt zu haben. Mein Entschluss ist gefasst.
Pünktlich um 6:00 Uhr öffne ich die Schlafzimmertür. „Guten Morgen Herr Moller, gut geschlafen?“
„Ja, meine Liebe." Wartend sitzt er auf dem Bettrand. Ich schiebe den Rollator vor ihn. Es dauert eine Weile, bis er es schafft aufzustehen. Die schweren Arbeiten als Gärtner bei Wind und Wetter haben ihre Spuren in den Knochen und Gelenken des alten Mannes hinterlassen. Arthrose, Verschleiß und Gicht machen ihm zu schaffen.
Es ist für Herrn Moller unmöglich, die schmale Kellertreppe hinunter ins Bad zu steigen. Deshalb wird er schon seit Jahren in der kleinen Küche gewaschen. Als ich ihm helfe, den Schlafanzug auszuziehen, sehe ich, dass seine Windel fehlt. Ich weiß, es hat keinen Sinn, ihn danach zu fragen. Die Demenz kennt keine Windel.
Das karierte Hemd und die Latzhose sind alles, was der alte Gärtner anzieht, jeden Tag pünktlich zur Arbeit. Ich richte das Frühstück und als er mit dem Essen beschäftigt ist, mache ich mich auf die Suche nach der Windel. Leider ist sein Einfallsreichtum für die Verstecke unerschöpflich. Die Windel in der Suppenschüssel hatte ich Tage lang gesucht, genauso wie die im Gefrierfach des Kühlschranks. Heute ist es jedoch leicht, sie liegt unter seinem Kopfkissen. Wer weiß, wie viele unentdeckte Windeln noch darauf warten, gefunden zu werden.
Es ist ein herrlicher Herbsttag, sonnig und warm, ich öffne alle Fenster.
„Herr Moller, gehen wir nachher etwas in den Garten?"
„Natürlich Liebe, ich hab doch eine Menge Arbeit!“
Im Freien schiebt er seinen Gehwagen zielstrebig zu der Bank vor dem Gewächshaus.
„Est-ce que tu veux que je t´apporte du raisins?" Fragend blickt er mich an.
„Was?“ Entgegne ich verwirrt.
„Das ist Französisch, soll ich dir ein paar Trauben holen?“
„Sehr gerne", antworte ich. Das Gewächshaus hinter uns ist voll mit Weinreben und wenn wir hier auf der kleinen Bank sitzen, pflückt mir Herr Moller immer eine Handvoll Trauben. Nur auf Französisch hatte er mich noch nie angesprochen. Als er wieder neben mir sitzt und ich die Trauben esse, frage ich: „Sie sprechen französisch?"
„Natürlich, ich war in französischer Kriegsgefangenschaft, dort habe ich es gelernt. Meine Kameraden waren sehr froh darüber, denn so konnte ich ihnen immer irgendetwas besorgen." Er erzählt von seiner Zeit in Frankreich.
„Waren sie in Frankreich am Meer?"
„Nein, ich war noch nie am Meer!"
„Nicht mal im Urlaub?", frage ich.
„Urlaub, nein, war ich nie. Wir hatten keine Zeit dafür. Ich musste arbeiten, um das Haus und die Gärtnerei abzubezahlen. Dann haben die Kinder studiert und es war wieder kein Geld da."
Ich spüre, wie seine dünnen Finger meine Hand umschließen und sie ganz leicht drücken. Ich halte still. Fühle die knochigen Finger, die warme, welke Haut, die zarte Berührung der schmalen Hand auf meiner. Ich beobachte ihn, sehe die Ruhe in seinen Augen, das leise Lächeln der farblosen Lippen. Spüre die Zufriedenheit, die er ausstrahlt, eine Ruhe die auch mich umgibt.
Zurück im Haus schließe ich die Fenster. Im Wohnzimmer hängt neben dem Klavier ein Foto. Es zeigt Herrn Moller, seine vor 20 Jahren an Krebs verstorbene Frau und seine beiden Kinder. Daneben hängt die gerahmte Fotografie einer hübschen, jungen Dame.
„Herr Moller“, rufe ich in die Küche. „Wer ist denn die hübsche Frau auf dem Foto?"
„Das ist die Tochter vom Herrn Doktor."
„Ihre Enkelin?“
Zur Bestätigung ein knappes „Ja.“
Ich war es schon gewohnt, dass er von seinem Sohn nur als von dem Herrn Doktor sprach.
Vor zehn Tagen war er achtundachtzig geworden und ich war schon so neugierig auf seine Familie. Der Doktor der Naturwissenschaften hatte sich entschuldigt, er weilte mit Frau und Tochter in seinem Haus auf Mallorca. Wünscht dem Vater alles Gute.
Frau Architektin fand vor lauter Arbeit keine Zeit zu kommen. Es täte ihr leid, vielleicht würde es zu Weihnachten mit einem Besuch klappen.
So feierten wir ohne seine Kinder. Zwei Betreuerinnen der Sozialstation hatten Kuchen gebacken. Ich hatte rosa Rosen, die Lieblingsblumen des alten Gärtners, mitgebracht.
An diesem Abend fragte mich Herr Moller nicht, ob ich mich neben ihn lege.
Pünktlich um sechs öffne ich die Schlafzimmertür. „Guten ...," das Morgen erspare ich mir, das Schlafzimmer ist leer. Auch der Rollator steht nicht wie gewohnt neben dem Bett. „Herr Moller!", rufe ich in den Flur. Er ist schon in der Küche, beruhige ich mich. Ich schließe die Tür. Bevor ich die Küche erreiche, sehe ich seinen Gehwagen an der geöffneten Kellertür stehen. Ich erschrecke und erstarre. Schrecksekunden später renne ich los. Er ist die steile Kellertreppe hinuntergefallen, seine Hand, die immer noch die Windel hält, ist ohne Puls.
Sie kommen alle zur Beerdigung, die Enkelin, der Sohn, die Tochter.