Beppo
Der allmorgendliche Panikschrei mit dem Beppo erwachte ließ ihn schreckhaft zusammenfahren. Im Klang seiner Schreie schlief er abends ein, nur um am nächsten Morgen wieder schreiend zu sich zu kommen.
Die Laute, die aus seiner Zungenhöhle zu kommen schienen, gab es also immer noch. Er hatte nach wie vor keinen blassen Schimmer, wofür er diese verzerrten Geräusche jemals einsetzen sollte. Er empfand diese Fähigkeit mehr als lästig. Die Laute konnten nicht jagen. Sie halfen auch nicht beim Tausch. Sie waren für ihn also vollkommen überflüssig. Dennoch war Beppo zumindest froh darüber, dass er diese Fähigkeit als einer der Ersten besaß – dadurch erhoffte er sich Vorteile gegenüber seinen stummen Artgenossen.
Vermutlich wusste er nur nicht, wie er sie einsetzen sollte, dachte er sich. Dieses Denken, war auch so eine Sache mit der Beppo nicht viel anfangen konnte. In Gefahrensituationen verließ er sich voll und ganz auf sein Bauchgefühl. Große Katze mit langen Zähnen: schnell weg. Große Ehefrau mit langen Zähnen: schnell weg.
Die Rechnung schien bisher aufzugehen. Beppo vertraute stets blind auf seine Intuition. Er hatte gleich zu Beginn klar gemacht, dass diese Laute unwichtig seien. Wie damals als alle anderen so verrückt nach diesem neumodischen Wärmespender namens Feuer waren. Während die anderen Kinder bereits aufrecht liefen, kroch Beppo noch in Buschhöhe herum. Er hielt von solchen Dingen nichts, er war in allen Belangen recht konservativ.
Einfallslos und plump stand die dunkle Höhle am Ende eines schmalen matschigen Pfades da. Im Grunde war es eine Höhle wie jede andere.
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Es war keine sonderlich bemerkenswerte Höhle. Ein wenig einfältig und verschmutzt – geradezu schüchtern schielte die Grotte zwischen all den massiven Nadelbäumen hervor. Sie war eher von der funktionalen Sorte. Nicht gerade eine Vorzeigehöhle in der Mann seine bewusstlose Angebetete hinein schleifen möchte. Dennoch strahlte sie eine gewisse Ruhe aus, wie man sie sonst nur von brennenden Mammuts kannte.
Beppo fand seine Höhle hübsch, wie er nicht müde wurde zu betonen. Er war aber auch der Ansicht, dass ein Tapir, das wohl entstellteste Lebewesen das jemals einen Huf auf die Erde setzen konnte, ein äußerst hübsches Getier war. Dies lag vermutlich auch daran, dass Beppo keinen Ausdruck für die immense Hässlichkeit eines Tapirs kannte.
Hübsch war mehr oder weniger das einzige Wort das ihm bekannt war und so sah er sich gezwungen jeden erdenklichen Anlass hübsch zu finden.
Er war ein sehr ungewöhnliches Geschöpf. Ungefähr sechzehn Jahre alt, groß, dunkelhaarig, hatte das Gesicht eines Frontalzusammenpralls und die Kopfform eines Pfirsichs. Damit war Beppo das vierthässlichste Wesen, welches ein mehr oder weniger ruhmvolles Dasein auf dem Planeten Erde fristen durfte. Das Zweihässlichste aller Geschöpfe war das Maulbärschweinchen – ein kurzsichtiges Tier, das aufgrund seines unbändigen Wissensdranges von sämtlichen Bewohnern des Waldes gemieden wurde.
Kreischend machte sich Beppo auf den Weg in den Wald. Er schrie nicht weil er Schmerzen, oder den Kostenvoranschlag des Gartenpavillons erhalten hatte. Vielmehr trainierte er seine Zungenhöhle, zumindest redete er sich dies bereits seit Stunden ein.
Es war ein verstörender Anblick. Man stelle sich vor wie ein erwachsener junger Mann, mit einem mächtigen Holzspeer bewaffnet, vor sich hin grölend durch den Wald läuft.
Genauso verschreckt reagierten seine Artgenossen. Wären sie nicht bereits an den Anblick gewöhnt, so würden sie vermutlich gedacht haben, dass der Mann verrückt sei.
Aber sie wussten es besser, es war einfach nur Beppo.
Unzählige Jahrhunderte später sollte ein gewisser Dieter B. mit seinem Leibeigenen, einem Schuhfachverkäufer namens Thomas A. aus M., mit dieser abnormen Art des gegenstandslosen Austausches einen Welterfolg feiern.
Und auch hier reagierten viele Artgenossen zu Beginn verschreckt. Bald machte sich jedoch eine allgemeine Erleichterung breit, als sich herausstellte, dass Die einfach nur verrückt waren.
Die Luft duftete frisch nach Nadelblättern. Dichter Nebel hing schwerfällig über dem Morast. Das kniehohe Gras wippte sanft im Wind. Vögel zwitscherten sich kraftvoll gegenseitig zu. Die Natur zeigte sich von ihrer besten Seite, nur Beppo stampfte antriebslos durch das Dickicht.
Er hasste die Natur und alles was damit zu tun hatte.
Schuld daran war ein Vorfall, der sich vor mehr als dreizehn Jahren abspielte.
Gerade einmal drei Jahre alt und somit nach klingonischem Recht bereits volljährig, verließ Beppo seine Familie und seinen Stamm, um eine neue Familie – innerhalb eines Sicherheitsabstandes von weit mehr als vierzig Metern – zu gründen. Dieses gewagte Unterfangen endete damit, dass Beppo, der völlig ausgemergelt und unter Hungerkrämpfen leidend auf der Suche nach Nahrung war, einem badenden Tapir begegnete.
Diese äußerst abscheuliche Erfahrung prägte ihn so sehr, dass er von diesem Tage an in die Mehrfamiliengrotte direkt neben seiner Elternhöhle zog und dort bis zum heutigen Tage im Schutze seines Muttertiers dahinvegetiert.
Und so machte sich dieses mehr als fragwürdige Geschöpf eines allwissenden Zimmermanns auf den Weg.
Wo auch immer dieser Weg ihn führte, es musste sich um einen Irrtum handeln.
Beppo trampelte durch das farbenfrohe Unterholz. In der rechten Hand einen mickrigen Speer, den er bereits seit seiner Einschulung vor zwei Jahren mit sich trug. In der Linken ein fiependes Etwas. Er wusste nicht, wozu er dieses Ding benötigte, denn es hatte auch ohne immer gut funktioniert, aber seitdem alle Es hatten, musste Es Es natürlich auch haben.
Verwirrend, dachte Beppo. Und verwirrend war nicht gut, das wusste er bereits. Aber dann. Mit einem Male zuckte sein bleicher, von Instinkten getriebener Körper zusammen. Was war das?
Geräusche!
…
Er lauschte mit einem Ohr in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war.
…
Pulsierende Etwasse!
…
Stimmen?
…
Er hörte helles Lachen. Ein Wirrwarr aus verschiedensten Lauten. Mal leiser, dann wieder bedrohlich anschwellend. Wer war zu so etwas im Stande? Wer, wenn nicht Beppo selbst? Er musste der Sache auf den Grund gehen.
Mit schweren Schritten ging er voran. Das Dickicht zur Seite schiebend bahnte er sich seinen Weg. Geblendet vom grellen Lichtschein der durch das Gestrüpp strahlte, verließ er den schützenden Wald und trat hinaus auf die sonnige Anhöhe.
Er traute seinen Augen nicht. Noch nie hatte er etwas derartiges geseh… Leiden Sie auch unter Haarausfall? Scheuen Sie morgens den Blick in den Spiegel? Suchen Sie nach einer entspannten und diskreten Atmosphäre um eine Lösung für ihr buschiges Problem zu finden?
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Das war natürlich in keinster Weise zu entschuldigen, Reklame dort wo es niemand für möglich gehalten hatte.
Wütend über seine Artgenossen schritt er bedrohlich auf sie zu. Er wollte sie zur Rede stellen. Und er wollte seinem Gesicht sagen, das er wütend aussehen wollte.
Beppo stand nur noch wenige Meter entfernt, ehe sich sein Brustkorb aufplusterte und er bedrohlich in die Runde blickte. Nicht wütend, aber es war ein Anfang.
„Allo.“, sprach ein kleinwüchsiges Etwas.
Beppo war außer sich. Zumindest war er sich sicher, dass er tief in seinem Inneren außer sich war. Dieses… Ding, wagte es ihn zu provozieren? Ihn, der diese Laute einst als Erstes von sich gab?
Er tat das einzig richtige und ignorierte das kleine Wesen. Just in dem Moment, als er seine Mundhöhle öffnete, die Arme an seinen Oberkörper anlegte und von oben herab einen Laut ausspuckend wollte, platzierte sich ein weiteres Etwas unförmig neben seinem Artgenossen.
„Allo.“, sprach es in derselben hellen Stimmlage.
Beppo platzte förmlich vor Wut. Und dieses Mal sah man es ihm auch an, während unzählige kleine Wesen sich um- und ineinander springend, rennend oder lachend bewegten.
Sie ignorierten ihn, nicht andersherum. Seine Wut steigerte sich ins Unermessliche. Und dann, völlig unverhofft drehte sich eines dieser spielenden Fabelwesen um, betrachtete Beppo mit seinen großen dunklen Augen und begann zu lächeln.
„Mitspilen?“, fragte das Ding, hob dabei in Erwartung an Beppos Antwort die Augenbüsche.
„Ja!“, schallte es nun aus allen Ecken. Alle Etwasse hatten sich ihm zugewandt. „Mitspilen! Mitspilen!“, ertönte es aus einigen ihrer kleinen Mundhöhlen.
Beppo taumelte zurück. Er war geschockt. Unfassbar.
Kann es denn sein?
Kann es denn wirklich sein, das…
„Nein. Ich bin der Erste, der Einzige“, dachte Beppo.
Das erste Etwas unterbrach ihn abrupt.
„Willst du jetzt mitspilen?“
Beppo wandte sich um und rannte davon.
Seine Artgenossen waren nicht stumm, das waren sie nie. Sie schienen es nur vorzuziehen, nicht mit ihm zu sprechen, dies war ihm jetzt klar. Aber war er denn wirklich so schlimm?
Hatte er doch gehofft zumindest in einer einzigen Facette besonders zu sein, so scheint sich sein Traum in Schall aufgelöst zu haben.
Als er den Wald erreichte blieb Beppo stehen. Im kühlen Schatten der Bäume hielt er inne und senkte niedergeschlagen den Kopf. Suchte Trost. Als er… Ball!
Ein ballähnliches Gebilde lag unweit von ihm entfernt im flachen Gras. Sein primitiver Denkapparat konzentrierte sich nur noch auf diese eine Sache.
Ball. Ball. Ball. Ball…
In gebückter Haltung spurtete Beppo los. Fokussierte sein Ziel. So verschwindend gering seine motorischen Fähigkeiten auch waren, öffnete er seine Hand fast schon bewusst in freudiger Erwartung auf seine neueste Errungenschaft, als…
Mit einem heftigen Schlag ging Beppo zu Boden und mit ihm der große Häuptling seines Stammes.
Benommen suchte sein Blick die Umgebung ab. Seine Hirnmasse blieb erstaunlicherweise trotz des harten Aufpralls intakt und weiterhin auf sein Ziel fixiert.
Ball. Ball. Ball…
Er quälte sich auf seine Füße. Der Körper schmerzte, die Glieder kribbelten. Sein Stand war noch unsauber und mit leichten Schwankungen verbunden, als er ihn mit einem heftigen Ruck verlor und erneut den feuchten Waldboden auf seinem Oberkörper spürte.
Der große Häuptling drückte Beppo mit einer Leichtigkeit auf den harten Grund des Waldes. Mit all seiner Kraft versuchte er sich aus dieser Situation zu befreien. Er wedelte vergeblich mit den Armen, in der Hoffnung das Bein des Angreifers packen zu können. Der Griff um seinen Hals wurde allmählig enger. Panik machte sich in ihm breit, er ruderte hilflos vor und zurück.
Die Luft wurde knapper. Die kleinste Bewegung schmerzte.
Plötzlich ertastete seine rechte Hand etwas Unförmiges direkt neben seiner rechten Wade. Er konzentrierte sich auf den einen Versuch und griff hastig danach. Mit einem Male riss er die Hand nach vorne. Der Griff um seinen Hals ließ augenblicklich ab.
Der Häuptling ging hart zu Boden, stöhnend schlug er auf den morastigen Untergrund auf. Orientierungslos suchte sein Blick Beppo.
Der nach der geheimnisvollen Kugel griff und mit einem mächtigen Satz auf seine Füße sprang. Er kniff sein linkes Auge zu und zielte. Mit voller Wucht warf er die Kugel seinem Angreifer gegen den Schädel.
„Horst!?“, krächzte eine weibliche Stimme nur wenige Meter neben Beppo. „Sag‘ mal spinnst du!?“
Die blonde Frau musterte die Beiden ungläubig, als eine weitere Frau dazu stieß. Ihre Augen quollen hervor, der Mund war bis zum Anschlag geöffnet – sie war wohl ein wenig überrascht.
„Was ist denn hier passiert?“, ihre Stimme bebte vor Wut. „Matthias? Kannst du mir das erklären!?“ Konnte er nicht.
Das Hemd war in mehrere kleine Stücke zerfetzt, die unmotiviert an Matthias‘ Körper klebten. Die Jeans war zerrissen. Der Hals übersät mit blutigen Kratzern. Eine farbenfrohe Beule prangte an dessen Schläfe.
„Äh… Ich…“, stotterte Matthias, ehe er von der Frau unterbrochen wurde. „Ich… Äh… Ich!“, äffte sie ihn nach.
„Du hast sie wohl nicht mehr alle, hmm? Kannst du mir mal erzählen wieso es hier wie auf dem Schlachtfeld aussieht? Und was ist mit deinem Hemd!?“
Beppo beobachtete die Beiden und lächelte mit einem breiten Grinsen schadenfroh vor sich hin.
„Was grinst du denn so blöde?“, keifte die blonde Frau und machte einen Schritt auf ihn zu. Ängstlich wich er zur Seite, die Arme schützend vor seine Brust haltend.
„Und was ist mit dir? Wie du ausschaust!“, sie verdrehte die Augen. „Schau‘ dich doch nur mal an!“
Beppo zuckte zusammen und schaute wie ihm befohlen langsam und angsterfüllt an sich herunter.
„Deine…“, sie sackte regelrecht zusammen. „Die Hose war doch erst neu. Und dein Hemd…“
„Komm‘ du mir mal nach Hause, Freundchen. Dann reden wir mal ein ernstes Wörtchen über dein Verhalten. Fremde Männer würgen! Wo kommen wir denn dahin?“, schimpfte die andere Frau. „Ab nach Hause, Horst!“ Die Frau packte den Häuptling kraftvoll am Unterarm und schob ihn mühelos vor sich hin.
„Los komm‘, wir gehen auch!“, sagte die blonde Frau mit Nachdruck. Beppo lief unterwürfig auf seine wütende Ehefrau zu.
„Dein Schu-hu!“, sagte sie und zeigte auf den abgewetzten Turnschuh in der Ecke des Raumes. Beppo beeilte sich, er wollte seinen wahren Häuptling nicht noch weiter verärgern.
„Schmeißt mit Plastikkugeln um sich! Wir sind doch nicht im Affenhaus!“
Als die beiden Männer gingen, ließen sie einige verdutzt dreinschauende Kleinkinder in dem sonst so friedlichen Kinderparadies zurück.