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Beobachtungen über einer Tasse Kaffee
Der junge Mann rückte die Ärmelsäume seines Hemdes zurecht und setzte sich vorsichtig. Er war um die 20 Jahre alt, vermutlich etwas älter, aber dieses Urteil hätte vielleicht durch einen ausgeschlafeneren Gesichtsausdruck revidiert werden können. Präzise und geräuscharm rückte er mit dem Gusseisen-Stuhl an die Tischkannte heran, die Fliesen brachten nur ein gedämpftes Knirschen statt des üblichen Urschreis heraus. Eigentlich ist es Schwachsinn französische Gartenmöbel für das Interieur eines Cafés zu verwenden. Wer kommt auf so eine Idee? Es wird am mangelnden Kapital liegen. Im Sommer wäre eine solche Sitzgelegenheit gar nicht so fehl am Platze. Und überhaupt, was fiel ihm ein, sich innerlich zu beschweren, wenn es doch weitaus wichtigere Probleme in der dritten Welt zu lösen galt. Auf dem Tisch vor ihm befanden sich seine beiden Getränke. Eine große Tasse Kaffee und eine kleine Cola. Zu seiner Linken diffundierte also der nussig-herbe Kaffeeduft, zu seiner Rechten konnte man - wenn man sich denn konzentrierte – die Kohlensäure aus der schwarzen Limonade ausströmen hören. Er räusperte sich und befeuerte eine Zigarette, die er zuvor genauso vorsichtig, wie das vorherige Stuhlrück-Manöver, aus einem versilberten Etui entnahm. Dabei traf ihn ein Sonnenstrahl, der von der gegenüberliegenden Glasfront eines Hochhauses direkt in sein Gesicht reflektiert wurde. Die Fensterseite schien doch nicht die richtige Wahl gewesen zu sein, dämmerte es ihm.
Er war dennoch nicht bereit seine Position zu ändern. Viel zu viel Aufwand. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Cola-Glas. Wie der Morgentau an den Blättern beschlug es von außen, so dass er beinahe schon das frösteln an seinem Handrücken spürte. Der komplette Gegensatz zum Kaffee. Groß, warm, monoton schwarz. Keinerlei erkennbare Bewegung.
Ein jammerndes Kleinkind riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf. Das Café war gut besucht, trotz des stillosen Interieurs. Zwangsläufig sondierte sein Blick den Raum nach dem quengelnden Geräusch. Er visierte die farblosen Gesichter nur sporadisch an und arbeitete mit seinem Blick den Raum ab. Die Gesichter wurden nach einem Sekundenbruchteil sogleich wieder aus seinem Gedächtnis getilgt. Irrelevant. Er nahm einen Zug seiner Zigarette und spülte diesen sogleich mit einem Schluck Cola herunter. Irrelevant, so wie das, was diese Leute bewegt. Was sie dazu bringt, ihr Arbeitspensum abzuleisten, sich eine Doppelhaushälfte im Vorort auf Pump zu kaufen und ab und an die Modekataloge von heute durchzublättern.
Erwischt.
Der kleine Quälgeist von eben taucht unter dem Tisch auf der anderen Seite des Raumes hervor und kichert seine Mutter demonstrativ an. Durch den typischen, wabernden Lautstärkepegel öffentlicher Etablissements hindurch, kann man den Namen des Kindes aufschnappen. Kevin hat eine Cordhose, Schuhe mit Klettverschluss und eine Daunenjacke mit Pelzkragen an. Sein Kopf ragt gerademal knapp über die Tischkannte. Kevins Blick ist trüb, er wirkt jetzt apathisch. Es ist die Art von Blick, die dem gesunden Menschenverstand signalisiert, dass diesem Körper kein wacher Geist inne wohnt. Somit war Kevin diagnostiziert. Das Urteil war nicht ganz sicher, aber würde höchstwahrscheinlich auf vernichtenden Stumpfsinn hinweisen, der sich in Zukunft zu einem tumorösen Gewebe manifestiert und nach und nach den Großteil des Gehirns des kleinen Rackers – nunmehr ein Mann in seinen späten Zwanzigern – einnehmen wird. Natürlich war das medizinisch gesehen vollkommener Unfug, aber der Gedanke amüsierte den jungen Mann. Er spielte gerne gedanklich Metaphern durch und lies sie in seiner Fantasie Wirklichkeit werden.
Die Kaffeetasse zog wieder seine Aufmerksamkeit auf sich. Langsam sollte der Kaffee doch Trinktemperatur erreichen. Ein kleiner in Folie eingeschweißter Keks teilte sich mit der Tasse den Unterteller. Der junge Herr aschte ab. Die Zigarette war bereits zur Hälfte heruntergebrannt, dabei hatte er ihr nicht einmal 3 Züge abringen können. „Darf’s noch was sein?“. Eine Kellnerin war vorbeigehuscht, machte aber auf halbem Wege halt und drehte sich um. Es war ja schließlich ihre Aufgabe den Bedürfnissen aller Gäste gerecht zu werden, nicht nur denen, die den meisten Tumult verursachten. Er schüttelte den Kopf und brachte durch seine Überraschung nur ein kläglich leises „Nein, aber vielen Dank.“ hervor. Die Kellnerin nickte ihm zu, schwang ihr Haupt in die entgegengesetzte Richtung, sodass ihr Pferdeschwanz gehörig mitschwenkte und spurte zu dem Tisch vom kleinen Kevin und seiner Mutter. Die Kellnerin holte ihr Portemonnaie heraus und kassierte die Mutter ab. Der kleine Kevin stöhnte einen unverständlichen Satz hervor, nur das Wort „Keks“ war deutlich zu hören. Die Kellnerin schüttelte den Kopf, sie sprach für das Kind extra langsam und deutlich, wie für einen Schwerstbehinderten und teilte ihm mit, dass die Kekse ausgegangen seien. Kevin verzog das Gesicht, sein Blick wechselte jetzt von der besänftigenden Mutter zur Kellnerin und zurück. Dann glotzt er mit seinen trüben, suchenden Augen durch den Raum, wohl auf der Suche nach einer Ersatzdroge. Die Kekse waren ja schließlich alle. Der junge Mann wendet seinen Blick ab und starrt auf seine Tasse. Der auf seiner Untertasse lungernde Keks war der letzte seiner Art in diesem Etablissement. Es wunderte ihn, dass er nicht schon unter Naturschutz stand. Tapsige Schritte nährten sich dem Tisch. Es war der kleine Kevin, der gierig in Richtung Tasse und dann ausdruckslos auf den jungen Herrn schaute. Im Hintergrund war Kevins Mutter zu sehen, die in Richtung des jungen Mannes schaute. „Darf ich den essen?“, rotzte Kevin hervor. Seine Augen glühten nunmehr vor Begierde. Wie schön es wäre diesem Kind in einem solch günstigen Moment den Ernst des Lebens zu verdeutlichen. Er hatte das Alter erreicht oder vielleicht sogar überschritten, in dem er lernen sollte, mit Rückschlägen umzugehen. Ein Keks war kein verwehrtes Spenderorgan, also würde er es verkraften. „Klar.“, murrte der junge Mann und platzierte den Keks vom Unterteller aus nahe der Tischkannte. Kevin grinste frech, schnappte sich das Gebäck und sprintete zum Ausgang, wo seine Mutter ihn schon erwartete und ihn fragte, ob er auch schön danke gesagt habe. „Jap!“, schleuderte ihr der euphorische Kevin entgegen. Er konnte sich kaum mehr beherrschen.
„Dieser kleine Bastard.“, murmelte der junge Herr in sich hinein. Kevin war vielleicht doch nicht so dumm wie es sein Gesicht suggeriert. Er könnte mal ein guter Opportunist werden. Ein Sozial-Schmarotzer par exellence. Er machte sich an den Kaffee, der nun das einzige war, was ihm blieb. Mit großen Schlücken trank er eifrig die Tasse aus.
Auf dem Boden der Tasse sammelte sich das Kaffeepulver, ähnlich wie bei einem Espresso. Dabei hatte er doch Filterkaffee verlangt. Die Unfähigkeit, die Einfachheit mancher Dinge zu wertschätzen widerte ihn an. Nein, heute musste es eine Hightech-Pad-Maschine sein, die eigentlich niemand braucht. Die einen nur dazu bringt, sich vom Pad-Hersteller abhängig zu machen. Die Tasse war längst leer, aber aus irgendeinem erdenklichen Grund setzte er immer wieder an und versuchte ihr auch den letzten verbliebenen Tropfen zu entlocken. Es war wohl eine Übersprunghandlung, die ihn dazu brachte peinlich berührt und ernüchtert alles zu tun, nur nicht die Aufmerksamkeit der Menschen, die er fast ausnahmslos verachtete, auf sich zu ziehen. Diese Attitüde hatte sich nicht erst durch den Kevin-Vorfall oder die Tatsache, dass er nicht das bekam was er bestellt hatte, ergeben. Nein, sie war viel mehr das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses. Ein Prozess, an dessen gegenwärtigen Ende nur eine einzige, ernüchternde, deprimierende Erkenntnis stand: Die Philanthropie muss blind sein. Sie ist das Ergebnis einer ungesunden, einseitigen Beziehung zwischen einem Mann, der in selbigem Beispiel den Mensch verkörpert und einer herzensguten, aber leider dennoch naiven Frau – der Philanthropie. Die Frau liebt den Mann abgöttisch, bindet sich an ihn, verpflichtet sich seines Erhalts. Dem Mann ist dies weder bewusst, noch weiß er es zu schätzen. Er wiederum, bindet sich an Dinge, die er nicht haben kann wie Schönheit, Reichtum, zuletzt vielleicht auch philosophische Einsicht. Das Ergebnis dieses egoistischen Bestrebens ist in allen Dingen ersichtlich. Seien es mit dem Handy geschossene Selbstportraits, die weniger die Aufgabe eines Dokumentationsprozesses haben, sondern viel eher die bäuerlichen Versionen von professioneller Ästhetik verkörpern oder der tägliche Facebook-Status mit einem klassischen Motivationsspruch beziehungsweise einem Nelson Mandela Zitat. Gerne auch Ghandi, oder Einstein. All dieses Streben, ist nüchtern betrachtet zum scheitern verdammt. Es wird aber unerbittlich angetrieben durch die Hoffnung in den Augen anderer etwas Besonderes, ein Unikat zu sein. Die Selbstinszenierung droht jeglichen gesunden Rahmen zu sprengen. Das aller schlimmste dieses modernen Proletariats war aber eine andere Eigenschaft. Die Ignoranz. Der Zweifel an ihrer Weltanschauung ist dem Durchschnittsmenschen nicht zumutbar.
Der junge Mann gähnte. Seine Zigarette war abgebrannt bevor er einen weiteren Zug nehmen konnte.
Wie sollte er nach dieser Erkenntnis in der Lage sein, immer wenn er nicht durch den Drang zur politischen Korrektheit gezwungen wurde, die Menschheit zu lieben? Abwarten. Vielleicht änderte sich seine Meinung noch. Nur hoffentlich ist die Schachtel Zigaretten bis dahin nicht leer.
Er beschloss zu zahlen und winkte die Kellnerin heran. Nachdem sie ihn abkassiert hatte, gab er ihr ein gutes Trinkgeld und erbarmte sich kurzfristig zum gesellschaftlich verpflichtenden Smalltalk.
„Sagen sie mal, kriegt man hier auch Hustensirup?“, fragte er.
„Hustensirup?“, sie schaute ihn befremdlich an.
„Na diese etwas zähe Flüssigkeit, die den Hustenreiz lindert. Ich habe eine Bronchitis.“
„Äh, das ist ein Café, wir servieren hier Kaffee!“, entgegnete sie nun endgültig verwundert.
„Das dachte ich anfangs auch.“, murmelte er leicht kopfschüttelnd und begab sich zum Ausgang.