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Benji muss weg
Dass Thierry wirklich an alles gedacht hatte, wurde Saskia erst eine oder zwei Wochen später klar, als sie sich nach und nach an mehr Einzelheiten erinnerte und ihr langsam klar wurde, dass sie festsaß.
Dass es mit Thierry und Benji nicht lange gut gehen konnte, war schnell klar gewesen. Benji war kein Kind, das viel schlief. Abends tauchte er immer wieder heulend in der Wohnzimmertür auf, rieb sich mit dem Fäustchen die Augen, hatte den Schnulli verloren oder sonstwas. Und jeden Morgen kam er um halb sechs angetrottet, mit kiloschwerer Windel und nass bis unter die Arme. Als Saskia noch alleine war, hatte Benjis Gesellschaft sie nicht so gestört. Sie hatten sich wohl beide daran gewöhnt, dass er abends warm in Mamas Arm und eine Decke eingemummelt auf dem Sofa lag. Das Fernsehen störte ihn überhaupt nicht beim Einschlafen, und Saskia fand es schön, gelegentlich auf sein rosiges Schlafgesichtchen hinunter zu schauen.
Aber jetzt wollte sie lieber mit Thierry schmusen, ohne Benji. Thierry meinte, sie hätte Benji zu sehr verwöhnt, und es sei unnatürlich, dass ein Kind immer bei der Mutter schlafen wolle. Aber Benji ließ sich nicht so leicht umerziehen. Er wollte nicht in seinem Bettchen bleiben, und weil er schon über die Stäbe klettern konnte, war nichts zu machen.
„Schon wieder!“ schnaubte Thierry, rückte von Saskia ab und zog seinen Reissverschluss hoch. „Überhaupt keine Privatsphäre hier!“
Saskia sprang vom Sofa und hob den greinenden Benji hoch. Sie roch seinen vertrauten Duft und spürte, wie sein kleiner Körper sich an sie schmiegte.
„Was soll ich denn machen?“ jammerte sie. „Ich kann ihn doch nicht im Bett anbinden!“
„Dann schließ einfach mal die Zimmertür zu. Der muss das doch mal lernen, dass abends für ihn Schluss ist.“
Aber Benji begann hinter der Tür so zu schreien, dass Saskia Angst vor den Nachbarn bekam und wieder aufschloss. Der schöne Abend mit Thierry war durch das ganze Theater natürlich völlig ruiniert.
Und Benji ruinierte überhaupt vieles. Es war unmöglich, an den Wochenenden Zeit für beide, Thierry und Benji, zu finden. Jetzt, da sie wieder einen Freund hatte, wäre sie gern mal mit ihm ausgegangen und hätte seine Freunde kennengelernt. Sie hätte sich auch gerne mit Thierry bei ihren eigenen Freunden gezeigt, so weit sie nach den zwei Jahren mit Benji überhaupt noch Freunde hatte. Aber statt dessen saß sie wie angenagelt in der Wohnung!
„Komm doch mit, ein bisschen im Park spazieren.“ schlug sie Thierry schüchtern vor.
„Nee, das mach mal alleine.“ wehrte er ab. „Ich geh in der Zeit nach meiner Wohnung gucken.“
Seit er bei Saskia wohnte, ließ er ein paar Kumpels in seiner eigenen Wohnung schlafen und hatte dadurch ganz schöne Einnahmen. Jetzt bekam Saskia Angst, er könne die Freunde wieder aus der Wohnung werfen und bei Saskia ausziehen. Die Stimmung war schlecht. An dem Morgen, als es gerade im Bett schön geworden war, war wieder Benji angetrottelt gekommen, den Teddy im Arm: „Mama...“. Saskia war wie ein geölter Blitz aus dem Bett gesprungen, hatte Benji gegriffen – „Warte, Thierry, ich bin gleich wieder da!“ hatte sie gefleht – hatte Benji eine trockene Windel angezogen und ihn mit einem warmen Milchfläschchen und all seinem Lieblingsspielzeug wieder in sein Bettchen gelegt – „Komm, lass die Mama noch ein bisschen in Ruhe, sei lieb!“ – und war wieder zu Thierry ins Bett geschlüpft. Aber nichts war mehr gegangen. Die Enttäuschung hatte sie zum Weinen gebracht.
„Siehst du.“ sagte Thierry. „So unglücklich ist mein Sternchen jetzt. Das würde Benji gar nicht wollen, dass seine Mama so unglücklich ist.“
Und er hatte Saskia auf die Stirn geküsst und traurig angesehen.
Später in dieser Woche machte ein Kumpel Thierry ein gutes Angebot, und er kaufte sich einen richtig schönen, dunkelblauen Audi mit allen Schikanen. Saskia stand mit Benji auf der Hüfte neben dem Auto auf der Straße und staunte.
„Auko.“ sagte Benji mit dem Schnuller im Mund.
„Toll, ne?“ strahlte sie ihn an.
Thierry strich um den Wagen herum und schien nach Staubkörnchen auf der Karosserie zu suchen. Saskia spähte ins Innere.
„Dann brauchen wir bloß noch einen Kindersitz.“ sagte sie.
„Wie, Kindersitz? Da kommt mir kein Kindersitz rein!“ schnappte Thierry. „Ich lass mir doch die Ledersitze nicht vollkotzen!“
Saskia schluckte erschrocken. „Aber – “, wandte sie schließlich ein, „dann können wir ja nie zusammen irgendwo hin fahren.“
„Das machen wir schon.“ sagte Thierry. „Mir fällt schon was ein.“
In der Nacht machten sie eine Spritztour, als Benji endlich eingeschlafen war. Thierry ließ es sogar zu, dass er auf dem Sofa bei Mama lag, bis er richtig fest schlief, dann trug Saskia ihn vorsichtig in sein Bettchen und sie warteten atemlos noch zehn Minuten, ob er wirklich nicht wieder aufwachte. Bevor sie gingen, schloss Saskia zur Sicherheit seine Zimmertür doppelt zu.
Und dann fuhren sie in die Augustnacht, zuerst durch die die bunterleuchtete Stadt, dann ein kurzes Stück richtig schnell über die Autobahn, und dann am Rhein entlang zurück. Auf einem dunklen Parkplatz am Ufer hielt Thierry an, sie stiegen aus und beobachteten eine Zeitlang die erleuchteten Frachtschiffe, die auf dem schwarzen Wasser flussauf und flussab stampften.
„Ich bin schon ewig nicht mehr nachts draussen gewesen.“ sagte Saskia verträumt.
„Schade um dein Leben.“ antwortete Thierry. „Du hättest so viele Chancen, du mit deiner Model-Figur! Ich wollte eigentlich mal ein paar Aufnahmen von dir machen, so für eine Agentur. Ich weiss genau, dass du einen Vertrag bekommen könntest.“
„Echt?“ Sie saugte das Kompliment wie ein Lebenselixier in sich auf.
„Hundert Pro.“ sagte Thierry. Dann lachte er leise und nahm ihre Hand. „Komm, wir probieren mal aus, ob die Rückbank bequem ist.“
Es war der schönste Abend seit hundert Jahren.
Aber dann kam alles zusammen. Thierry fand es sinnlos, Probeaufnahmen von Saskia zu machen.
„Es ist vollkommen unrealistisch für eine Frau mit Kind.“
Hätte er doch lieber nie davon gesprochen!
Und dann sagte der Kinderarzt, Benji spräche nicht genug für sein Alter.
„Und es klang so, als wäre das meine Schuld!“ erzählte Saskia Thierry empört. „Ob ich denn genug Bücher mit ihm anguckte und immer viel mit ihm spräche, bla, bla. Was soll ich denn machen? Immer wollen alle was von mir!“
Thierry schloss sie in die Arme und gab tröstende Geräusche von sich. „Es ist nicht deine Schuld!“ versicherte er ihr. „Mit dir ist alles in Ordnung. – Er ist aber schon ein bisschen langsam in allem, findest du nicht?“
Saskia prallte zurück. „Langsam?“ hauchte sie. „Benji?“
Thierry zögerte. „Ist ja süß von dir, dass du das nicht so merkst. Bist halt seine Mama. Vielleicht hat er wirklich hier nicht die besten Chancen. Sei doch mal ehrlich, was hat er denn schon vom Leben? Vielleicht braucht er wirklich bloß ein bisschen mehr Förderung.“
Allmählich wurde Saskia klar, wie sehr sie sich über ihre Beziehung zu Benji getäuscht hatte. Natürlich war sie, vor Thierry, oft einsam gewesen, aber es war ihr als löbliches Opfer um Benjis Willen erschienen. Sie wollte immer für ihn da sein, wie es sich für eine Mutter gehörte. Aber Thierry sagte, sie habe ihn damit nur verzärtelt, in seiner Selbständigkeit eingeschränkt und seine Entwicklung behindert.
„Du hast dich damals allein gefühlt, das ist klar.“ sagte er. „Du hast ihn aber in der Zeit zu eng an dich gebunden. Und dein eigenes Leben ist dabei auch den Bach runter gegangen.“
Und auch ihre eigene Beziehung zueinander, Thierrys und Saskias, sei gefährdet, sagte er. „Du bist viel zu sehr auf dein Kind fixiert, du schadest nicht nur ihm, sondern vor allem auch dir und mir.“ Und er schloss sie in die Arme und flüsterte: „Du musst auch mal an uns denken. Ich liebe dich doch.“
Saskia ließ Benji jetzt immer länger hinter der zugeschlossenen Zimmertür schreien. „Einmal muss er das doch lernen.“ seufzte Thierry. „Halt das jetzt mal durch, Saskia.“
Ein paar Tage später hörte sie ihn im Treppenhaus mit der Nachbarin sprechen.
„Ja, wir wissen auch, dass er viel schreit. Es geht ihm im Moment hier nicht so gut. Wir geben ihn sowieso wahrscheinlich bald zu Saskias Schwester, die hat selber Kinder, da wäre es viel besser für ihn. So als Einzelkind, das ist doch nichts. Und dann kann Saskia auch wieder arbeiten, und fällt nicht mehr dem Steuerzahler zur Last.“
Sie stand hinter der Tür und lauschte verblüfft auf das unverständliche, aber zustimmend klingende Gemurmel der Nachbarin.
„Ich habe doch überhaupt keine Schwester!“ rief sie aus, als Thierry die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. „Warum sagst du denn so was?“
„Damit sie Ruhe gibt.“
„Und das mit dem Steuerzahler, was sollte das denn heissen?“
Er winkte ungeduldig ab. „Das hab’ ich doch nur für die die blöde alte Kuh gesagt. – Aber es wär doch schon gut, wenn du ein bisschen Geld verdienen könntest, oder? Dann könnten wir uns auch mal was leisten, mal mit dem Auto raus fahren, vielleicht sogar übers Wochenende...“
Ein paar Abende später standen sie beide in Tränen aufgelöst an der gleichen Stelle hinter der Wohnungstür. Benji brüllte hinter der Kinderzimmertür, und Thierry hatte nach langem Hin und Her wutentbrannt seine Schuhe angezogen und angekündigt, er werde im Auto ‚oder sonstwo’ schlafen. Saskia hatte ihn nicht gehen lassen, geschluchzt und sich an ihn geklammert, ihn angefleht, sie nicht im Stich zu lassen.
„Wir müssen eine Lösung finden.“ sagte Thierry, dem das alles auch nahe ging. „Mensch, Saskia, Sternchen, denk doch mal nach! Das hier macht uns doch alle drei kaputt! Wegen Benji gehen drei Leute drauf! Unsere Liebe...“
Und so hatte Saskia schließlich seinem Plan zugestimmt.
Am Samstag kam Thierry aus der Stadt und hatte lauter brandneue Klamotten für Benji gekauft. Er schnitt alle Etiketten ab und verbrannte sie im Waschbecken. Saskia war wie gelähmt, aber immer, wenn sie Einwände vorzubringen begann, lächelte Thierry nur geduldig und sagte, er verstünde ihre Gefühle, aber sie müsse jetzt mal konsequent und nicht so kindisch sein. Sie solle ihm vertrauen und an die Zukunft denken.
An dem Abend brauchte Benji überhaupt nicht ins Bett zu gehen. Statt dessen zog Saskia ihm die neuen Sachen an, in denen ihn noch nie jemand gesehen hatte, und dann durfte er wieder auf dem Sofa schlafen. Kurz vor Mitternacht fuhren sie schon los. Sie fuhren auf der Sauerlandlinie immer weiter, Stunde um Stunde, Benji schlief auf der Rückbank, und Saskia saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz. Manchmal döste sie ein. Sie kamen in Gebiete, von denen Saskia nur vom Hörensagen wusste, Thüringen, Sachsen, Städte und Orte, deren Namen sie noch nie gehört hatte. Um sechs Uhr wachte Benji auf, und Saskia musste sich mit ihm nach hinten setzen, um ihn festzuhalten, weil kein Kindersitz da war. Einmal hielt Thierry an, und Saskia gab Benji ein paar Kekse zu essen und zog ihm eine frische Windel an.
Aber es war noch zu früh am Tag.
„Wie heisst du?“ fragte Thierry Benji.
„Benji“, zischelte der um den Schnuller herum. Es hätte auch Benny oder Danny heissen können.
„Und wie weiter?“
Keine Antwort. „Wie heisst du weiter?“ Benji guckte nur.
„Und wie heisst deine Mama?“
„Mama.“
„Und wo wohnst du?“
Keine Antwort.
„Wo ist dein Zuhause?“
„Suhause.“
Sie fuhren noch ein bisschen weiter, immer auf der Autobahn, bis es halb zehn war. Dann bog Thierry auf einen Rastplatz ab und hielt bei den anderen Autos an.
„Hier ist gut.“
„Thierry...“
„Sternchen, sei vernünftig. Jetzt sind wir so weit gekommen! Glaub mir, es ist besser so, es wird ihm viel besser gehen. Hast du doch selbst gesagt. So, komm, jetzt mach kein Quatsch. Setz ihn raus, der wird in zehn Minuten gefunden, hier sind genug Leute. Und mach voran, sonst fallen wir auf, und dann: bist du dran, das weisst du ja. Das ist 'ne Straftat.“
Saskia stieg mit Benji aus. Sie stellte ihn auf das Gras neben dem Auto. Thierry machte von innen die Beifahrertür auf. Saskia stieg ein. Sie fuhren los. Niemand guckte.
Saskia saß zusammengesunken neben Thierry, der beschleunigte und sich ruhig in den Autobahnverkehr einfädelte. Plötzlich fuhr sie herum und schaute zurück, aber sie konnte die kleine Gestalt auf dem Rastplatz schon nicht mehr sehen.
„Thierry, bitte fahr zurück!“ weinte sie auf.
„Quatsch. Ist schon in Ordnung so. Der kommt in eine Pflegefamilie, wo es ihm viel besser geht. Du weisst doch, dass er Förderung braucht. Kannst du ihm doch gar nicht geben. Ist das Beste, was du für ihn tun kannst. – Und für uns.“
Er streckte die Hand aus und streichelte ihr über den Oberschenkel. „Bist mein Sternchen.“
Ihr fiel etwas ein.
„Der ist doch bei mir gemeldet!“ sagte sie erschrocken. „Ich kriege doch Sozialhilfe für den!“
Thierry schüttelte den Kopf.
„Kein Problem“, sagte er. „Das regeln wir alles. Hauptsache, wir ziehen ein oder zwei Mal um, ehe er ins Schulalter käme. Bisschen die Spuren verwischen. Aber bis dahin sind wir schon ganz woanders, mein Sternchen. Ich mache dich reich, wart’s ab. Morgen machen wir ein paar Aufnahmen.“
Er hatte an alles gedacht.