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Benjamins Leben
Mein Leben ist so schrecklich langweilig! Ich weiß nicht, was ich tun soll. Jeden Tag erlebe ich den selben Scheiß: Aufstehen, Schule, nach Hause, Hausaufgaben, Fernsehen, ins Bett. Am Wochenende gehe ich zwar mit Freunden weg, aber ich fühle mich nie als ein Teil der Gesellschaft, der Spaß an seinem Leben hat und durchs Feiern seiner Lebensfreude Ausdruck verleiht. Ich bin der Typ, der in der Ecke steht oder an der Bar und auch mit viel Alkohol nicht aus sich herauskommen kann. Ich bin der, der immer im Weg steht und beim Ausweichen nur ein überhebliches und nie ein freundliches Lächeln erntet. In der Schule bin ich durchschnittlich. Eine Freundin habe ich derzeit nicht, was wahrscheinlich daher kommt, dass ich meine eigene, innere Langeweile schon auf andere reflektiere.
Was soll ich machen? Ich kann tun und lassen was ich will, es ändert sich einfach nichts. Ich will mich aber auch nicht ändern, da ich mich dann verstellen müsste und das kann ja nicht der Sinn der Sache sein, nur Spaß zu haben, wenn man sich verstellt.
Was soll ich bloß machen? An Selbstmord denke ich pausenlos. Aber wer würde sich für meinen Tod interessieren? Gut, meine Freunde und meine Eltern wären sicher traurig, aber das sind mir zu wenige. Man würde durch die Straßen gehen und die Leute würden genauso lachen wie vorher, das Essen würde ihnen genauso gut schmecken, die Laune würde es ihnen nicht verderben. Ein Mensch ist tot. Na und? Heutzutage trauert man nur über Todeszahlen mit möglichst vielen Nullen, auf das eine Leben mehr oder weniger kommt es nicht an. Es regt mich auch dermaßen auf, dass nach Katastrophen die Opferzahlen geschätzt werden. Erstens weil dadurch nur die Sensationsgier dieser Scheiß-Gesellschaft gestillt wird und zweitens weil es sich so anhört als sei die tatsächliche Opferzahl egal. Ob nun 1034 oder 1035, wen interessiert das denn schon?!
Und wieso soll ich sterben, weil mir die Leute nicht gefallen? Nein, DIE sollen sterben. Ich weiß, es sind verdammt viele, aber ich sehe nicht ein ,dass ich mein Leben gebe, nichts damit bewirke, und die Gesellschaft bleibt wie sie ist. Nein, da muss etwas Monumentales passieren, etwas dass den Leuten im Gedächtnis bleibt. Ich will einen Bruchteil dieser verkorksten Gesellschaft mit ins Grab nehmen. Ein großes Vorhaben, aber ich will etwas aus meinem Leben machen, ich will auf der Erde einen Zweck erfüllen, mein dummes, kleines bisschen Leben soll einen Sinn haben!! Ob Mord da richtig ist?! Mir fällt nichts besseres ein, um auf mich aufmerksam zu machen und die Gesellschaft braucht eine Lektion.
Ich bin eigentlich nicht der Typ, der alle über einen Kamm schert, aber außer meinen paar Freunden habe ich noch niemanden gesehen, der auf mich sympathisch wirkt.
Ich sitze gerade mal wieder vor dem Fernseher und schaue mir so eine Reportage über den Castor-Transport an. Als sie zeigen wie robust der Castor ist, bringt mich das Fernsehen ungewollt auf eine Idee: Sie zeigen das der Castor die Detonation eines Tanklasters unbeschadet übersteht. Die Detonation ist so gewaltig und erzeugt einen dermaßen großen Feuerball, dass ich ganz begeistert von meiner Idee bin: Ich entführ einfach so ein Teil und fahr damit in die Disco rein. Das ist es! Ich glaub, dass man so einen Tanklaster schon fahren kann, wenn man Auto fahren kann. Ganz so groß kann der Unterschied nicht sein.
Ein Nachteil hat das Ganze: Bei der Aktion verbrutzeln die Leute, inklusive mir, ja geradezu. Eigentlich hatte ich mir gedacht, ich sorge mit meinem Amoklauf für jede Menge neuer Spenderorgane. Aber jetzt? Hm. Was soll’s?
Eine Woche später.
Ich durchdenke meinen Plan jeden Tag und bessere jeden Tag immer etwas aus. In ca. 2 Monaten wird das losgehen, denke ich.
Es ist wieder Morgen und ich gehe wieder zur Schule und will mich wieder auf meinen Platz setzen, aber der ist besetzt. Eine neue Mitschülerin. Gott, ist sie schön.
„ Ach, das ist dein Platz?“ fragt sie, „das tut mir leid, ich bin übrigens die Miriam. Ich bin neu hier.“ „Äh, Benjamin!“ Ich halte hier freundschaftlich die Hand entgegen. Wir grinsen uns gegenseitig an.
In der großen Pause nutze ich die Chance, mit Miriam zu reden, da sie ganz allein herumsteht. Ich rede mit ihr, als würde ich sie schon ewig kennen. Wir merken schon nach kurzem Gespräch, dass wir sehr viel gemeinsam haben.
„Komm doch heute Nachmittag zu mir.“ Schlägt sie vor. Ich kenne sie erst so kurz und sie lädt mich schon zu sich nach Hause ein. Ich druckse erst ein bisschen rum, sage dann aber schließlich zu. Wäre ja auch blöd, wenn nicht.
Zu Hause laufe ich aufgeregt hin und her. Mein Tanklaster-Plan ist jetzt sekundär. Im Moment schwirrt mir nur Miriam im Kopf herum. Sie ist so schön, so lieb, so nett. Das mit ihr ist wirklich Liebe auf den ersten Blick. Jedenfalls in meinen Augen.
Zitternd steh ich vor ihrer Haustür und klingele. Mein Herz pocht wie wild. Ein großer Mann öffnet die Tür, das muss ihr Vater sein.
„Ähm, hehe, also ich bin der Benjamin. Ist die Miriam zufällig auch da?“ Um einen guten Eindruck zu hinterlassen, gebe ich dem Mann die Hand.
„Ja, die ist da, einen Augenblick, Benjamin! - Miriam! Besuch für dich!“
Da kommt sie schon zur Tür gelaufen, schön wie ein Engel.
„Hi!“ sagt sie. „Hi!“ sage ich mit überschlagender Stimme. Sie kichert und ich werde rot.
Nach anfänglicher Peinlichkeit gehen wir auf ihr Zimmer und reden bis in die Nacht. Es ist herrlich. Ein Mensch, der mich versteht. Ich will einfach alles wissen, was mit ihr zu tun hat. Ich frage ihr regelrecht Löcher in den Bauch.
„Was du alles wissen willst....“ kichert sie. Das Gute ist, dass sie merkt, dass ich an ihr Interesse habe. Ich versuche auch gar nicht, sie von dem Gedanken abzubringen. Alles ist so schön. Meinen Plan habe ich fast schon vergessen. Miriam, Was für ein schöner Name. Ich könnte ihn Tag und Nacht vor mich hin sagen: Miriam, Miriam...
Plötzlich steht sie auf und küsst mich auf den Mund. Einfach so. Ihre Lippen berühren meine. Eine halbe Ewigkeit dauert dieser Kuss und es kann meiner Meinung nach gern noch mal so lange dauern. In meinem Kopf spielt sich Undefinierbares ab. Selbstmord, Mord, Langeweile, Tod. All diese Begriffe werden gelöscht. Das Leben ist wieder lebenswert. Ich liebe mein Leben und möchte mit niemandem auf diesem Planeten tauschen. Wen interessiert Bill Gates oder Scheich Schießmichtot aus Dubai? ICH bin der reichste Mann der Welt, ICH besitze das Kostbarste, was diese Welt zu bieten hat: Miriam. Ja, dieser Kuss besiegelte eine der schönsten Beziehungen dieser Erde und ich durfte daran teilhaben. Ja, das Leben ist schön.
Jeder, der ihr wehtut, müsse mit mir und mit dem eigenen Tod rechnen, so sehr liebe ich sie. Insofern war das Wort Tod doch noch nicht ganz gelöscht. Jedenfalls bin ich bereit, so weit für sie zu gehen.
Plötzlich ist alles anders. Alle Menschen haben ein Lachen auf den Lippen, der graue Schleier, der mein Leben betucht hatte, ist weg. Die Sonne scheint häufiger und wenn es regnet, ersetzt sie mit ihrer Ausstrahlung die Sonne. Was soll ich sagen? Es ist alles perfekt.
Meine Eltern merken sofort an meiner ungewohnt guten Laune, dass sich etwas geändert hat und ich erzähle ihnen von Miriam, wie ich es am liebsten jedem erzählen möchte.
Wenn ich bedenke, wie sich meine Einstellung zum Leben allgemein geändert hat...es ist unglaublich. Es bedurfte eines Wunders, mich von meinem grausamen Plan abzubringen. Sie ist weit mehr als ein Wunder. Alle Wunder zusammen wären ihr noch lange nicht gerecht. Um zu sagen, wie viel sie mir bedeutet, müsste sich mein Wortschatz erst noch verzehnfachen.
„Na, mein kleiner Fratz.“ Sagt sie mit ihrer lieblichen Stimme und gibt mir einen Kuss.
„Wie hast du geschlafen, mein Sternchen, also ich hab gut geschlafen, ich hab von dir geträumt!“ verkünde ich. Sie strahlt mich an und küsst mich erneut.
„Ich hab auch von dir geträumt...hui war das heiß!“ sagt sie und kichert.
Ich kitzle sie ein wenig - getreu dem Motto „Was sich liebt, dass neckt sich“.
Ich gebe ihr einen Kuss und kann mein Glück immer noch nicht begreifen.
„Du bist so lieb, Benjamin. Es gibt niemanden, der lieber ist als du!“ sagt sie mir mit ernstem Blick.
Ich könnte vor Rührung fast weinen, aber als Mann geht das ja schließlich nicht.
„Ach, in 3 Jahren hast du mich vergessen und liebst wahrscheinlich einen anderen, der Boris oder Rüdiger heißt.“ Ich mache einen auf beleidigt und sie lacht und versichert mir, sie würde niemals jemanden lieben können, der so heißt.
Ich schaue auf die Uhr. Elf Uhr ist es jetzt und wir beschließen, nach Hause zu gehen.
Als wir durch die Waldmarktstraße laufen, sehe ich einen Betrunkenen, der uns entgegentorkelt. Instinktiv drücke ich Miriam fest an mich. Der Mann, so Mitte zwanzig muss er sein, hält Kurs auf uns. Was der wohl will? Er rempelt Miriam an und ich muss mich stark beherrschen, ihn nicht anzulabern, da es garantiert zu einer Schlägerei kommen wird und Miriam kann Gewalt nicht ausstehen.
„Pass ma’ auf, Schlampe!“ lallt er.
NEIN! Er hat nicht gerade Schlampe zum liebsten, nettesten und wunderschönsten Mädchen des Universums gesagt. Kann er gar nicht, nein. Ich schaue Miriam an, ihre Augen glitzern. Vermutlich Tränen. Meine Fäuste ballen sich. Adrenalin schießt durch meine Venen.
„STOP! Benjamin hör auf!“ höre ich Miriam schreien. Verwundert schaue ich nach unten. Vor mir liegt der Betrunkene, sein Gesicht buchstäblich zu Brei geschlagen, weder Augen, noch Nase oder Mund sind klar erkennbar. War ich das? Ich schaue Miriam an. Sie zittert und wimmert, natürlich will ich sie in den Arm nehmen.
„Fass mich nicht an!“ Sie ist richtig hysterisch.
„Aber Miri, Sternchen,....ich...was ist denn los?“ Ich bin total perplex.
„Du Monster, du widerliches Monster, du hast ihn beinahe umgebracht!!“ Ich bekomme richtige Angst, so habe ich sie noch nie erlebt. Ich schaue nochmals den Betrunkenen an. Eine riesige Blutlache liegt da, Glück gehabt, er atmet noch, aber ist total zerstört. Sein Kiefer, seine Nase, überall Deformierungen, die auf mehrfachen Bruch deuten. Der kann einem ja richtig leid tun. Wie in Trance muss ich mich auf ihn gestürzt und fürchterlich zusammengeprügelt haben. Miriam rennt weg und ich ihr hinterher.
„Bleib stehen, Miri, ich liebe dich doch, bleib doch bitte stehen!“ Ich weine, ja, ich bin richtig am heulen.
„Verschwinde!!!“ schreit sie und dieses Wort hallt wie ein Echo in meinem Kopf. Verschwinde! Ich stürze zu Boden und schluchze wie ein kleines Kind, dem gerade sein Fußball geklaut wurde.
Jeder Versuch, Miriam anzurufen, ist bisher gescheitert. Sie will nicht mit mir reden. Ich laufe in meinem Zimmer auf und ab.
„Dieser Scheiß-Besoffene....“ denke ich. Das Telefon klingelt. Ich stürze hin.
„Ja? Benjamin Radek?“
„Ich bin’s.“
„Miriam, wie schön! Es tut mir so leid, ich weiß auch nicht was mit mir los war....“
„Benjamin, es ist aus! Für immer. Du bist eine tickende Zeitbombe. Ich habe Angst vor dir!“
„Miriam, ich...ich geh zum Psychiater....ich werde mich ändern, aber BITTE verlass mich nicht, alles nur das nicht!!!“
„Benjamin, es ist aus, ich bleibe dabei, die totale Scheiß-Aktion war das!“
„Er hat dich Schlampe genannt, Miriam, er hat kein Recht zu leben.“
„Du tust mir leid, Benjamin, tschüß!“ -klick-
„Miriam.....MIRIAM...NEIN!!!“
Das Leben hat mich wieder, der graue Schleier hat mich wieder, alles, was aus meinem Kopf gelöscht wurde, ist spätestens jetzt wieder da.
Es geht alles wieder von vorne los. Nur jetzt, wo Miriam nicht mehr meine Freundin ist, ist alles noch schlimmer. Ich habe doch so viel Liebe zu vergeben. Miriam ist so lieb, so wunderschön. Ich habe das doch nur für sie getan. Nur für sie.
Jeder Tag ist wieder gleich, jedenfalls von der Struktur her. Mein Leben ist so schrecklich langweilig, schon wieder. Ich weiß ja, was ich jetzt tun werde........