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Ben, Herr Patzke und die längste Spaghetti der Stadt
Ben war sauer. Eigentlich war er nicht einfach nur sauer. Er war stinkwütend. Dieser blöde Herr Patzke. Immer musste er sich bei Bens Mutter beschweren, wenn Ben auch nur ein klitzekleines bisschen zu laut gewesen war, beim Spielen. Man konnte nun mal einen Fußball nicht leise gegen ein Garagentor schießen. Und überhaupt, wer hielt denn heutzutage noch Mittagsruhe?
Jetzt stand Ben auf dem Garagenhof. Den Fußball hatte seine Mutter ihm abgenommen und gesagt, dass er ihn frühestens um drei Uhr wiederbekommen würde. Das waren noch anderthalb Stunden bis dahin. Was sollte er denn so lange machen, wenn er nicht Fußball üben durfte? Ben überlegte. Er könnte schauen, ob Gino schon zu Hause war.
Gino Favaro und er waren früher zusammen in den Kindergarten gegangen. Seitdem waren sie beste Freunde. Nur dummerweise wohnte Gino auf der anderen Straßenseite. Das wäre nicht schlimm gewesen, wenn nicht die andere Straßenseite schon zum Stadtteil Kleinwittichsburg gehört hätte. Bens Straßenseite gehörte nämlich offiziell noch zur Innenstadt. Und weil Kleinwittichsburg und die Innenstadt jeweils eine eigene Grundschule hatten, gingen Ben und Gino jetzt in verschiedene Schulen. Deshalb hatten sie oft zu unterschiedlichen Zeiten Schulschluss.
Ginos Vater hatte eine Pizzeria. Ben fand das ziemlich cool. Bei ihm zu Hause gab es nur ganz selten Pizza. Seine Mutter meinte, das sei kein richtiges Essen. Richtiges Essen waren für sie eigentlich nur langweilige Dinge. Vor allem Kartoffeln. Ben mochte keine Kartoffeln. Schon mal gar nicht jeden Tag.
Ben lief über die Straße und zur Pizzeria Bella Mare. Giorgio, Ginos Vater, lachte ihn an, als er hereinkam.
„Ciao, Ben! Wie geht’s? Gino ist noch in Schule. Kommt aber bald. Willst Du warten?“
Ben nickte. „Ja, gerne. Draußen ist nichts los. Ich darf nicht Fußball spielen, weil der blöde Patzke sich mal wieder beschwert hat.“
„Ah! Patzke! Ja, den kenn ich. Der kommt immer und ist das billigste Gericht von der Karte. Spaghetti Napoli! Jeden Mittwoch Abend. Sitzt stundenlang hier, liest alle Zeitungen und gibt keinen Cent Trinkgeld.“
„Dem müsste man mal so richtig eins auswischen“, sagte Ben. „Essen versalzen oder so.“
„Ja, aber kann ich nicht machen. Ist Gast! Gast ist König. Und salziges Essen macht den Ruf von meiner Pizzeria kaputt.“
Das verstand Ben. Trotzdem, der Gedanke ließ ihn nicht los. Vielleicht könnte man Herrn Patzke ja wirklich mal einen Streich spielen.
Gino kam zur Tür herein. „Ciao Pappa!“ rief er. „Was gibt es zu Essen? Ich hab Riesenhunger!“
Dann sah er Ben. „Hi Ben! Bist Du schon lange hier?“
„Nö, zehn Minuten oder so. Dein Vater und ich haben gerade überlegt, dass man dem Patzke mal ordentlich eins auswischen müsste. Der hat sich schon wieder bei meiner Mutter über mich beschwert.“
Bei den Favaros gab es zum Mittagessen Spaghetti. Ben wurde eingeladen, mitzuessen und nahm gerne an. Er hatte zwar eigentlich schon zu Hause gegessen, aber hier schmeckte es immer so gut, dass er gerne noch mal zulangte. Giorgio hatte extra lange Spaghetti gemacht. Ben musste sich ganz schön anstrengen, um sie ordentlich um die Gabel zu wickeln. Gino lachte.
„Ihr Deutschen könnt irgendwie keine Spaghetti essen. Deshalb macht Pappa die für das Restaurant auch immer ganz kurz. Dabei müssen Spaghetti lang sein. Je länger die sind, desto besser schmecken die.“
„Ja!“ sagte Giorgio. „Aber wenn wir im Restaurant lange Spaghetti servieren, dann muss ich die Tischtücher doppelt so oft waschen und die Gäste bekleckern ihre Klamotten.“
Das brachte Ben auf eine Idee.
„Sag mal, Giorgio“, fragte er, „wie lang kann man eigentlich Spaghetti so machen?“
„Wenn man ein guter Koch ist ... so lang wie man will, bis der Teig zuende ist eben.“
„Und?“ Ben wurde ganz aufgeregt. „Du bist doch ein guter Koch, oder?“
„Das will ich wohl meinen“, sagte Ginos Vater mit stolzgeschwellter Brust. „Ich bin der beste Pizza- und Pastakoch von ganz Kleinwittichsburg. Wahrscheinlich sogar der ganzen Stadt.“
„Und lange Spaghetti sind eigentlich gut, oder? Ich meine, lange Spaghetti verderben nicht den Ruf, wie z.B. versalzenes Essen?“ fragte Ben weiter.
„No! Hab ich doch gesagt. Lange Spaghetti sind das beste, was es gibt“, mischte sich jetzt auch Gino ein.
„Dann habe ich einen Plan!“ grinste Ben. Und dann erzählte er Gino und Giorgio, was er vorhatte.
Am kommenden Mittwoch trafen sich Ben und Gino gleich nach der Schule in der Küche des Bella Mare, um Giorgio zu helfen. Es war keine leichte Aufgabe, den Nudelteig so durch die Spaghettimaschine zu drehen, dass eine einzige wirklich lange Spaghetti entstand. Gino stopfte den Teig in die Maschine und drehte die Kurbel. Ben stützte die lange Teigschlange, die so entstand mit beiden Händen ab und Giorgio legte sie vorsichtig auf der Arbeitsplatte der Küche aus. Drei Kurven musste er machen. Am Ende maß er vorsichtig mit einem Maßband nach.
„Drei Meter achtundsiebzig“, verkündete er stolz. „Das ist bestimmt die längste Spaghetti, die die Stadt je gesehen hat.“
Gino wiegte nachdenklich den Kopf. „Ja, schon“, sagte er, „nur, wie kriegen wir die gleich noch in den Topf?“
„Mamma mia, Du hast recht“, sagte Giorgio erschrocken. Aber dann hatte er die rettende Idee. Er wickelte sie Spaghettischlange ganz vorsichtig zu einer Spirale auf, wie eine Lakritzschnecke. Die Spirale wurde immer noch ziemlich groß, aber so passte die Spaghetti in den größten Topf, den Giorgio in seiner Küche hatte, hinein.
Dann, endlich, war es soweit. Herr Patzke betrat die Pizzeria. Er bestellt Spaghetti Napoli. Ben war erleichtert. Was wäre gewesen, wenn Herr Patzke heute ausnahmsweise mal etwas anderes bestellt hätte? Eine Pizza Calzone zum Beispiel? Dann wäre die ganze schöne Arbeit umsonst gewesen. Gino und Ben saßen an einem Tisch in der Ecke, von dem aus sie Herrn Patzke gut beobachten konnten und tranken Limonade.
Giorgio brachte einen Teller mit Spaghetti und viel dampfender Tomatensoße und stellte ihn vor Herrn Patzke ab.
„Parmesan?“ fragte er freundlich, und Ben und Gino konnten sehen, wie viel Mühe es ihn kostete, nicht zu lachen.
„Nein danke“, sagte Herr Patzke und griff nach Gabel und Löffel. Er begann, ein Stück Spaghetti um die Gabel zu wickeln. Aber was war das? Diese Spaghetti nahm ja gar kein Ende! Als Herr Patzke die Hälfte seiner Portion um die Gabel gewickelt hatte, wurde das entstandende Knäuel zu schwer und plumpste zurück auf den Teller. Die Tomatensoße spritzte. Rund um den Teller bekam das Tischtuch lauter rote kleine Flecken. Herr Patzkes Hemd hatte auch ein paar abbekommen.
Einige Gäste vom Nebentisch, die gerade herübergesehen hatten, als der Nudelklumpen von Herrn Patzkes Gabel rutschte, lachten. Herr Patzke wurde etwas rot im Gesicht und schaute verlegen auf seinen Teller. Dann begann er noch einmal, diesmal vorsichtiger, die Spaghetti auf die Gabel zu drehen. Wieder wurde das Knäuel größer und größer. Herr Patzke hörte auf zu wickeln und hob statt dessen die Gabel ein Stück höher. Irgendwann musste diese Nudel doch mal ein Ende nehmen!
Aber nein. Selbst als Herr Patzke die Gabel am ausgestreckten Arm nach oben hielt, war kein Ende der Spaghetti in Sicht. Er entschied sich für eine verzweifelte Maßnahme. Schnell schaute er nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass niemand hersah, dann beugte er sich vor, um die Spaghetti abzubeißen.
Auf diesen Moment hatte Ben nur gewartet. Er gab einem leeren Stuhl neben sich einen leichten Schubs und dieser fiel mit Gepolter zu Boden. Herr Patzke zuckte zusammen. Das Spaghettiknäuel löste sich von der Gabel und platschte ihm genau ins Gesicht. Tomatensoße lief an Herrn Patzkes Nasenrücken entlang. Einige Spaghettischlingen hingen über seinem Brillengestell fest. Der Rest der Mammutnudel rutschte an seinem Kinn entlang und zurück auf den Teller. Ein Teil landete in seinem Wasserglas. Es war eine wunderbare Riesensauerei.
Herr Patzke sprang auf und rannte aus dem Restaurant. Die Gäste der Pizzeria lachten. Am lautesten lachten Giorgio, Gino und Ben.