Bekenntnisse eines Trottels
Der Platz neben mir ist jetzt leer. Und das nun schon seit zwei Jahren. Es ist nicht einfach nur leer, sondern trägt diese spezielle Leere, die entsteht, wenn man etwas wichtiges entfernt. Der Eindruck, das etwas fehlt.
Ich sitze hier ganz vorn in der ersten Schulbank. Eine bewußt strategisch ausgewählte Position, denn erfahrungsgemäß sieht der an der Tafel stehende Lehrer gern über die vorderste Reihe hinweg. Die meisten von euch kennen mich sicher, naja, vielleicht nicht persönlich, aber ein Abbild von mir findet sich in jeder Schulklasse. Ich bin der Außenseiter, der andauernd Einsen schreibt, ohne sich dabei ein Bein herauszureißen, der im Sportunterricht jämmerlich versagt, seltsame altmodische Klamotten trägt, die keinem erkennbaren Stil angehören, einen unmöglichen Haarschnitt hat und den Kontakt zu seinen Klassenkameraden als möglich meidet. Jawohl, genau der, der in den unteren Klassen immer geärgert wurde. Mit einem Wort, der Klassentrottel. Der Freak. Ich passe nicht zu den Anderen. Ich hatte noch nie eine richtige Freundin gehabt und war damit als hoffnungsloser Spätzünder abgestempelt. Ich war es gewohnt, von Mädchen Ausrufe wie "Mann bist du heiß!" zu hören, allerdings ausnahmslos gefolgt von lautem herausprusten seitens der Ruferin bzw. ihren Freundinnen. Mit der Zeit lernte ich so etwas zu ignorieren.
Wenn andere mit der Morgenpost dasitzen, lese ich Douglas Adams, wenn sie Gothic Rock hören, höre ich Seal oder Yes, und wenn sie sich die FHM anschauen, lese ich Nietzsche (freilich ohne ihn völlig zu kapieren, und erst recht ohne ihm in allen Punkten Recht zu geben). Lediglich wenn es um Computer, insbesondere -Spiele geht, kann ich mitreden und oftmals sogar mit Fachwissen auftrumpfen. Vor 3 Jahren gurkte ich noch mit einem absolut kultigen Amiga1200 herum, jetzt habe ich ein echte krasse Zockerkiste herumstehen. Die 'Voodoo Fuzzbox'. :-) Aber darum geht es hier gar nicht.
Außerdem schreibe ich. Kurzgeschichten haupsächlich. Was mir in gewissen Kreisen den (falschen!) Ruf eingebracht hat, schwul zu sein. Das ist mir irgendwie unverständlich.
Ich habe sie bis heute nicht vergessen. Sanfter Schwermut überkommt mich bei dem Gedanken an sie. Sie hat mir soviel gegeben, ohne es zu wissen. Sie hat mich glücklich und nachdenklich und traurig gemacht.
Sie hatte einfach alles. Sie war hübsch, freundlich, ungeheuer witzig, manchmal auf entzückende Weise wütend, gnadenlos ehrlich - und sie war in festen Händen. Von Anfang an wußte ich genau, daß aus uns nie etwas werden würde. Vielleicht war es genau das, was mir dabei half, sie auf diese Weise zu sehen. Während ich eher Hemmungen hatte, mit anderen Mädchen auch nur zu reden, mit ihr konnte ich (unterrichts-)stundenlang über Gott und die Welt quatschen, Blödsinn machen, pen&paper-Spiele spielen. Sie machte nie einen Hehl daraus, was sie dachte, und vertraute mir tatsächlich einige ziemlich private Dinge an. Für sie war ich ein Kumpel, doch ich habe mir so oft gewünscht, es wäre mehr gewesen. Die Tatsache, daß ich absolut keine Chance hatte, hinderte mich nicht daran, davon zu träumen. Wir verstanden uns ziemlich gut, ihr schien es absolut nichts auszumachen, daß ich so ein Sonderling war. Sie taute mich regelrecht auf, schmolz mich aus dem emotionalen Eisblock frei, in den ich mich zurückgezogen hatte. Ich war nicht wirklich verknallt in sie; das kannte ich von früher und wußte dann auch immer genau, daß da lediglich meine pubertären Hormone mit mir machen, was sie wollen. In ihrem Fall... Nun, ich hatte sie einfach gern. Später fühlte ich mich auch körperlich zu ihr hingezogen, mir war dabei jedoch jederzeit klar, wo die Grenzen lagen. Und so seltsam es klingt, es machte mir zu diesem Zeitpunkt nichts aus. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich einfach gut, jede langweilige Unterichtsstunde verging neben ihr wie im Flug. Man kann fast sagen, ich freute mich jedesmal auf die Schule. Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wieviel sie mir wirklich bedeutete. Und sie, nun, sie hatte keinerlei Argwohn mir gegenüber, ich habe ihr nie etwas über meine wahren Gefühle gesagt. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn sie hatte wie gesagt einen festen Freund und würde ihn bald heiraten. Ich weiß noch genau, wie der Lehrer in irgendeiner Stunde zu uns beiden gesagt hatte "Würde das alte Ehepaar da vorne bitte aufhören zu schwätzen?" Diesen Spitznamen wurden wir nie wieder ganz los. Ein bißchen weh tat es schon, so etwas zu hören. Tief in der Seele. Sie reagierte darauf nur verärgert. Wir lösten Kreuzworträtsel, spielten Käseecken und Fische verschenken, und Kegeln mit Tintenpatronen und einer Mauskugel. Sie war einfach für jeden Unsinn zu haben. Und ich war ein hoffnungslos verliebter und glücklicher Trottel.
Ich dachte damals, sie hätte nie meine Gefühle für sie in irgendeiner Form bemerkt, aber inzwischen bin ich nicht mehr so sicher. Sie muß es gesehen haben in meinen Augen, gespürt haben in den flüchtigen und nicht immer zufälligen Berührungen, gehört haben, wenn ich mit ihr sprach.
Ich glaube, ich habe sie tatsächlich ein wenig geliebt. Es war nicht die die heiße, brennende Liebe, die ich bisher nur aus dem Film kenne, sondern die stille, tiefe Anerkennung und Verehrung, die direkt aus dem Herzen kommt. Ich hätte wahrscheinlich mein ganzes Leben mit ihr verbringen können, wenn die Umstände anders gewesen wären. Aber all dies wurde mir erst klar, nachdem sie fortgegangen war.
Plötzlich war alles anders. Der Schultag war todlangweilig, die ganze Welt erschien mir blaß und grau ohne sie. Erst da wurde mir klar, wieviel sie für mich gewesen war. Ich war einsam. Mir fehlte ihr Lächeln, ihre unbeschwerte Art, die kindischen Spiele, ihre Wutausbrüche. Bevor sie gegangen war, hatte sie gesagt "Ihr werdet mich vermissen, gebt es zu." Oh, wie recht sie gehabt hat. Noch heute werden meine Augenwinkel feucht, wenn ich zu lange an sie denke. Ihr Gesicht ist unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeprägt. Für kein Mädchen, in das ich je verliebt gewesen war, hatte ich auch nur eine Träne vergossen. Wegen ihr heulte ich nachts mein Kissen voll.
Ich habe sie danach zweimal wiedergesehen, doch es war einfach nicht dasselbe. Einige schnell ausgetauschte Floskeln (Lange nicht gesehen, wie gehts denn so, was machst du zur Zeit...) und ein kurzer Händedruck. Nur eine kurze Erinnerung an die Vergangenheit. Ich hoffe (und das sage ich ohne jeden Sarkasmus), sie ist jetzt glücklich. Die Flamme, die sie unwissentlich in mir entzündet hat, brennt noch immer.