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Bekenntnisse eines Literaturagenten

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13.02.2014
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Bekenntnisse eines Literaturagenten

1. Über die Tücken des Literaturmarkts

In den vielen Jahren, in denen ich nun schon Teil des Literaturbetriebs bin, wurde mir oft von jungen, aufstrebenden, gerade erst frisch abgelehnten Autoren die Frage gestellt, wie man es heutzutage schaffen könne, als Schriftsteller auf dem hart umkämpften deutschen Buchmarkt zu reüssieren. Einige Male, vor allem in meiner Anfangszeit als Lektor, habe ich versucht, meine Eindrücke in eine sinnvolle Antwort zu fassen, den Schreiberlingen einen Stupser in die richtige Richtung zu geben, Verbesserungspotentiale zu erläutern. Mittlerweile jedoch verzichte ich meistens auf derartige Darlegungen meines Standpunkts, denn zu häufig schon haben meine Einwendungen einen langwierigen E-Mail-Verkehr zur Folge gehabt. Hierbei versuchen die in ihrer Eitelkeit gekränkten Autoren meine Kritikpunkte in der Regel dadurch zu entkräften, indem sie sich auf Verwandte, gute Freunde oder Bekannte berufen, die meine Kritik nach ihrer eigenen Lektüre des Textes so beim besten Willen nicht teilen könnten. Manchmal werde ich in dem Zusammenhang als Ignorant beschimpft, gelegentlich als neidischer Spießgeselle, als Pedant, der den Talenten dieses Landes ihren Weg zum Buchvertrag verstellt, nur weil er selbst nicht in der Lage ist, vergleichbare schöpferische Werke zu verfassen. Man wird mir also hoffentlich nachsehen, wenn ich meine Reaktion auf unverlangt zugesendete Manuskripte auf nichtssagende, sprachlich monotone Standard-Absagen beschränke, kombiniert mit dem freundlich umschriebenen, heuchlerischen Wunsch, ein anderer Lektor, respektive Literaturagent, werde sich sicherlich irgendwann einmal des Textes erbarmen und ihm die Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, die ihm eigentlich keinesfalls gebührt. Es ist eine schlichtweg notwendige Maßnahme, denn ansonsten bliebe mir wohl kaum die Zeit, um all das zu tun, was ich als Lektor und Literaturagent eben notwendigerweise tagtäglich tun muss: Mit meinen Kollegen bei den großen Verlage gemeinsam zu Mittag essen, mit den Sekretärinnen der Verlagsbosse zu telefonieren, und, nicht zuletzt, all jene Exposés zu lesen, die mir meine Praktikanten in stundenlanger, mühsamer, von studentischem Ehrgeiz geprägten Arbeit zusammengeschrieben haben.

Der Literaturmarkt ist heute deutlich unübersichtlicher als früher, als die Verlage noch von ihren Inhabern geführt wurden, von Inhabern, die die Manuskriptzusendungen meist sogar noch selbst lasen. Stattdessen hat die deutsche Literaturlandschaft in den letzten Jahrzehnten eine sukzessive Wandlung zur modernen, erfolgsorientierten Buchindustrie erfahren, in der es nicht mehr wichtig ist, einen relevanten Beitrag zur kulturellen Weiterentwicklung des Landes zu leisten, der Bildung breiter Massen der Gesellschaft zu dienen oder kontroverse Standpunkte einzunehmen. All diese biederen, konservativen, primitiven Kriterien für ein gelungenes Buch sind in der Welt des 21. Jahrhunderts glücklicherweise obsolet, also nicht mehr von Bedeutung. Denn heutzutage handelt es sich bei den meisten Verlagen nur noch um Wirtschaftsunternehmen, die den gängigen Regeln der globalisierten Weltwirtschaft gehorchen müssen. Literaturagenten sind in diesem Sinne outgesourcte Lektoren, intellektuelle Leiharbeiter, deren finanzielles Überleben einzig vom Markterfolg der von ihnen vertriebenen Publikationen abhängt. Den Lesern, und auch den Autoren, fehlt es leider grundsätzlich an Überblick und Verständnis für die, aus diesen Tatsachen resultierenden Zwänge. Viele Autoren scheitern mit ihrem Traum von einer Karriere als Schriftsteller folglich bereits daran, dass sie sich im Vorfeld falschen, neoromantischen Vorstellungen vom Wesen der Literaturszene hingeben. Um also all jenen auf die Sprünge zu helfen, die Schwierigkeiten damit haben, sich den Gepflogenheiten der gegenwärtigen Kunstbranche anzupassen, habe ich diesen Ratgeber geschrieben, um über meine Arbeit zu berichten, den Autoren und Interessierten einen Einblick zu geben, wie Literaturagenten und Lektoren heutzutage arbeiten, und um die Wege aufzuzeigen, die ein Buch manchmal gehen muss, um hierzulande publiziert zu werden.

2. Über meine Karriere

Zunächst einmal möchte ich mich dem Wesentlichen zuwenden und ein wenig über mich selbst schreiben. Ich bin 48 Jahre alt, arbeite seit zwei Jahren als Agent bei einer bedeutenden deutschen Literaturagentur in Berlin, meiner Heimatstadt. Meinen Namen möchte ich an dieser Stelle nicht nennen, ebenso wenig den Namen meiner Agentur. Dafür bitte ich um allgemeines Verständnis. Ich habe schließlich nicht das Verlangen, von den Lesern dieses Traktats unaufgefordert Manuskripte zugesendet zu bekommen, in Manuskriptstapeln zu ersticken. Außerdem befürchte ich, der ein oder andere dürfte von mir bereits die ein oder andere Absage erhalten haben und sich durch diese Zeilen dazu bemüßigt sehen, mich mit dem ein oder anderen zudringlichen Diskussionsversuch über seine vermeintlich vorhandenen literarischen Qualitäten zu behelligen.
Vor meinem Engagement in besagter Agentur, habe ich jahrelang bei diversen Verlagen als Lektor gearbeitet, eine Karriere, die ich in meiner Schul- und Studienzeit so niemals vorhergesehen hätte. Denn in der Schule ist Deutsch nie meine Stärke gewesen, und auch für Bücher habe ich mich nur wenig interessiert. Stattdessen hatte ich in der Grundschule sogar lange Zeit Schwierigkeiten mit dem Lesen, stand lange im Verdacht Legastheniker zu sein, was glücklicherweise, dank eines teuren, fachärztlichen Attests widerlegt werden konnte. Die meisten Prüfungen im Fach Deutsch habe ich in all den Jahren dennoch souverän bestanden, wenn auch nur durch das Auswendiglernen diverser Passagen aus der gebräuchlichen Sekundärliteratur, durch geübtes Schummeln und durch gezielte Blicke zu meinen Klassenkameraden. Ich genoss dabei die Vorzüge meines mir angeborenen Talents, nämlich der Kompetenz, fremde Handschriften sogar aus ungünstigsten Winkeln dechiffrieren und fremde Sätze so umstellen zu können, dass sie sich wie meine eigenen anhörten, dabei aber den gedanklichen Inhalt meiner Banknachbarn integrierten. Es ist für mich bis heute unverständlich, weshalb mir meine Deutsch-Lehrerin trotz dieser Fähigkeiten im Jahreszeugnis der 11. Klasse eine lediglich bescheidene Begabung attestiert hat. Aber nach all den Jahren kann ich mittlerweile mit gutem Recht von mir behaupten: Sie hat sich geirrt.

Mir ist natürlich klar, dass das Eingeständnis dieser Lese- und Schreibschwäche bei dem ein oder anderen abgelehnten Autoren ein Schmunzeln provozieren wird, aber mir ist eben an absoluter Ehrlichkeit gelegen, an absoluter Menschlichkeit. Und ich muss nun einmal offen zugeben, dass ich mich während meiner Schulzeit nur wenig für Arbeit, Mühen und das Lernen begeistern konnte. Denn lieber spielte ich mit meinen Freunden Fussball, übte das Kaugummi-Spucken von der nahegelegenen Autobahnbrücke herab oder bastelte an meinem Spielzeug-Indianer-Fort herum. Ich blieb sogar zwei Mal sitzen und wäre fast ein drittes Mal am Klassenziel gescheitert, wenn ich nicht damals einen Mathelehrer gehabt hätte, der meiner Tätigkeit bei den Jungen Liberalen wohlwollend gegenüberstand, und der mir daher ebenso wohlwollend eine Note 4 im Jahreszeugnis zubilligte.
Nach meinem Abitur mit einem Schnitt von 3,1 hatte ich lange Probleme einen geeigneten Studienplatz zu bekommen. Für mein Traumstudium, Betriebswirtschaftslehre, waren meine Noten einfach zu schlecht. Das erste Semester musste ich deshalb sogar komplett aussetzen. Doch da eine Lehre für mich nie in Frage kam, weil ich mich nur schwer an das frühe Aufstehen gewöhnen konnte, blieb ich hartnäckig und bekam schließlich die Immatrikulation für das Fach Ostslawistik bewilligt. Nach einem halben Jahr wechselte ich dann in das Fach Soziologie, ein halbes Jahr später studierte ich Politik, danach ein halbes Jahr Kunstgeschichte, dann Pharmazie, dann Wirtschaftschinesisch, dann Agrartechnologie, dann Wertstoffwissenschaften. Nach vier Jahren landete ich bei Buchwissenschaften, am Ende im Studium der Germanistik, das ich nach vier Jahren mit einer 3er Note abschloss.
Im Anschluss an meine Zeit an der Universität machte ich mehrere Praktika, kochte Kaffee und bediente den Kopierer, unter anderem bei solch renommierten Unternehmen wie Coca-Cola, der Allianz, VW, BMW, der Telekom und bei Apple. Um mir meinen Lebensunterhalt zu finanzieren, half ich bei diversen Veranstaltungen beim Auf – und Abbau. Mein Vater, ein bekannter Berliner Rechtsanwalt und Experte für Urheberrechtsstreitigkeiten, vermittelte mich schließlich an einen großen ostdeutschen Verlag. Hier sollte ich anfangs buchhalterische Aufgaben übernehmen, doch nachdem ich mich in ein Mädchen verliebt hatte, das eher die kreativen Männer bevorzugte, ließ ich mich in die Programmabteilung versetzen. Und dort blieb ich, auch wenn es mit dem Mädchen leider nicht klappte, weil ich unglücklicherweise keine Lust mehr verspürte auf Opernabende und Kafka-Lesungen.

Ich muss gestehen, der Job als Lektor und später als Literaturagent war nie mein Herzensjob, denn lieber hätte ich weiter Autos verkauft, so wie bei einem meiner Praktika. Doch ich musste es nun einmal machen, weil ich für andere Berufe leider keinerlei Begabung oder Neigung zeigte. Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit war es mir dann aber auch egal. Denn ob ich nun Bücher verkaufe, Einbaukühlschränke oder Versicherungen, das ist alles schließlich einerlei. Nur der sichtbare Erfolg auf dem Lohnzettel zählt, und Erfolg habe ich bereits in meiner Anfangszeit, in den 90er Jahren, zuhauf gehabt, habe viele interessante Leute kennengelernt, Nachrichtensprecher, TV-Moderatoren, Gangster-Rapper und Großkriminelle samt all ihrer Sprösslinge, habe mich mit Verlegern und Kollegen angefreundet, mit dem Golf spielen begonnen, und, dank meines Gespürs für den richtigen gesellschaftlichen Umgang, für gesellschaftliche Nettigkeiten und kleinere Gesten, wie der Vermittlung lukrativer Buchverträge, schnell Karriere gemacht. Bereits nach einem Jahr war ich immerhin Cheflektor und hatte meine eigene kleine Programmabteilung unter mir, inklusive eines Mitarbeiterparkplatzes direkt am Haupteingang und eines unterwürfigen, kleinwüchsigen Praktikanten im zweiten Dienstjahr.

Insgesamt hatte ich bisher eigentlich immer Glück bei meinen Jobs im Verlagswesen, denn irgendwie alles ist mir in den Schoß gefallen. Ich bin wohl ein Naturtalent. Das zumindest bescheinigte mir einmal ein begabter und äußerst erfahrender Praktikant im achten Dienstjahr. Er sagte mir wortwörtlich, er habe nun bereits in mehr als vierzig Verlagen ein Praktikum absolviert und dabei niemals auch nur irgendjemanden getroffen, der auch nur annähernd meine Nase für die ganz großen Bucherfolge gehabt hätte.
Schwierigkeiten bereitet mir bis heute einzig und alleine das Tagesgeschäft. Denn, so wie ich glaube bereits einmal erwähnt zu haben, lese ich nicht gerne, und deshalb konnte ich auch nie die innere Begeisterung entwickeln, die notwendig ist, um die komplizierte deutsche Rechtschreibung und Grammatik zu beherrschen. Sie werden es nicht glauben, aber sogar diesen Text musste ich von einem Freund Korrektur lesen und überarbeiten lassen. Und genau dies ist auch der Grund, weshalb ich Leseproben von jungen, aufstrebenden Autoren nur in digitaler Form entgegennehme. Nämlich, um sie dann leichter durch meine Rechtschreibprogramme laufen lassen zu können. Ich will mich ja schließlich nicht blamieren, wenn ich von einfachsten Fehlern durchsetzte Texte an höheren Stellen, bei den Verlagsbossen und Lektoren bewerbe.

Insgesamt hat mir meine Zeit als Lektor viele wertvolle Erfahrungen gebracht. Erfahrungen, die ich heute als Literaturagent sehr zu schätzen weiss. So zum Beispiel die Erkenntnis, dass es effizient ist, die Praktikanten die Texte lesen und ablehnen zu lassen, dass der Online-Duden eine echte Hilfe sein kann, wenn man beispielsweise an einer unheilbaren Rechtschreibschwäche leidet. Und dass es immer wichtig ist, im Kunstgeschäft das Kernbusiness nicht zu vernachlässigen: Also vor allem die Pflege der Kontakte zu all jenen, von denen man entweder abhängig ist, oder aus denen man künftig noch Kapital schlagen kann.

3. Über meine Arbeitsweise

Seit ich Literaturagent bin, nach der Pleite meines ehemaligen Verlags, fühle ich mich als Walter der deutschen Kultur. Immerhin stehen Literaturagenten und Lektoren wie ich in einer langen, ehrenhaften Tradition, haben sich schon oft erfolgreich als Torwächter zur Öffentlichkeit erwiesen, als Türsteher vor den geistigen Ballsälen dieser Republik. Leider wurden die weisen Entscheidungen meiner Vorgänger häufig durch den naiven, anspruchslosen Geschmack der Leser negiert, die es beispielsweise als schicklich erachteten, einem untalentierten, böhmischen Versicherungskaufmann wie Kafka posthum dadurch Genugtuung zu verschaffen, indem sie seinen minderwertigen, geistig völlig degenerierten Büchern zu einem unverdienten, weltweiten Verkaufserfolg verhalfen. Der gemeine Leser hat damit einen Krieg begonnen, die ewig lange Auseinandersetzung des Konsumenten mit dem Lektor und dem Kritiker, also jenen Menschen, die wirklich etwas von guten Büchern verstehen und auch Verkaufserfolge schlafwandlerisch sicher einzuschätzen wissen. Denn als ich von der astronomischen Zahl an Absagen erfuhr, die dieser Tintenverschwender Kafka im Laufe seines kurzen, schmerzvollen Lebens ertragen musste, da ist mir sofort klar geworden, dass er eindeutig nicht in der Lage gewesen sein konnte, auch nur irgendetwas zu schreiben, dass der Menschheit auf nur irgendeine, wenn auch noch so unwichtige Art und Weise ein Dienst sein würde. Experten, so wie es Literaturagenten und Lektoren wie ich nun einmal sind, können sich ja schließlich nicht alle irren.

Um an dieser Stelle all jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die glauben, wir Lektoren und Agenten würden Manuskripte lediglich aus oberflächlichen Gründen ablehnen und damit die Qualität der jeweiligen Autoren ignorieren, möchte ich im folgenden Abschnitt meine Arbeitsweise beschreiben, die, da gebe ich Ihnen, den geschätzten Lesern mein Ehrenwort, repräsentativ ist für alle Vertreter meines Berufs.

Tagtäglich bekomme ich zwischen zehn und zwanzig Manuskripte unaufgefordert zugesendet. Jene Zusendungen lasse ich, gleich nach ihrem Eintreffen, von meinen Praktikanten katalogisieren und stichprobenartig nach geeignetem Material durchforsten. Meine Praktikanten, einige von ihnen sind bereits seit mehreren Jahren bei mir beschäftigt, erstellen danach ausführliche Zusammenfassungen, so etwa fünf bis sechs Sätze. Manuskripte, die komplett durch das Raster fallen, also zu intelligent geschrieben sind oder zu wenig intelligent, die zu gut formuliert sind oder zu schlecht, bei denen die Figuren zu komplex dargestellt werden oder zu einfach, die zu politisch sind oder zu unpolitisch, die erhalten, so wie in Deutschland gemeinhin üblich, eine unpersönliche Standardabsage innerhalb der ersten 48 Stunden nach Eingang der Zusendung. Bei den restlichen Manuskripten prüfe ich die Zusammenfassungen gründlich, allen voran den Namen und die Biographie des Autors, das Thema, und die, mit diesen drei genannten Kriterien unlösbar verbundene Vermarktungsfähigkeit. Die Leseprobe fällt in Ermangelung zeitlicher Kapazitäten nicht weiter ins Gewicht. Normalerweise, so steht es zumindest auf meiner Homepage, erwarte ich die ersten 25 Seiten des Manuskripts. Aber eigentlich reichen mir bereits die ersten 5-8 Sätze zur Beurteilung der Verkaufbarkeit völlig aus. Das aber so auf meine Website zu schreiben, würde den Autoren gegenüber selbstredend einen unprofessionellen Eindruck machen. Ebenso verzichte ich aus gleichermaßen verständlichen Gründen darauf, die Manuskript-Zusender im Internet darüber zu informieren, dass ein weitaus gewichtigeres Argument als die Leseprobe stattdessen, so wie oben erwähnt, die Person des Verfassers darstellt. Ist jener beispielsweise ein Prominenter, oder hat er beispielsweise bereits einmal jemanden erschossen, dann hat er meine Aufmerksamkeit natürlich sicher. Ähnlich ist es bei Autoren, deren Anschriebe mir und meinen Verdiensten um die deutsche Literatur schmeicheln. Denn besonders freundliche Zeilen, die die eigenen Leistungen würdigen, die kann man ja kaum ignorieren, ganz egal wie objektiv man auch ansonsten sein mag.

4. Über meine Erfolge

In den letzten Jahren durfte ich viele begnadete deutsche Literatur-Talente auf ihrem Weg an die Spitzen der deutschen Belletristik-Charts begleiten. Darunter viele Nachrichtensprecher, TV-Moderatoren, Gangster-Rapper, Großkriminelle, begabte Serienvergewaltiger, Drogenopfer, jugendliche Gewalttäter, ehemalige Porno-Darstellerinnen, Politiker, verzogene Töchter von Berliner Theater-Intendanten mit Profilneurose, Tomatenpropheten, Weltuntergangsapologeten, Zuhälter, Alltagsneurotiker, ehemalige Sportler und all ihre jeweiligen Sprösslinge. Am meisten beeindruckt hat mich bis heute aber eine junge, 17-jährige Schriftstellerin aus vornehmer, gehobener Herkunft. Sie ist eine Künstlerin der Gattung Extraklasse, eine große literarische Begabung, die man wohlweislich bereits mit 15 Jahren von der Schule genommen hat. Es war eine weise Entscheidung, denn damit hat man es diesem begnadeten Talent ermöglicht, an einem jeden lieben langen Tag im Café sitzen zu dürfen, während andere Leute arbeiten, die Nächte in heruntergekommenen Diskotheken zu verleben und auf schmutzigen Damentoiletten romantische Erfahrungen zu sammeln. Die hierbei gewonnen literarischen Inspirationen trugen zum Glück sehr schnell Früchte in Form eines erfolgreichen Bestsellers. Von einem belesenen Kritiker wurde die junge Lady sogar als neuer Mozart am deutschen Kulturhimmel bezeichnet. Ihr außergewöhnliches Talent für bedeutungsschwere Literatur bewies sie vor allem dadurch, dass sie es überzeugend schaffte, sich in ihrem ersten Roman voller Empathie in ihre Titelheldin hineinzuversetzen: Ein 17-jähriges verzogenes Mädchen, das von ihrem prominenten Vater in Geld ertränkt wird und den lieben langen Tag nichts Besseres zu tun hat, als im Café zu sitzen, die Nächte in heruntergekommenen Diskotheken zu verleben und auf schmutzigen Damentoiletten romantische Erfahrungen zu sammeln. Der absolute Höhepunkt dieser leuchtenden Perle der jüngeren deutschen Literaturgeschichte ist dann ein intellektuell anspruchsvolles Tischgespräch über mehrere Seiten im Mittelteil zwischen der Hauptprotagonistin und ihrer besten Freundin. Ich zitiere freiweg:

Conny fragte:
„Möchtest du noch etwas Zucker in deinem Kaffee?“
Katja grübelte und zuckte mit der Schulter. Sie war sichtlich unentschlossen.
„Nun nimm doch!“, drängte Conny fürsorglich. Katja nickte:
„Zucker klingt gut! Ist nicht das ganze Leben schöner mit Zucker?“
„Ja!“, antwortete Conny. Sie biss in ihr Sandwich, kaute und sagte dann:
„Apropos Zucker, wie geht es eigentlich Dani?“
„Der hat sich jetzt ein neues Auto gekauft! Sonst macht er eigentlich nicht mehr viel! Er ist ja jetzt verheiratet!“, berichtete Katja. Conny entgegnete:
„Ach so! Das passt ja zu ihm! Er wollte schon immer ein neues Auto!“

Nach ihrem großen Publikumserfolg, über 500.000 Deutsche konnten sich schließlich für das Buch begeistern, erscheint bald übrigens der zweite Roman dieser beeindruckenden Schriftstellerin. Dieses Mal geht es um eine junge Frau Anfang zwanzig, die einst als 17-Jährige ihr Tagebuch veröffentlichen ließ, darin der interessierten Leserschaft von spannenden Nachmittagen in Berliner Cafés, anstrengenden Disco-Nächten in der Berliner Technoszene und romantischen Erlebnissen auf diversen Damentoiletten berichtet hat, und der nun allmählich die Ideen für neue, ebenso mitreissende Stories ausgehen.

Natürlich widme ich mich als Lektor und Literaturagent nicht nur der nachdenklichen, schweren Literatur, sondern auch den Schöpfern experimenteller Texte. Ob es sich dabei um Krimis handelt, geschrieben von Nachrichtensprechern, um Kochbücher, zusammengestellt von Politikern, oder Frauenratgeber, verfasst von Diplom-Meteorologen, das alles spielt für mich keine Rolle. Ich habe für jeden Autor ein offenes Ohr. Für jeden, der seine Gedanken zu dem ein oder anderen Thema auf Papier gedruckt sehen möchte und daneben zufälligerweise auch prominent, reich an Geld, reich an Einfluss, Schwede, gutaussehend, vorbestraft oder alles zusammen ist. Denn wir alle wissen doch, worauf es bei einem anspruchsvollen, tiefgründigen und intelligenten Manuskript wirklich ankommt. Richtig: Die Verkaufszahlen!

Daneben habe ich aber auch einen Spleen, denn ich bewundere ebenso Texte mit einer gebildeten, künstlerisch hochwertigen Sprache, mit einem sinnvollen Inhalt, von Poeten geschaffen, leicht verständlich, mit treffenden Vergleichen und stimmigen Aussagen. So wie folgenden:

„Seinen Körper empfand er in diesem Moment wie die Hülle eines Bienenstocks, gefüllt mit Honig, gelb schimmernd, glänzend wie Spülmittel, grünlich riechend und qualvoll das Herz beschwerend, so wie ein mit gähnender Spannung durchtränkter Eimer. Als sie seinen leuchtend pulsierenden Freudenspender mit ihrer saftig triefenden Fingerfalle umklammerte, dabei stöhnend dem Gefühl göttlichster Ergebenheit und sanftester Verbundenheit entgegen steuerte, wie ein betrunkener holländischer Seemann in einer sibirischen Kaschemme dem Genuss eines, mit gegärtem Zucker verdünnten Kartoffelsaftes, da pochte in ihm ein flehend schweigender Wunsch, ein Wunsch, wie das Dröhnen eines Flötenspielers aus Mexiko, nämlich das Verlangen es auszukosten, friedlich schwelgend, fröhlich zwitschernd und daneben alle Sorgen genussvoll aus dem Darm zischend.“

Natürlich gibt es immer wieder Bücher, die ich als Lektor und Literaturagent notgedrungen ablehnen muss, auch wenn sich die Verfasser in Form und Ausdruck spürbar Mühe gemacht haben. Eines hieß, glaube ich, „Tintenfass“. Es erzählt von Personen, die in die Handlung von Romanen springen, beziehungsweise Figuren aus Büchern herauslesen können. Diese Geschichte hatte zwei entscheidende Fehler, denn zum einen haben Bücher heutzutage keine Handlung mehr, in die man würde hineinspringen können, zumindest in Deutschland; zum anderen verfügte sie selbst über eine Handlung.
Ein anderes Buch beschrieb das Leben von einfachen Tieren auf einer einfachen Farm, das aber auf sehr infantile Art und Weise. Weshalb der Autor dieses Machwerk als politische Analogie bezeichnete, das ist mir bis heute ein Rätsel.
Einmal las ich ein Manuskript über ein bigottes, biederes Alpendorf und einen Knaben mit einem höheren Sinn für die Musik. Ich fand es ebenso schrecklich und langweilig wie einen Text, den ich wenige Jahre später zur Durchsicht vor mir liegen hatte. Dieser drehte sich um einen Jungen, der einer älteren Frau das Lesen beibringt. Beide Geschichten waren an Spannungsarmut kaum zu übertreffen und wurden meinerseits nicht einmal mit einer Standardabsage bedacht. Und ich kann auch nur sehr hoffen, dass die vorliegende Abhandlung zumindest den einen Erfolg hat, dass nämlich künftig kein junger, aufstrebender Autor mehr auf die Idee kommt, mir ellenlange Manuskripte über Seefahrer anzubieten, die einen Wal jagen, oder Geschichten über Abenteurer, die zwanzigtausend Meilen unter das Meer reisen, oder Novellen über alternde Aristokraten, die gutaussehenden Jünglingen während eines Strandurlaubs in Venedig lüstern nachstellen.

5. Über die Eigenschaften eines guten Buches

Was ein Buch an Eigenschaften aufweisen muss, um einen erfahrenen Lektor und Literaturagenten wie mich zu überzeugen, kann nicht pauschal gesagt werden. Einmal habe ich einen Text gelesen und fand ihn zu lang und zu kompliziert. Am nächsten Tag habe ich ihn versehentlich ein zweites Mal gelesen und fand ihn zu kurz und zu einfach. Einmal musste ich einem Autor, der mir einen Drogenroman unverlangt zugesendet hatte, eine Absage erteilen, weil mir das Thema Drogen als nicht mehr aktuell, als ein Relikt der 80er Jahre erschien. Nur sechs Monate später waren acht der zehn Top-Seller auf der Spiegel-Belletristik-Liste Drogenromane. Ein anderes Mal wollte ich einer Autorin eine Absage schreiben, obwohl sie prominent ist und als Fernsehmoderatorin arbeitet. Sie hatte ein Buch geschrieben über Hygieneprobleme bei Frauen, behauptete sie zumindest. Doch der Text war sogar für meinen Geschmack zu stillos, vulgär und darüber hinaus über alle Maßen prätentiös. Leider aber hatte ich die E-Mail-Adressen vertauscht, und so landete meine prägnant formulierte Absage versehentlich bei einer jungen, hochtalentierten Autorin, während die Zusage an besagte Moderatorin ging. Im Nachhinein bin ich über dieses bedauerliche Missverständnis jedoch sehr froh, denn das Buch der Moderatorin war ein großer Erfolg auf dem Markt, und seitdem finde sogar ich selbst, dass es sehr gut geschrieben und zudem literarisch außerordentlich wertvoll ist.
Rechtschreibung, Grammatik, Inhalt und Aufbau, das alles ist für ein gutes Buch völlig egal, denn um diese Kleinigkeiten kümmern sich die Profis. Ich bevorzuge Texte, die einfach so dahin geschrieben sind, so wie Tagebücher. Also Texte, bei denen man nicht das Gefühl bekommt, der Autor hätte peinlich genau auf Groß – und Kleinschreibung geachtet. Texte, die auf Handlung, Sinn, Spannungsbögen, kausale Zusammenhänge oder den ganzen anderen Firlefanz souverän verzichten. Texte, die den Leser nicht auch noch zum Nachdenken anregen wollen, sondern ihre eigene Interpretation gleich mitliefern. Texte, die mindestens 200 Normseiten lang sind und sich somit gut verkaufen lassen, ganz egal, was auf diesen 200 Seiten tatsächlich geschrieben steht. Texte, die nicht so verkrampft sind, so wie bei all den Autoren, die jahrelang an ihren Sätzen mühsam herum feilen und zwanghaft immer besser werden wollen. Gutes Aussehen, ein gutes Auftreten des Autors, alternativ gute familiäre Beziehungen, das alles sind viel bedeutendere Kriterien, wenn man bei einem Lektor oder Literaturagenten wie mir, der nach neuen literarischen Jahrhundert-Talenten Ausschau hält, Interesse erzeugen möchte. Künstlertypen hingegen ekeln mich an, sind für mich im 19. oder 20. Jahrhundert hängen geblieben, glauben noch an das zurückgezogene, weltfremde Genie, das sich den Mode-Erscheinungen der Zeit, den Vorurteilen des Spießbürgertums und den Zwängen des Marktes entziehen und sich lediglich darauf beschränken kann, Wahrheiten auszusprechen oder tiefere menschliche Gefühle zu beschreiben.

Vor allem Satiren lehne ich in der Regel grundsätzlich ab, außer sie sind im deutschen Stil einer Satire geschrieben. Denn die internationalen, aus England inspirierten Satiren kritisieren Personen, die noch leben, Entscheidungen, die noch getroffen werden, Missstände, die noch vorhanden sind. Sie beschreiben die Dinge so, wie sie wirklich sind, statt zu verfahren, wie bei den guten deutschen Satiren, die sich vorbildlich darauf beschränken die Vergangenheit zu bejammern und die Welt zu sehen, wie man sie gerne haben möchte. Eine typisch deutsche Satire ist für mich, wenn sich jemand einen lustigen Hut auf den Kopf setzt. Denn Satire soll spaßig sein, bloß nicht zu nachdenklich, zu kritisch oder zu intelligent. Wichtig ist bei Satiren nur, dass der Leser lacht. Das Thema darf dabei nicht zu anspruchsvoll gewählt sein. Ich empfehle jedem Satiriker, den Gegensatz zwischen Mann und Frau, Beziehungsprobleme oder Impotenz zum Gegenstand seiner Wehklagen zu machen. Politik, der Irrsinn der globalen Wirtschaftswelt oder die Dekadenz breiter Schichten der Gesellschaft sind für Satiren einfach nicht geeignet.

6. Ein Lob dem deutschen Kulturbetrieb

Ich wohne, wie bereits erwähnt, in Berlin, und möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, meine Heimatstadt zu ihrer großartigen Entwicklung zu beglückwünschen. Denn an diesem Ort ist der Traum Nietzsches vom neuen Übermenschen verwirklicht worden, zumindest wenn man die Kulturszene betrachtet. Gerade als Berliner erkenne ich völlig neutral und neidlos an, wie weit die deutsche Kultur in Berlin mittlerweile vorangeschritten ist. Diese kleingeistigen Bauerntrampel aus Bayern und Baden-Württemberg sollten stolz darauf sein, dass sie die Ehre haben diese Hochkultur mit ihren Steuergeldern finanzieren zu dürfen.
Tatsächlich sehe ich ganz Deutschland, dank des überragenden Einflusses von Berlin, mittlerweile auf dem Höhepunkt seiner kulturellen Schaffenskraft. Wann hat es schließlich jemals so viele, qualitativ hochwertige, deutschsprachige Bücher auf dem Markt gegeben? Zu Zeiten von Thomas Mann, Hermann Hesse, Max Frisch, Arthur Schnitzler, Ludwig Thoma, E.T.A. Hoffmann, Heinrich Mann, Carl Zuckmayer, Jean Paul, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Anette von Droste-Hülshoff, Friedrich Schiller, Clemens Brentano, Friedrich Hölderlin, Theodor Fontane, Georg Büchner, Gerhart Hauptmann, Theodor Storm, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht, Franz Kafka, Ödön von Horvath, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky, Alfred Döblin oder Karl Kraus vielleicht? Wenn Sie das denken, dann sind Sie leider ein unverbesserlicher Romantiker, der keine Ahnung hat auf was es heutzutage wirklich ankommt: Nämlich die Anzahl der „Likes“ auf Facebook oder die wohlmeinenden Kritiken der, den Vormenschen intellektuell gänzlich überlegenen Kommentatoren bei Amazon. Und in all diesen Kriterien schneiden die vermeintlichen Klassiker leider nur äußerst unzureichend ab, anders als all die großen Autoren der Gegenwart, anders als all die Nachrichtensprecher, TV-Moderatoren, Gangster-Rapper, Großkriminelle, begabte Serienvergewaltiger, Drogenopfer, jugendliche Gewalttäter, ehemalige Porno-Darstellerinnen, Politiker, verzogene Töchter von Berliner Theater-Intendanten mit Profilneurose, Tomatenpropheten, Weltuntergangsapologeten, Zuhälter, Alltagsneurotiker, ehemalige Sportler samt all ihrer jeweiligen Sprösslinge.
Nur das Ausland hat die enorme literarische Begabung der deutschen Autoren leider noch nicht erkannt. Denn hier dominieren alte, mittlerweile überholte Werte wie Sinn, Handlung, Aussage oder Phantasie immer noch den Buchmarkt. Die Bedeutung von Texten, die sich einzig und allein nur mit den psychologischen Traumata der jeweiligen Autoren, mit alltäglichen Problemen, wie dem Suchen nach einem Parkplatz, dem Öffnen einer Dose, oder der Darstellung der eigenen Kompetenz und Überlegenheit befassen, werden außerhalb Deutschlands leider nur unzureichend gewürdigt, oft sogar belacht. Romane, geschrieben von Fernsehköchen, die lediglich aufgrund ihrer Bekanntheit einen Verlag finden konnten, erfreuen sich im Ausland daher unglücklicherweise sehr geringer Beachtung. Es ist ein weiterer Beweis für die Modernität und Größe der deutschen Literatur des 21. Jahrhunderts, ein Hinweis auf die Genialität unserer Meister, dass sie der Kritik der Belesenen souverän mit der Kraft ihres Schaffens trotzen, sich nicht beeinflussen lassen von Fragen des Stils, des guten Geschmacks oder des gesunden Menschenverstands.

Gelegentlich kann es natürlich vorkommen, dass sich auch ein Lektor und Literaturagent bei der Einschätzung eines Manuskripts irrt. Erst kürzlich lagen mir zwei Romane eines hochdepressiven, nachdenklichen Autors vor. Beiden Texten musste ich, aus oben genannten Gründen, eine Absage erteilen. Als der Mann dann aber tot war, da haben wir im Büro spontan festgestellt, was für ein enormes Talent dieser Schriftsteller hatte. Schade, dass wir es nicht früher bemerkt haben, denn er hätte sicherlich noch viele gute Bücher schreiben können, die wohl auch viele Menschen hätten glücklich machen können, wenn er nur nicht so unauffällig gewesen wäre und durch seine eigene Bescheidenheit seine Entdeckung so lange Zeit verhindert hätte. Man muss ja immerhin auch erwarten dürfen, dass sich ein Schriftsteller 20 Jahre der Meinung und den Wünschen seiner Kritiker uneingeschränkt anpasst, um einen Literaturagenten oder Lektor wie mich von seinen Qualitäten zu überzeugen, nur um dann in seiner späteren Schaffenszeit geniale, unangepasste Texte zu verfassen. In diesem ganz speziellen Fall tut es mir um den Autor allerdings aufrichtig leid, denn er war nicht so wie andere, die es mit ihrer sturen Haltung nicht anders verdient gehabt haben, als im Literaturgeschäft zu scheitern; die nicht bereit waren, jemanden zu erschießen, wenn auch nur sich selbst, oder durch Erfolg im Fernsehen berühmt zu werden, um als Schriftsteller zu reüssieren.

Ich bin sehr froh, dass wir uns in Deutschland seit einigen Jahrzehnten erfolgreich dem allgemeinen, seit Jahrtausenden währenden internationalen Trend entziehen, demnach Bücher humorvoll und interessant geschrieben sein und eine Geschichte enthalten müssen. Niveaulose, oberflächliche, unreflektierte Bücher, wie „Der Herr der Ringe“, „Der Fänger im Roggen“ oder „Harry Potter“, wären in einem Kulturland wie Deutschland niemals möglich gewesen, ebenso wenig Filme wie „Fargo“, „American Beauty“ oder „Inglorious Basterds“. Sie alle hätten auf dem deutschen Kulturmarkt niemals eine Chance gehabt neben all den Romanen und Drehbüchern geschrieben von Schauspielern, Wetterfröschen, Musikern, Steuerbetrügern, rechtsradikalen Jugendlichen, Historikern, Landstreichern, ehemaligen Porno-Darstellerinnen, Promi-Ärzten, Gewerkschaftsbossen, Alltagsphilosophen, Komikern, Esoterikern, Menschenschleppern, Ausbeutern, Trend-Autoren, ehemaligen Fußballern und all ihren jeweiligen Sprösslingen.
Ich selbst kann ein Lied davon singen, wenn ich nur an all die hochwertigen Manuskripte denke, die mir gerade eben, in diesem Augenblick, zur Prüfung vorliegen. Darunter unter anderem 263 überaus kreative, einfallsreiche, überaus revolutionäre Vampir-Geschichten, 329 brutale, authentische Drogenromane aus der Berliner Techno-Szene, 480 spannende Krimis, die alle in Oberbayern spielen, 691 informative Frauenratgeber, 1.418 Sachbücher von jungen Frauen aus gutem Elternhaus, die über ihre Liebeserfahrungen schreiben, 5.114 Fantasy-Storys über Monster in einer imaginären, mittelalterlichen Welt, 211 Enthüllungsbücher, verfasst von ehemaligen Fußball-Bundesligaspielern, 2.163 Memoiren von diversen A-, B-, C-, D- und E-Prominenten; sowie die Autobiographie einer ehemaligen Präsidentengattin, die darin über ihr Sexualleben berichtet. Sie alle sind ein Beweis für die enorme Vielfalt in der deutschen Literaturszene, die im internationalen Vergleich sicherlich ihresgleichen sucht.
Den deutschen Verlagen kann ich angesichts der Fülle an hochtalentierten Prominenten einzig und alleine vorwerfen, dass man nicht konsequent geblieben ist und gleich gänzlich auf neue, begabte, unbekannte Autoren verzichtet hat. Denn wenn es nach mir ginge, dann sollte man nur noch auf die literarischen Ergüsse von Fernsehköchen und ehemaligen Sportlern setzen. Und ich befürchte, dass die zunehmende Zahl an Insolvenzen in der deutschen Verlagsszene auf eben diesen Missstand zurückzuführen ist, trotz der zum Teil horrenden Handgelder und Vorschüsse, die die berühmten Autoren für ihre Meisterwerke erhalten. Dass es die wenigen aus dem Ausland für teures Geld eingekauften Bücher schwedischer, amerikanischer, britischer oder europäischer Herkunft sind, die die deutschen Buchverlage überhaupt noch am Leben halten, mag meiner berechtigten Ablehnung des internationalen Schreibstils vielleicht zuwider reden. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass die Ursache hierfür vor allem in der Sturheit der deutschen Leserschaft zu sehen ist, die sich immer noch für niveaulose, primitive Publikationen mit Handlung, Humor und Spannung begeistert, anstatt endlich dem Geschmack unserer intellektuellen, anspruchsvollen deutschen Lektoren zu folgen, und sich gänzlich der Selbstbestätigungsliteratur unserer Prominenten zuzuwenden. Es ist in diesem geistigen Klima wahrlich kein Wunder, wenn die deutschen Verlage vermehrt rote Zahlen schreiben und die Leser ihr vermeintliches Heil in den, von den hilflosen, unbeachteten deutschen Autoren selbst veröffentlichten E-Books suchen; womit sie die geistige Zensur durch die deutschen Lektorate jedoch dreist unterlaufen.
Nun gut, ich persönlich schätze geschichtliche Kontinuität. Schließlich wurden in diesem Land der Dichter und Denker noch vor nicht allzu langer Zeit Bücher verbrannt. Heutzutage werden sie eben gebrannt. Aber bei all meiner Begeisterung für das Neue kann ich trotzdem nur hoffen, dass das Ergebnis am Ende nicht doch das gleiche ist.

 

Hallo,

hat dir denn keiner gesagt, dass du dem Text einen 50-Euro-Schein beilegen musst, damit er gelesen wird? Wir nehmen natürlich auch Paypal-Codes.

Gruß
Quinn

P.S.: Ich hab das gelesen ... ich find's extrem bitter und es spiegelt alle Klischees über den Buchmarkt ziemlich uninspiriert wieder. Vor allem die Idee, Texte würden abgelehnt, wenn sie zu gut wären. Da gibt es immer das Beispiel von Schlafes Bruder, das x mal abgelehnt wurde, bis es bei Reclam Leipzig rauskam. Der Text suggeriert die allgemeine Position: Wie konnten die das Genie übersehen? Ich würde fragen: Wie muss das Manuskript vor der Überarbeitung ausgesehen haben, dass sie das Genie übersehen konnten? Ich weiß es nicht, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand Schlafes Bruder in der fertigen Form liest und sagt: Wäch.
Mir hat das Lesen nicht viel gegeben. Fast alle Positionen in dem Text hab ich schon gehört, paar kann ich auch durchaus unterschreiben. Aber nur weil ich der Passage mit dem 17jährigen Mädchen zustimme, wird sie nicht besser. Da passiert sogar noch weniger in mir, als wenn ich ihr aus tiefstem Herzen widersprechen würde. So appelliert der Text an meine eigene Abstumpfung und meinen eigenen Zynismus. Das ist ja ein Text, dessen einzige Antwort Apathie sein muss. So ein dumpfes Grollen und ein Zurückziehen aufs Ich, weil die Welt so dumm ist, dass man sich nicht mit ihr abgeben sollte. Keiner will wissen, was ich zu sagen hab, weil die Welt so taub und verstopft ist, dann schweig ich lieber und bin im Recht und mir wird Unrecht getan.

Es ist wie bei vielen Satiren leider so, dass sie nur einen Ton treffen und den wieder und wieder und immer wieder.

Wenn jetzt ein extrem talentierter, junger Mensch aufgebrochen wäre, den Buchmarkt zu verändern und er hätte ein verkrustetes System vorgefunden, an dem er langsam scheitert: Das wäre eine dynamischere Ausgangsposition für den Stoff gewesen. Gut, das ist auch nur Standard-Dreh Nr.1. Noch besser wär's natürlich gewesen, der Text hätte eine echte Idee, einen kreativen Moment, Witz.
So hakt er eine viel zu lange Checkliste von Klischees ab.
Als Satire hat er tatsächlich auch eher einen affirmativen Charakter, während die besten Satiren das System eher angreifen sollte. Der Text hier gibt zwar vor, ein System "anzugreifen", tatsächlich bestätigt er lediglich das Bild, das viele frustrierte Autoren und Kunstschaffende von der Kunstindustrie haben.

 

Hallo Werner Schatten,

willkommen bei den Wortkriegern.

Dein Text hat mir zwar inhaltlich gefallen, denn die von dir aufgeführten Missstände wurden allesamt mit Kopfnicken begleitet. Es ist jedoch immer einfacher, jemanden zu erreichen, wenn man mit ihm einer Ansicht ist.
Was mir gründlich an deinem Text fehlt, ist die Handlung. Alles, was man sich von einer guten Kurzgeschichte wünscht, wie prägnante Figuren, interessanter Plot, Spannungsaufbau, Hintergründigkeit fehlt mir hier leider.
Der Text wirkt eher wie eine Kolumne und gehört eher in die Zeitung.
In fast allen deinen Aussagen, die du natürlich etwas ironisch überspitzt, geht es um Zustände, wie sie im Grunde genommen in Deutschland gegeben sind. Man könnte also allenfalls, wenn man überhaupt von einer Satire sprechen möchte, von einer sog. Realsatire reden, also einer Parodie auf die vorhandenen Verhältnisse.
Ich kann dir zwar keine Lösung anbieten, wie man aus deiner Idee eine gute Satire basteln könnte, aber so, wie es hier jetzt steht, finde ich die Umsetzung zu bieder. Biederkeit lässt rasch Langeweile aufkommen und an einigen Stellen deines Textes war ich versucht, schneller zu , gar drüber weg zu lesen.


Viele deiner Aussagen haben mir gefallen und natürlich meine ich damit, die Kritik, die du damit geübt hast. Bei manchen Formulierungen musste ich schmunzeln und es hat auch Spass gemacht, an einigen Stellen zu raten, welche Autoren du gemeint hast. Was mir noch fehlte, war ein kleiner Seitenhieb auf diese elenden Wanderhurenromane.

Meine Praktikanten, einige von ihnen sind bereits seit mehreren Jahren bei mir beschäftigt,
Von solchen Bonmots hätte ich gern noch mehr gelesen.


Lieben Gruß

lakita

 

Wann hat es schließlich jemals so viele qualitativ hochwertige deutschsprachige Bücher auf dem Markt gegeben? Zu Zeiten von Thomas Mann, Hermann Hesse, Max Frisch, Arthur Schnitzler, Ludwig Thoma, E.T.A. Hoffmann, Heinrich Mann, Carl Zuckmayer, Jean Paul, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Anette von Droste-Hülshoff, Friedrich Schiller, Clemens Brentano, Friedrich Hölderlin, Theodor Fontane, Georg Büchner, Gerhart Hauptmann, Theodor Storm, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht, Franz Kafka, Ödön von Horvath, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky, Alfred Döblin oder Karl Kraus vielleicht?

Hier sieht man, Werner Schatten, dein Ich-Erzähler hat zwar Germanistikstudium hinter sich, kennt daher einige bedeutende Literaten der letzten 250 Jahre, aber schon beim 1991 gestorbenen Max Frisch ist Schluss. Wahrscheinlich hat er zu diesem Zeitpunkt das Studium beendet - anscheinend ohne die Werke von Günter Grass, Heinrich Böll oder Siegfried Lenz gelesen zu haben, um nur 3 der bekanntesten Autoren zu nennen.

Jedenfalls scheint er von der neuen deutschen Literatur nichts mitbekommen zu haben – Adolf Muschg, Peter Handke oder die ganze DDR-Literatur existieren für ihn z.B. nicht - außer natürlich ein paar negativen Schlagzeilen, die sich vornehmlich mit Skandalnudeln von Helene Hegemann bis Charlotte Roche beschäftigen. Das hat natürlich System, denn ohne diese Blindheit hätte er das alles nicht erzählen, spricht ein Klischee nach dem anderen präsentieren können, die zudem alle nach dem gleichen Strickmuster daherkommen, was schon Quinn richtig festgestellt hat.

Apropos Strickmuster: Dieser Rundumschlag ist keine Geschichte, sondern mit heißer Nadel gestrickter Text – Teufel soll mich holen, wenn das nicht als Unterstützung für den Blogeintrag von jimmysalaryman, der unter dem nichtssagenden Titel „Relevanter Artikel.“ läuft, gedacht war.

Aber etwas hast du, Werner Schatten, doch richtig gemacht: Die Einsortierung in die Rubrik Sonstige. Für jemand, der sich erst kurz vor dem Posten des Textes hier angemeldet hat, eine beachtliche Leistung. :thumbsup:

 

@Werner Schatten

Schon in Teilen ein sehr unterhaltsamer Text und streckenweise für meinen Geschmack auch echt gut geschrieben. Zweites Kapitel habe ich geskippt (die Biografie) und auch am Ende Abkürzungen genommen. Den ersten Teil fand ich aber sehr witzig und immer wenn es mir nicht überzogen oder ausgedacht vorkam, habe ich es gemocht. Kann Mitlesern empfehlen, mal in diesem irgendwie kaum beachteten Text zu stöbern.

Falls der Werner doch nochmal vorbeischaut: ich würde den Text auf die witzigen, ehrlichen Einsichten in den vermarktungsorientierten Pop-Lit.-Markt und die echt klingenden, leicht fiesen Absagen an die (wunderbare Formulierung) "neoromantischen Vorstellungen vom Wesen der Literaturszene" konzentrieren und den Text nochmal ordentlich eindampfen.

stand lange im Verdacht Legastheniker zu sein, was glücklicherweise, dank eines teuren, fachärztlichen Attests widerlegt werden konnte

Das führt (zumindest) heute zu einem Nachteilsausgleich. Du profitierst also eher davon.

„Seinen Körper empfand er in diesem Moment wie die Hülle eines Bienenstocks, gefüllt mit Honig, gelb schimmernd, glänzend wie Spülmittel, grünlich riechend und qualvoll das Herz beschwerend, so wie ein mit gähnender Spannung durchtränkter Eimer. Als sie seinen leuchtend pulsierenden Freudenspender mit ihrer saftig triefenden Fingerfalle umklammerte, dabei stöhnend dem Gefühl göttlichster Ergebenheit und sanftester Verbundenheit entgegen steuerte, wie ein betrunkener holländischer Seemann in einer sibirischen Kaschemme dem Genuss eines, mit gegärtem Zucker verdünnten Kartoffelsaftes, da pochte in ihm ein flehend schweigender Wunsch, ein Wunsch, wie das Dröhnen eines Flötenspielers aus Mexiko, nämlich das Verlangen es auszukosten, friedlich schwelgend, fröhlich zwitschernd und daneben alle Sorgen genussvoll aus dem Darm zischend.“

herrlich

Hat Spaß gemacht.
LG

 

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