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- 05.02.2003
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Beinahe
Beinahe.
von Klaus Briesemeister
Der Wecker klingelte.
Missmutig stand Harry auf.
Seine Frau war verreist und das grosse Haus und die ungewohnte Stille wirkten etwas unheimlich.
Im Winter war es besonders unangenehm für ihn, sich so früh schon aus den Federn zu erheben.
Er war überdies sehr spät eingeschlafen, und das lag an einem spannenden Roman den er am Abend zuvor noch im Bett zu Ende gelesen hatte.
Dieser Roman, der sich anfangs mehr wie ein Kriminalroman gelesen hatte, erwies sich zum Ende immer mehr als die ihn sehr stark beeindruckende Schilderung der Einzelheiten eines bestialischen Mordes und dies war wohl auch der Hauptgrund seines viel zu späten Einschlafens gewesen.
Lange hatte er deshalb noch wach gelegen, aber es half nichts - er musste sich nun schon beeilen,
denn um 7.00 Uhr begann seine Arbeit am Fliessband einer Automobilfabrik.
Als er nach dem Waschen die Treppe hinunter zum Esszimmer eilte, fühlte er sich nur wenig besser, aber immer
noch musste er an jenen grausigen Schluss des Romans denken.
Er schaltete das Licht im Esszimmer ein und zog die Jalousien hoch, obwohl draussen rabenschwarze Finsternis herrschte.
Der Grund hierfür bestand darin, dass er jeden Morgen die Terrassentür einen Spalt öffnete, um frische Luft hereinzulassen.
Dann ging er kurz in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an, nahm bei der Gelegenheit gleich den Mülleimer unter der Spüle raus und brachte ihn zum Entleeren in den Keller, wo der Abfallbehälter stand.
Es war mucksmäuschenstill im Keller und beim Entleeren des Eimers schoss ihm plötzlich der Gedanke in den Kopf, dass es eigentlich Leichtsinn bedeutete, die Terrassentür geöffnet zu lassen, ohne zu sehen zu können, ob
nicht vielleicht irgendein Bösewicht im Garten nur darauf lauerte.
Über diese Möglichkeit hatte er eigentlich sonst nie nachgedacht, aber nun wurde er sehr unruhig.
"Meine Güte, ich Idiot - wo doch heute soviel passiert! Frei umlaufende Mörder warten doch nur auf diese Gelegenheit!" schoss es ihm durch den Kopf.
"Womöglich versucht gerade jemand mit solch einem gewaltigen Messer wie der Mörder aus dem Roman ins Haus zu kommen"
Er schloss hastig den Deckel des Abfallbehälters, schnappte den Mülleimer und nahm mehrere Stufen auf einmal
auf der Treppe nach oben .
"Schnell, schnell" dachte er und fühlte wie seine Haut im Gesicht eisig wurde von einer Gänsehaut, wie eine unsichtbare Kraft seinen Brustkorb einengte.
"Die Tür muss zu, die verdammte Terrassentür! Bloss zumachen, um Himmelswillen zumachen!
Das Esszimmer - jetzt noch nur noch zwei Schritte!"
Und dann plötzlich überliefen ihn fürchterliche Schauer des Schreckens - er sah die Umrisse eines Kerls hinter dem Glas der Terrassentür!
Harry hechtete zum Griff und schlug mit unglaublicher Wucht die Terrassentür zu.
Kreidebleich im Gesicht und schwer atmend vor Entsetzen wollte er in die Küche zurückeilen um irgendeinen
Gegenstand für die Abwehr zu finden.
Rückwärts taumelnd sah er nun aber doch, wie sein eigenes Spiegelbild wieder auf auf der Scheibe der Terrassentür auftauchte.
Nur in Umrissen.
Die Lampe im Esszimmer reflektierte seine Umrisse auf die Scheibe - bedingt durch die Dunkelheit draußen sah es aus, als stünde ein Fremder hinter der Scheibe .
Harry's Lachen klang unecht.
"Ich Idiot" dachte er.
"Ich verdammter Idiot!"
"Verdammt."
Das Grauen wollte nicht so recht weichen.
Niemand würde er davon erzählen.
Draussen im Garten - hinter der Dunkelheit einer Mauer fluchte ein breitschulteriger Mann leise
vor sich hin.
Er trug eine Wollmaske.
Mit der rechten Hand umklammerte er das grosse Messer.
"Morgen ist auch noch ein Tag" dachte er....
*
K. Briesemeister © 2003