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Beim Nachtmahr
Hier musste es sein. Fast wäre ich an der kaum noch leserlichen, von Efeu überwachsenen Tafel vorbei gegangen:
"An der Trauerweide 9
Nachtmahr
Traumkanzlei"
Es war eine hübsche alte Villa, die sich trotz ihres schon etwas heruntergekommenen Zustandes schön in die Reihe der anderen Häuser einfügte. Die Mauer, die wohl als Begrenzung für den wild wuchernden Vorgarten diente, zog sich vor mir in die Höhe. Der braunrote Sandstein, aus dem die Mauer bestand, fing schon an der einen oder anderen Stelle an zu zerfallen. Das hohe Eisengatter warf, von der Abendsonne getroffen, lange Schatten. Ich öffnete es und trat in den Garten.
Am selben Morgen hatte ich mich entschieden, dem Nachtmahr einen Besuch abzustatten. Ich wollte mit ihm über meine Träume sprechen. Grundsätzlich war ich mit ihnen eigentlich zufrieden. Der Nachtmahr leistete gute Arbeit: Mal träumte ich, mein Hund könne sprechen, mal sah ich mich durch märchenhafte Wälder gehen, mal war ich ein Rockstar. Manchmal träumte ich vom Fliegen und einmal durfte ich sogar meinen eigenen Chef entlassen.
Ich ging den kurzen Kiesweg durch den Vorgarten, wobei ich mich unter herunterhängenden Zweigen hindurchbücken musste. Die Gräser am Wegrand waren hüfthoch. Die Linden vor dem Haus mussten meiner Einschätzung nach schon uralt sein, vermutlich um ein Vielfaches älter als ich. Die Haustür war wohl kürzlich vom Efeu befreit worden. Sie war die einzige Stelle an der Hausfront, die nicht dicht bewachsen war. Ich ging die wenigen Stufen zu ihr hinauf und suchte nach einer Klingel. Da ich keine entdecken konnte, nahm ich mit dem Türklopfer vorlieb. Dreimal klopfte ich. Im Inneren hörte ich den Widerhall.
Natürlich, manchmal waren meine Träume auch schon etwas merkwürdig gewesen, aber das konnte ja vorkommen. Zeitweise waren die Bilder, die ich sah, seltsam verschleiert, oder Personen, von denen ich träumte, sprachen extrem undeutlich oder ließen einfach ganze Worte weg. Einmal war plötzlich vor mir eine Telefonrechnung aufgetaucht. Sie war noch nicht einmal an mich adressiert gewesen, sondern an: "An der Trauerweide 9". Na gut, so was kann mal passieren. Ich weiß ja, der Nachtmahr hat viel zu tun. Aber was ich die letzte Woche über geträumt hatte, hatte mich schon stark verwirrt.
Ich klopfte noch einmal an die Tür, diesmal etwas lauter. Vielleicht war gar niemand zu Hause? Doch diesmal schien sich im Inneren des Hauses etwas zu regen. Ich hörte Schritte. Jemand klapperte mit dem Riegel, und die Tür ging auf. Aus dem Türspalt sah ein von Falten gezeichnetes Gesicht mit dunkler, fast schwarzer Haut zu mir herauf: "Sie wünschen?"
"Guten Tag", sagte ich schnell, "Schulze mein Name. Ich möchte gerne den Nachtmahr sprechen."
"Zu Diensten", sagte der Nachtmahr. Er hatte eine etwas krächzende, fast quäkige Stimme. "Was kann ich für Sie tun?"
"Es geht um meine Träume", antwortete ich. "Könnte ich reinkommen?"
Meine Selbst-Einladung schien dem Nachtmahr nicht so ganz zu gefallen. Er runzelte die ohnehin schon runzlige Stirn und zuckte mit seinen langen, spitzen Ohren: "Na gut, aber fassen Sie sich kurz."
Er öffnete die Tür und ließ mich eintreten. "Folgen Sie mir", quäkte er mir zu. Ich ging ihm durch eine große Eingangshalle nach. Die Tür fiel hinter mir hallend ins Schloss. Von hier aus führten zwei breite, staubbedeckte Treppen ab, vermutlich in die Schlafräume. Ich sah zur Empore hinauf und bemerkte einen beeindruckenden Kronleuchter.
"Schönes Haus haben Sie da...", versuchte ich ein Gespräch zu beginnen. "Sie haben sicher viele Diener und Sekretäre hier, die Ihnen bei der Arbeit helfen?"
"Ja die hatte ich mal.", antwortete der Nachtmahr etwas grimmig. "Der letzte ist jedoch bereits vor langer Zeit in Rente gegangen. Keine Ahnung, was aus denen geworden ist".
Er ging vor mir durch die Gänge. Auf seinem fast kahlen Kopf waren ein paar übrig gebliebene, weiße Haare. Seine Haut erinnerte mich an dunkles Leder. Auf dem Rücken hatte er zwei Flügel, ähnlich denen eines Wasserspeiers, wie man sie heute noch an älteren Gebäuden sehen kann. Der Nachtmahr hatte einen gebückten Gang, wodurch er zwei Köpfe kleiner wirkte als ich.
Wir betraten einen Raum, der wohl als Büro dienen musste. Der Geruch von altem Papier, Ledereinbänden und Druckerschwärze schlug mir entgegen. Die Regale reichten bis zur hohen Decke des Raumes und waren über und über voll gestopft mit Büchern, Ordnern, Blätterstapeln, Zetteln, Gemälden, Stiften, Pinseln, Farben und allerlei Gerätschaften, die ich nicht zuordnen konnte.
Am Ende des Raums stand ein breiter, schwerer Schreibtisch aus dunklem Holz, der ebenfalls voll war mit Zetteln, Ordnern und Büchern - das reinste Chaos. Der Nachtmahr ging um den Tisch herum und setzte sich. Er bedeutete mir, auf der gegenüberliegenden Seite Platz zu nehmen.
"Schildern Sie Ihr Anliegen!", sagte er in überraschend sachlichem Tonfall.
Ich überlegte, wie ich meine Bitte vortragen konnte, ohne ihn zu kränken. Schließlich hatte ich Kritik an seiner Arbeit zu üben. "Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich im Allgemeinen sehr mit Ihrer Arbeit zufrieden bin, Herr Nachtmahr. Ihre Träume sind wirklich sehr..."
"Kommen Sie bitte zum Punkt. Sie sehen doch, wie viel Arbeit ich hier noch zu erledigen habe!", fiel er mir ins Wort. Er hielt wohl nicht viel von Lobesreden. "Naja...", sagte ich, "meine Träume sind in letzter Zeit irgendwie komisch. Ich sehe Dinge, die ich gar nicht kenne, spreche mit Menschen, die ich noch nie gesehen habe."
"Das sind eben Träume", erklärte der Nachtmahr, "die unterscheiden sich in gewissen Punkten von der Realität. Es kann durchaus vorkommen, dass das, was Sie aus Ihrem Alltag kennen, mal ein wenig verzerrt wiedergegeben wird, oder Sie eine Weile nach der Bedeutung suchen müssen." "Nein, nein. Sie verstehen nicht!", redete ich auf ihn ein. "Ich bewege mich durch ein Haus, das ich gar nicht kenne, als wäre es mein eigenes, sehe dort eine Frau und Kinder, die nicht meine sind. Wenn ich aus der Haustür gehe sieht es aus, als ob ich im Ruhrpott wäre. Im Ruhrpott! Und ich träume von Katzen. Ich mag keine Katzen. Ich habe vorher nie von Katzen geträumt. Das ergibt keinen Sinn! Sie müssen einen Fehler gemacht haben."
"Wie war gleich Ihr Name? Schulze?", fragte der Nachtmahr, während er aufstand und zu einem Regal ging, in dem hunderte von Aktenordnern standen. "Genau", sagte ich, "Peter Schulze." Der Nachtmahr zog einen der Aktenordner heraus, legte ihn vor mir auf den Schreibtisch und schlug ihn auf. Ich freute mich, als ich in ihm ein sehr vertrautes Bild sah: Mein Hund in Anzug und Krawatte an einem Rednerpult. Das kannte ich gut, das hatte ich schon oft geträumt. "Ist das der richtige?" fragte mich der Nachtmahr. "Ja, das ist er", sagte ich, während ich durch den Ordner blätterte und viele meiner Träume wiedererkannte. Ich fand sogar die Telefonrechnung, die einmal aufgetaucht war, und gab sie dem Nachtmahr zurück, der sie auf einen seiner Papierstapel legte. "Aber nichts davon habe ich in der letzten Zeit geträumt! Nur irgendwelchen anderen Plunder."
"Sehen Sie vor dem Schlafengehen viel fern oder beschäftigen Sie sich in letzter Zeit viel mit Ihren früheren Leben?" fragte der Nachtmahr routiniert. "Naja, eigentlich auch nicht mehr als sonst...", antwortete ich. Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte. "Haben Sie in der letzten Woche Zeitreisen betrieben oder sind Sie umgezogen?", führte der Nachtmahr seine Befragung fort. "Haben Sie möglicherweise meinen Zuständigkeitsbereich verlassen?"
"Nein, nein. Mit Zeitreisen habe ich nichts am Hut. Ich bin im Rechnungswesen tätig. Umgezogen bin ich auch nicht. Ich wohne seit sechs Jahren an derselben Adresse", erklärte ich dem Nachtmahr.
Er hielt inne und schien nachzudenken. Seine Augen wanderten langsam hin und her und seine hohe Stirn zog sich in Falten. "Ich habe eigentlich in der letzten Zeit überhaupt nichts an meinem Alltag geändert", sagte ich, "nur die Träume sind anders." Doch der Nachtmahr schien mir nicht zuzuhören. Er hatte einen alten schweren Wälzer mit dem Titel "Traumologische Störungsbilder - Äthiogenese und Differenzialdiagnostik" hervorgeholt und blätterte - ein wenig chaotisch - darin herum. Da konnte ich wohl ohnehin nicht mitreden. Ich ließ meinen Blick im Raum umherschweifen. Vermutlich hatten nicht viele Leute die Gelegenheit, einen Blick in das Arbeitszimmer des Nachtmahrs zu werfen. In einer Ecke des Raumes war eine Art Kunstatelier mit Leinwand und Ölfarben eingerichtet. Hier entstanden wohl Traumbilder. Ich konnte mir schwerlich vorstellen, dass das alte Wesen, das mir gegenüber saß, die viele Arbeit alleine erledigte. Versunken blätterte der Nachtmahr in seinem Buch.
Der riesige Aktenschrank hinter dem Schreibtisch war voll mit Ordnern, mit "Traumakten". Als ich meinen Blick darüber schweifen ließ, wurde ich neugierig. Was wohl all die anderen Leute träumten? Ich hätte zu gerne einmal in die Traumakte meines Nachbarn hineingesehen, oder in die meiner Frau. Die behauptete immer, sie träume nicht. Ob ich wohl auch in den Träumen meines Hundes auftauchte? Ich hielt inne. Hatte ich auf einem der Aktenordner nicht gerade die Aufschrift "Traumakte Peter Schulze" gelesen? Doch! Eindeutig. Da stand sie im Schrank. "Peter Schulze". Aber welche Akte lag dann vor mir auf dem Schreibtisch? Ich klappte sie zu, um die Aufschrift lesen zu können. "Traumakte Peter Schultze" stand da. "Schultze". Mit "tz". Keine Ahnung wer das war. Ich jedenfalls nicht.
"Ähm... Herr Nachtmahr?", fragte ich. "Was ist denn?" quäkte er zu mir herüber, ohne aufzublicken. "Ich glaube, auf diesem Ordner ist mein Name falsch geschrieben", antwortete ich. "Mich schreibt man ohne 't'."
"Oh...", sagte der Nachtmahr. Er drehte sich etwas schwerfällig zu dem Aktenregal um. "Da liegt wohl ein Fehler vor."
Hatte ich das nicht zu Beginn gesagt?
Er ging in seiner langsamen Art zum Regal, zog meine Akte heraus und legte sie vor mir auf den Schreibtisch. Als er sie öffnete, erkannte ich sofort die befremdlichen Traumbilder der letzten Wochen wieder. Die mir unbekannte Familie, der Ruhrpott und die Katzen. Ob wohl dieser andere Schultze in der letzten Zeit MEINE Träume geträumt hatte? "Schön, dass wir das Problem gefunden haben", sagte der Nachtmahr, "Sie finden alleine hinaus?"
"Äh...", sagte ich. Er hatte mich etwas überrumpelt. "Ich denke schon. Bis wann glauben Sie, werden meine Träume wieder wie früher..." "Gerade aus durch den langen Gang, durch die Halle leicht nach links an den Treppen vorbei und dann kommen Sie schon in den Garten", unterbrach er mich. "Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde die Umsortierung ihrer Träume in die richtige Akte bei nächster Gelegenheit vornehmen."
Ich wandte mich zum Gehen "Dann vielen Dank noch mal! Und entschuldigen Sie auch die Störung!" Aber der Nachtmahr schien mich schon gar nicht mehr zu hören. Er wühlte in irgendwelchen Blätterstapeln auf seinem Schreibtisch.
"Komischer Kauz", dachte ich beim Hinausgehen, "hoffentlich vergisst er nicht sofort wieder, was er mit meinen Träumen vorhat." Ich wanderte durch die Gänge und die große Eingangshalle. Und während ich zurück durch den verwilderten Garten und durch das Eisentor ging, dachte ich: "Aber ich sollte auch nachsichtig mit ihm sein. Er ist allein. Und auch nicht mehr der jüngste."
Noch in derselben Nacht hielt mein Hund eine schwungvolle Lobesrede über Nachtmahren und deren Arbeit. Wirklich sehr witzig.