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Beichtgeheimnis
Ich bin ein Versager. Ich hasse die Gesellschaft in der ich lebe, obgleich es mir gut geht, obgleich sich die Leute seit dem, was geschehen ist, ein wenig mehr achten. Ich muß nicht hungern in dieser Gesellschaft, obwohl ich meist zu faul zum Arbeiten bin. Nur dann und wann mache ich mich nützlich; nicht wie die Frauen und die Alten, die die Felder bestellen, die Unterkünfte ausbessern und Kleider nähen oder einander helfen; nicht wie die Wachmänner, die für Ordnung sorgen und uns vor den Angriffen umherziehender Banden schützen. Dennoch gehe ich nie mit knurrendem Magen zu Bett.
Die Menschen nennen mich Roy, wenn sie überhaupt mit mir reden. Wahrscheinlich wegen eines halb abgerissenen Aufnähers an meiner Lederjacke. Und sie behandeln mich mit Respekt. Ich bezweifle, daß dies mein richtiger Name ist, aber ich weiß es auch nicht besser. Seit dem, was geschehen ist, ist zu viel Zeit vergangen, in der mich niemand bei meinem Namen gerufen hat.
Ich trete nach Katzen und nach Tauben, wenn sie mir vor die Füße kommen, aber das passiert ohnehin nur noch selten. Ich bin kein Trunkenbold, kein Schläger, kein Dieb und trotzdem irgendwie der Paria dieser Stadt zwischen den Autos. Freunde habe ich nicht, ich bin nicht einmal mein eigener Freund. Ich bin permanent damit beschäftigt mich abzugrenzen, weil ich die Menschen verabscheue.
Ich glaube auch an keinen Gott, das tun mittlerweile die Wenigsten. Ich bin getauft und konfirmiert, aber irgendwann habe ich meinen Glauben verloren, ob all der Ungerechtigkeit, die ich auf dieser Welt erlebt habe.
Nur an eines erinnere ich mich noch gut: Als wir im Konfirmandenunterricht über die Offenbarung des Johannes redeten. Ich hatte sie gelesen, einfach so. Und aufgrund der vielen und gewaltigen Bilder war ich überwältigt, von dem was da kommen sollte und schockiert, von der Vorstellung, daß es in meiner Welt geschähe. Mir war unbegreiflich, daß das, was Antichrist heißen würde, ein Mensch sein sollte, vielmehr erwartete ich ein dämonisches Tier. Ein Ding, das in der Lage sein mußte, Menschen zu töten ohne zu zögern. Mich gruselte die Vorstellung, daß der, welcher der Antichrist sein würde, vielleicht schon auf dieser Welt lebte, unerkannt, vielleicht in diesem Moment, in dem wir über ihn sprachen, ein unschuldiges Kleinkind. Natürlich interessierte mich, ob es Vorzeichen geben würde, noch bevor das erste Siegel aufgebrochen würde. Wir alberten rum, um uns von der bedrohlichen Stimmung ein wenig zu abzulenken. Alle stellten die verschiedensten Mutmaßungen an und in diesem Zusammenhang sagte unser Pfarrer, nur so nebenbei und vielleicht ohne es allzu ernst zu meinen und durch seinen Bart lächelnd diesen einen Satz: „Dann müßte es aber schon im August schneien.“
Und als ich einige Jahre älter war und im Großen und Ganzen mit allem Religösen gebrochen hatte, da fing es bereits im August mit dem Schneien an.
Ich kann nicht beschreiben, was dann geschehen ist, weil es mich, ehrlich gesagt, nicht interessierte. Aber irgendwie ging alles den Bach runter. Ein Großteil der Menschheit starb, ausgerechnet ich überlebte.
Jetzt bin ich schon über ein Jahr in dieser Stadt, die alle die Eisenstadt nennen, und ich finde das Leben mit all diesen Menschen unerträglich. Aber wenn ich die Stadt verlassen würde, würde ich mit Sicherheit sterben. Ich bin kein Held, wie die Wanderer, die immer wieder hierher kommen, und nach Sterben ist mir nicht zu Mute. Also bleibe ich und schäme mich manchmal vor mir selbst, so wie in diesem Moment, in dem mir klar ist, daß mein Tod eigentlich eine vernünftige Lösung wäre.
Aber ich werde nicht weichen, für Niemanden, ich bleibe und ich bleibe stur. Und wenn ich irgendwann abtrete, dann werde ich diesen gütigen Menschen nichts als meinen bitteren, toten Körper hinterlassen.