Bei Vollmond um Mitternacht
Als sich die Nebel um Frank Kupetzkis Sinne lichteten, wusste er nicht, wo er war. Auf dem Weg nach Hause hatte er auf einmal das Verlangen gehabt, eine neue Gegend kennen zu lernen, und war irgendwo von der Autobahn abgefahren. Jetzt stand er mit seinem Wagen am Rand einer schmalen Teerstraße, die wer-weiß-wohin führte, und fragte sich, warum er ausgerechnet hier angehalten hatte. Mit einem Kopfschütteln versuchte er, den letzten Rest Benommenheit zu vertreiben. Dann drehte er den Zündschlüssel herum, doch es tat sich nichts. Frank fluchte.
Er schaute hinaus. Das Licht des Vollmonds ließ ihn die Landschaft ringsum einigermaßen erkennen. Etwa fünfhundert Meter entfernt stand ein kleines Haus an der Straße. Frank entschloss sich, hinüber zu gehen. Es brannte zwar kein Licht dort, aber vielleicht konnte er jemanden wecken.
Als er vor dem Haus stand, zog Bodennebel auf. In der Nähe schrie ein Uhu, und aus der Ferne hörte er eine Kirchturmuhr Mitternacht schlagen. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. Außerdem war es ihm unangenehm, so spät noch jemanden zu stören oder gar aus dem Bett zu läuten. Er atmete tief durch und drückte auf den Klingelknopf. Im Haus ertönte ein dumpfer Gong. Frank fuhr zusammen und bekam eine Gänsehaut.
Drinnen ging ein schwaches Licht an. Er hörte, wie jemand die Tür aufschloss und wollte sich schon wortreich entschuldigen, doch als die Tür sich öffnete, stockte ihm der Atem.
Wow! dachte er, Was für eine Frau! Ich träume wohl.
Sie war etwa 170 cm groß und damit nicht viel kleiner als Frank. Über ihre schlanke Figur spannte sich ein hautenges, schwarzes Kleid, das ihre Weiblichkeit betonte. Schulterlanges, ebenfalls schwarzes Haar umspielte ein helles, fast blasses Gesicht. Ihr Anblick brachte Franks Blut in Wallungen. So hatte er sich immer seine Traumfrau vorgestellt. Das unheimliche Gefühl war vergessen, die Gänsehaut verschwunden.
Zögernd sprach er sie an: „Entschuldigen Sie die Störung zu so später Stunde, aber mein Wagen springt nicht an. Dürfte ich mal bei Ihnen telefonieren?“
„Natürlich!“ Sie trat zur Seite und deutete einladend mit dem Arm ins Haus. Frank hatte Mühe, den Blick von ihr zu lösen. Er war so fasziniert, dass er die Motorpanne schon fast vergessen hatte.
„Das Telefon steht dort drüben“, sagte sie und zeigte den dämmrigen Flur hinunter.
Ihre Worte rissen ihn in die Wirklichkeit zurück. Verstört blickte er sich um. „Da-, Danke!“ stotterte er und ging in Richtung des Apparates. Währenddessen schaute er sich weiter um. Viel war nicht zu sehen, da alle Zimmertüren geschlossen waren. Dafür entdeckte er zwei Gemälde mit Szenen, die aus einem billigen Horrorstreifen zu stammen schienen. Das unheimliche Gefühl kam wieder. Irgendetwas schien hier nicht zu stimmen. Er fröstelte.
Ohne ein Geräusch zu verursachen, löste sich die Frau von der Tür, die in diesem Moment wie von Geisterhand geführt ebenso lautlos in Schloss fiel. Mit fließenden Bewegungen ging sie hinter Frank her. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, durch die für einen kurzen Moment ihre Eckzähne schimmerten.
Inzwischen hatte Frank das Telefon erreicht. Es stand auf einer schwarzen Kommode. Die Schnitzereien daran schienen dem gleichen Horrorfilm entsprungen zu sein wie die Bilder an der Wand. Bevor er den Hörer abnahm, warf er einen Blick in den Spiegel über dem Telefon und zuckte zurück. Wo war die Frau? Er konnte sich im Spiegel sehen, sie nicht. Er hatte nichts gehört; sie musste noch im Flur sein!
Frank drehte sich um und blieb wie gelähmt stehen. Sie stand tatsächlich hinter ihm. Ihr hübsches Gesicht hatte sich zu einer dämonischen Fratze verzerrt. Ihre Eckzähne waren gewachsen. Mit weit aufgerissenem Mund fauchte sie ihn an.
Ein Vampir!, schoss es ihm durch den Kopf. Scheiße! So was gibt's doch nur in Horrorfilmen. Schlagartig wurde ihm klar, warum er hier gelandet war. Anscheinend hatte sie ihre magischen Kräfte spielen lassen, um sich ein Opfer anzulocken. Und ausgerechnet er hatte sich darin verfangen.
Bloß raus hier! Doch der einzige Ausweg war durch die Vampirin versperrt. Er stieß sich von der Kommode ab und warf sich nach vorn, um so überraschend an ihr vorbeizukommen. Doch sie packte zu, und ihre Hände krallten sich in seinem Hemd fest. Mit einem Ruck riss der Stoff. Frank fiel hin und rutschte ein Stück von ihr weg.
„Komm her, du Bastard!“, fauchte sie. „Du kannst hier nicht raus. Es ist zwecklos.“ Langsam kam sie auf ihn zu.
Franks Puls raste. Er versuchte hochzukommen, doch seine Schuhe rutschte auf den glatten Fußbodenfliesen weg. Er drehte sich auf die Seite, um besser aufstehen zu können. In diesem Moment setzte die Vampirin zum Sprung an, wich dann aber mit einem Aufschrei zurück. Entsetzt starrte sie auf seine Brust.
Er sah an sich hinunter. Dort hing das Kreuz, das er von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte. „Es könnte dir einmal das Leben retten“, hatte er damals gesagt. Frank hatte nur den Kopf geschüttelt und seinen Großvater für einen abergläubischen Spinner gehalten. Glücklicherweise hatte er es dennoch genommen. Jetzt schien es tatsächlich seine Rettung zu sein.
Er riss sich die Kette vom Hals und hielt das Kreuz hoch. Die Frau fauchte wieder. Schützend hielt sie die Hände vor ihr Gesicht und wich zurück.
„Stirb!“, rief Frank und warf das Kreuz nach ihr. Es traf sie an der Brust und brannte sich sofort in die Haut der Vampirin. Sie schrie und versuchte verzweifelt, das Kreuz mit den Händen zu fassen, zuckte aber immer wieder zurück. Nach kurzer Zeit erlahmten ihre Bewegungen. Dann sackte sie zusammen. Am Ende blieben nur noch Staub und das Kreuz auf dem Boden übrig. Frank floh hinaus...
... und wachte auf. Mein Gott, was für ein scheußlicher Traum! Wie gut, dass der Abend anders verlaufen ist.
Schwärmerisch betrachtete er die Frau neben sich. Die Panne in der Fremde hatte ihm eine wunderbare Liebesnacht beschert. Anstatt ihm das Telefon zu zeigen, hatte die Frau ihn nach allen Regeln der Kunst verführt. Lächelnd drehte er sich wieder um und schlief ein. Das dämonische Grinsen in ihrem Gesicht hatte er in der Dunkelheit nicht gesehen.
Das Letzte, was er in diesem Leben spürte, waren ihre Vampirzähne, die sich in seine Halsschlagader bohrten. Das rettende Kreuz lag zu Hause. Die letzte Warnung seines Unterbewusstseins, der Traum, war wirkungslos verhallt.