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Bei Oma fallen keine Bomben
In den Großstädten wurde das Leben immer gefährlicher. Anfang des Jahres 1943 mussten alle Kinder die Stadt Nürnberg verlassen, die Volksschule wurde geschlossen. Lange Züge transportierten die Jungen und Mädchen in ruhige Gebiete Deutschlands, um dort den Krieg gefahrlos zu überstehen.
Meine Eltern beschlossen, dass ich in Landau, bei meiner Großmutter, der Mutter meiner Mutter, wohnen und in die Schule gehen sollten.
Ein Vertreter der Weinhandlung meiner Onkel, der zufällig in Nürnberg war, begleitete mich auf der Fahrt mit dem Zug nach Landau. Mutter gab mir ein Köfferchen mit einigen Kleidungsstücken mit, in das sie auch eine Tüte mit Gebäck legte.
„Für die lange Bahnfahrt“, sagte sie. „Vergiss nicht, Herrn Weiß auch etwas anzubieten.“
Schließlich saß ich im Zug und schaute zum Fenster hinaus. Häuser, Bäume, Wälder und Felder flogen vorüber. Als mir langweilig wurde, erinnerte ich mich an die Tüte mit den Plätzchen.
„Würden Sie mir bitte meinen Koffer herunter holen?“, bat ich meinen Begleiter, der sich in eine Lektüre vertieft hatte.
„Möchten Sie auch ein Plätzchen?“ Ich hielt ihm die Tüte hin.
Er wollte nicht. Also nahm ich mir selbst einen Keks, legte die Tüte in den Koffer zurück und bat den netten Herrn, ihn wieder ins Gepäcknetz zu befördern.
Während der nächsten halben Stunde beobachtete ich die fliegenden Wolken am Himmel und immer wieder Wälder und Dörfer. Ich verspürte Lust auf einen weiteren Keks.
„Würden Sie mir den Koffer noch einmal runter holen, bitte?“
Schon lag das Gepäckstück auf meinem Sitz. Ich nahm die Tüte heraus, fragte, ob Herr Weiß ein Plätzchen wolle, er verneinte, ich nahm mir eines und der Koffer landete wieder über meinem Kopf, an seinem alten Platz. Der Gedanke an meine Gepäcktüte unterbrach die langweilige Fahrt, denn jede halbe Stunde wiederholte ich meine Bitte, mir den Koffer herunter zu holen. Nach dem fünften Mal hatte mein Begleiter eine Idee.
Schmunzelnd meinte er, ob ich die Tüte nicht lieber neben mich auf das Polster legen wolle. „Ja, klar!“, dass ich daran nicht früher gedacht hatte. So passierte es, dass die Tüte leer war, noch bevor wir in Landau angekommen waren.
Oma holte mich am Bahnhof ab. Sie trug ein schwarzes Kleid und um den Hals ein ebensolches Samtband, das mit Perlen bestickt war. Oma war sehr schlank, beinahe ein wenig dünn. Ihre schneeweißen Haare schauten schön frisiert unter einem eleganten Hut hervor. Großmutter begrüßte mich herzlich und dankte Herrn Weiß für die Begleitung. Ob er ein Taxi besorgen solle, fragte der freundliche Herr, doch Oma verneinte. „Wir haben ja nicht weit.“ „Zu Hause nehmen wir immer ein Taxi!“, verkündete ich forsch. Oma überhörte meinen Einwand und verabschiedete sich förmlich. Ich machte einen Knicks und folgte Großmutter, die sich mit dem Koffer in der Hand bereits auf den Weg gemacht hatte.
Gegenüber vom Stadtpark erreichten wir Omas Anwesen, ein schmuckes Zweifamilienhaus mit einem großen Hinterhof, in dem sich die Weinkellerei meiner beiden Onkel befand.
Oma hatte einen Kuchen gebacken und den Tisch gedeckt. Munter plaudernd saßen wir beisammen, ein großes Bild von meinem verstorbenen Großvater schaute von der Wand auf uns herab. Opa war schon lange tot. Er war nur fünfzig Jahre alt geworden.
Ein Sonnenstrahl stahl sich durch einen Spalt des Vorhangs und malte Kringel auf den Parkettboden. Ich lag in einem großen Bett und betrachtete die beiden Engelsköpfe, die mich von der gegenüberliegenden Wand anschauten. Die Tür war ins Schloss gefallen. Oma ist auf dem Weg zur Kirche, überlegte ich.
Gestern erst war ich in Landau, bei Oma, angekommen. Eine lange Bahnfahrt lag zwischen meinem Elternhaus und der kleinen Stadt, in der ich jetzt zur Schule gehen sollte. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen.
„Bei Oma fallen keine Bomben“, hatte Mutti gesagt. „Bei Oma ist es lustig, da wird es dir gefallen.“
Lustig? Ich überlegte angestrengt. Was hatte Mutti wohl mit lustig gemeint?
„Deine Röcke sind zu kurz, Kind“, hatte Oma bemerkt, als sie den Koffer ausgepackt hatte. „Deine Röcke sind viel zu kurz. Lässt dich deine Mutter so herumlaufen?“
„Aber Oma, wir können doch nichts Neues kaufen. Es gibt keine Stoffe“, hatte ich erwidert. Doch die Großmutter hatte nur den Kopf geschüttelt. „In die Kirche kann ich dich so nicht mitnehmen.“
„In die Kirche, Oma?“
„Das fragst du? Kind, willst du denn nicht in den Himmel kommen?“
„In den Himmel, Oma? Du meinst, wenn wir sterben müssen?“
„Ganz richtig. Man muss vorbereitet sein.“
„Aber Oma, Mutti hat gesagt, in Landau fallen keine Bomben.“
„Sterben kann man immer“, hatte Oma geantwortet und war in die Küche gelaufen, um das Abendessen vorzubereiten.
Mit beiden Beinen gleichzeitig sprang ich aus dem Bett. Ich lief zum Fenster, zog den Vorhang zurück, sah auf die Straße und beobachtete den Park, gleich gegenüber. Kein Mensch weit und breit. Still war es da draußen und still in der Wohnung. Papa wird jetzt Hexe spazieren führen, fiel mir ein. Als ich an unseren Dackel dachte, spürte ich ein Kratzen im Hals. Ob man mich zu Hause vermissen würde?
Auf nackten Füßen machte ich mich auf den Weg, Großmutters Wohnung zu erkunden. In Omas Schlafzimmer war das Fenster weit geöffnet, das Bett und die Kopfkissen zum Lüften über das Fensterbrett ausgelegt. Die frühe Morgensonne spiegelte sich in den Fotos, die in silbernen Bilderrahmen auf einem Schränkchen standen. Bilder von meinem längst verstorbenen Großvater neben Fotos von Omas vielen Enkelkindern. Meine Cousinen, beide mit riesig großen Haarschleifen, entdeckte ich neben dem Hochzeitsfoto meiner Oma. Wie ernst sie aussieht, dachte ich. Lange betrachtete ich das silberne Kreuz auf Omas Nachtschränkchen. „Das legt man mir in den Sarg, wenn ich einmal sterbe“, hatte mir Oma gestern erklärt. Der Gedanke an den Tod machte mir Angst. In einem Sarg zu liegen wollte ich mir nicht vorstellen. Schnell lief ich weiter durch das große Wohnzimmer zum Esszimmer am Ende des langen Korridors. Vor der Vitrine machte ich Halt. Oma hatte genauso viele und kostbare Nippes wie Mutti. Mutti! Ich spürte ein komisches Gefühl in mir aufsteigen, ein Gefühl, das fremd war und ein Loch in meinen Bauch zu bohren schien. Meine Augen wurden feucht, der Mohr in der Vitrine verschwand hinter einem Schleier. Doofer Mohr, ich zog die Nase hoch und legte meine Hand auf das Glas der Vitrinentür. In der Diele gongte die Standuhr. Meine Hand zuckte zurück.
Ich lief in den Flur und beobachtete den metallenen Perpendikel, der sich gleichmäßig hin und her bewegte. Hin, her, hin, her. So vergeht die Zeit, hatte mir Mutti erklärt. Ich stieß ihn ein wenig an, da kam er aus dem Takt und bewegte sich schneller. Je fester ich ihn anschubste, umso weiter flog er rechts und links aus dem Gehäuse heraus. Das Spiel faszinierte mich, doch das bohrende Gefühl in meinem Bauch wurde heftiger, auch fing ich zu frieren an. Kalt, mir war plötzlich eiskalt. Ich werde krank werden, ich fühlte es ganz deutlich. Wenn Oma von der Kirche zurück war, musste sie mich ganz schnell wieder nach Hause schicken.
Mein Köfferchen lag oben auf dem Schrank, ich kletterte auf einen Stuhl und angelte es herunter. Die wenigen Kleidungsstücke waren schnell eingepackt. Geschwind zog ich mich an, schnürte meine Schuhe zu und als Oma die Tür aufschloss, stand ich, mit dem Koffer in der Diele, fertig zum Abmarsch bereit.
Oma betrachtete mich schweigend, dann schaute sie auf die Zeiger der Uhr. Sie bewegten sich nicht mehr, genauso wenig wie der Perpendikel.
„Die Uhr ist kaputt!“, sagte sie, nahm meinen Koffer und schickte mich ins Badezimmer. „Kämm dir die Haare, Kind, gleich gibt es Frühstück!“