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Bei ihr, nicht am Meer
Nackt steht das Mädchen vor den Leguanen, in der Hand die Peitsche. Die Echsen kauern im Sand, beäugen ihre Herrin, den schlanken Körper, die helle Haut, und ihre Zungen spitzen zwischen den Lippen vor. Und das Mädchen wippt mit der Peitsche und schnipst mit den Fingern und die Leguane gehen auf die Hinterbeine, drehen sich im Kreis. Das Mädchen lächelt mit weinrotem Mund und eine Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht – eine feine Linie auf dem Weiß der Haut – während ihre Tiere tanzen und von weit her kommt Rauschen wie von Wellen, oder ist es Applaus …
Der Spion starrte ihn an – ein Glotzauge aus Glas. Adrian blinzelte, sein Blick wanderte seitlich über die Tür. Durch ein Fenster wehte Straßenlärm ins Treppenhaus. Ein LKW donnerte vorbei, dann eine Straßenbahn. Die Geräusche trugen Kälte mit.
Vielleicht sollte er sich umdrehen und gehen, das Treppenhaus hinab, auf die Straße, und weiter, immer weiter, bis ans Meer. Und ein Bild stieg auf: Er stand bis zur Hüfte im schwarzen Wasser und Eisschollen trieben gegen seinen Bauchnabel. Er seufzte und öffnete die Tür zu seiner Wohnung.
„Hallo, da bist du ja.“ Sabine stand in der Küchentür. „Du bist zu spät.“
„Es sind doch nur fünf Minuten.“
„Aber das Essen wird kalt.“ Sie klang traurig.
„Schon gut. Ich versuch beim nächsten Mal pünktlich zu sein.“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie kam auf ihn zu, gab ihm einen Kuss. „Hallo Schatz. Wie war die Arbeit?“
„Gut, wie immer.“ Und dabei sah er sein Büro - ein Schreibtisch mit Computer, keine Fenster, leise summende Stille, gelegentliche Schritte auf dem Gang, und über allem flackerte das Totenlicht der Neonröhren.
„Bei mir war’s auch toll.“ Er zog seinen Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe, während sie weitersprach und ihre Kamera von der Kommode nahm. „Ich war am See …“ Und hast Vögeln nachgestarrt. „… und habe einen Stelzenläufer gesehen. Schau mal hier.“
Sie hielt ihm die Kamera hin. Auf dem Bildschirm watete ein schwarz-weißer Vogel zwischen Schilf.
„Die sind echt selten zu sehen.“
„Toll.“
„Nachher zeig ich dir noch mehr. Jetzt lass uns erst mal essen.“
Auf dem Küchentisch stand eine Tortenform mit Quiche – ihr Lieblingsessen. Sabine gab ihm auf, mehr als er wollte, und während sie aßen, sah Adrian aus dem Fenster. Zwei Schemen saßen da in einer dunklen Küche. Der Tisch stand zwischen ihnen – ein Meer aus Holz, und darauf schwammen Teller und Gläser. Kein Geräusch drang herüber.
„Möchtest du nicht mehr?“ Ihre Mundwinkel zuckten.
„Nein, nein. Ich hab nur nachgedacht.“ Und er aß weiter.
„Worüber denn?“
Er saß allein im Wohnzimmer seiner neuen Wohnung, zwischen unbekannten Möbeln und altbekannter Stille, und die Sonne zappte am Fenster vorbei. Ein Bart wuchs ihm und wurde grau und der Fernseher blieb ein blinder Spiegel.
„Einfach so, nichts Bestimmtes.“
„Du willst es mir nicht erzählen.“ Ihre Augen glänzten wie nasse Murmeln.
„Doch, doch. Aber es war wirklich nichts Konkretes. Ich hab nur aus dem Fenster gesehen und mich treiben lassen.“
Stille schwappte über sie hinweg, und Adrian dachte ans Meer, das Donnern der Wellen, die sich nachts an den Klippen brachen, während der Wind ihre Gischt fortriss und weit hinten ein Leuchtturm ins Nichts tastete.
„Komm, ich zeig dir die Bilder.“
Im Wohnzimmer wartete eine Schar Vögel, gefangen auf Hochglanzpapier. Sabine setzte sich aufs Sofa, zog Adrian neben sich. Die Kamera stellte sie auf ihre Knie.
„Schau mal eine Blässgans mit Jungen.“ Es folgten Vögel in Braun, Schwarz, Weiß, Rot und ein Schwanenpaar, das an einem Steg vorüberschwamm. Vor dem Fenster fiel Schnee, kleine Flocken in der Nacht. Manche blieben an der Scheibe kleben, bevor der Wind sie weitertrug.
„Wie schön.“, sagte Sabine
„Was denn?“ Sie hatte ihre Kamera beiseitegelegt, streichelte sein Knie.
„Es ist genau wie früher. Wir sitzen beisammen und sehen uns die Bilder an.“ Und sind so glücklich.
„Ja, genau wie früher.“
„Nichts hat sich verändert.“
Wie damals, in ihrem ersten Sommer, lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und ihre Wärme drang bis auf seine Haut.
„Ich geh dann noch mal.“
„Du willst schon wieder zu Tom.“
„Ja.“ Und er sah weg.
„Komm aber nicht zu spät wieder.“
„Nein. Ich schau nur kurz vorbei.“
Auf der Straße endete die Stille. Klirrend fuhr eine Straßenbahn vorbei – eine Welt auf Rädern, mit gelben Lichtern und blauen Sitzen, und die Menschen schwiegen dort und schaukelten im Rhythmus der Fahrt. Ein Strom von Autos gab das Geleit und Adrian folgte ihnen, während Schneewirbel vorüberhasteten, knapp über dem Boden, als liefen sie ein Rennen bis der Wind sich legte.
„Hereinspaziert, hereinspaziert. Kommen Sie näher. Wagen Sie einen Blick. Es ist nichts dabei. Ein wenig Entspannung, ein wenig Spaß. Der Tag war hart, die Nacht ist kalt. Wer bleibt da gerne einsam?“
Er wirkte wie ein Zirkusdirektor in Anzug und Zylinder, aber durch die Tür, vor der er stand, fiel schwül-rotes Licht. Sein Gesicht verschwand unter Schminke – schwarz umrandete Augen, grellroter Mund, Rougeflecken auf den Wangen – und doch sah Adrian die schlaffe Haut darunter, die hängenden Mundwinkel, die schmalen Lippen – das Gesicht eines Greises.
„Ah, mein Freund. Kommen Sie, kommen Sie. Nur nicht so schüchtern.“
Ein anzügliches Lächeln umspielte den bemalten Mund.
„Wir haben allerbeste Ware.“ Und er kam zu Adrian, legte ihm einen Arm auf die Schulter. „Wirklich vorzüglich. Ich kenne mich aus.“
Der Alte roch nach Puder und abgestandener Milch. Er sprach Adrian jetzt direkt ins Ohr, vertraulich und seltsam verwaschen – er lispelte.
„Ich will Sie einführen bei meinen Hübschen. Will Sie recht herzlich vorstellen. Nur keine Scheu.“
„Nein. Danke.“
Sofort ließ der Alte ab, verbeugte sich spöttisch, zog den Hut und kehrte an seinen Posten vor der Tür zurück. Adrian ging weiter, den Geruch des Geschminkten in der Nase, seine Stimme im Ohr.
„Wieder wegen deiner Frau hier?“
Tom spülte Gläser. Sein kantiges Gesicht wirkte konzentriert. Wassertropfen liefen seine Unterarme hinab, zeichneten die Konturen seiner Muskeln nach.
„Ja, schon.“, sagte Adrian und sah sich wie beiläufig um. Die Bar glich einer Wüste – gelbe Wände, heller Boden, die Lampen glühten orange. In den Ecken standen Zimmerpalmen und aus versteckten Boxen kam orientalische Musik. „Ist echt schön geworden.“
„Aber kaum was los.“ Seine Armbewegung umfasste die wenigen Gäste – eine Studentengruppe, zwei Pärchen und eine Frau, die allein nahe dem Fenster saß. Dann schwiegen sie.
„Meinst du nicht es wäre Zeit, dich scheiden zu lassen?“ Tom war nun fertig und hatte sich Adrian gegenübergesetzt. Im Orangelicht schien die Haut seiner aufgestützten Arme zu glühen. „Nicht, dass mich das was angeht. Ich verdiene schließlich nicht schlecht daran. Aber du bist schon oft wegen ihr hier.“
„Ich will ihr nicht wehtun.“
„Das ist alles? Also keine Restliebe oder so?“
Adrians Blick glitt die Flaschen entlang, die sich hinter Tom auf zwei Regalbrettern reihte – Alkohol von Wein bis Wodka.
„Weißt du, manchmal möchte ich einfach losfahren. Ich komme von der Arbeit und denke mir, ich sollte ins Auto steigen und ans Meer fahren. Ich stell mir dann vor, wie ich auf der Autobahn bin und es langsam dämmert. Und wenn es richtig dunkel ist, bin ich da. Ich steh auf den Klippen. Unter mir donnert das Meer. Die Gischt spritzt bis zu mir hoch und ich schmecke das Salz.“
„Und wieso fährst du nicht?“
„Sabine mag das Meer nicht.“
„Dann fahr doch alleine.“
Wieder war er im fremden Wohnzimmer, das nun ihm gehörte, und Staub senkte sich auf Boden und Wände, während er in die Stille lauschte, ob nicht ein Geräusch zu hören sei – ein Schlüssel im Schloss, Schritte im Flur.
„Kann ich nicht.“
Tom richtete sich auf, zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst. Ich denke trotzdem, du solltest dir eine Neue suchen. Die am Fenster sieht doch gut aus.“ Einer der Studenten winkte und Tom ging zu ihnen.
Sie saß immer noch allein und sah aus dem Fenster, als wartete sie. Gelegentlich trank sie aus einem Glas mit Wasser. Adrian konnte dann ihr Gesicht sehen – den weinroten Mund und eine Haarsträhne, die ihr in die Stirn fiel – eine feine Linie auf dem Weiß der Haut. Dabei fühlte er sich in seinen Traum versetzt und sie erschien ihm schön wie eine Nymphe. Worauf wartete sie nur?
Er stand auf, ging zu ihr.
„Hallo, kann ich mich setzen?“
Ein leises Lächeln umspielte ihren Mund, während sie ihn musterte - mit Augen, schwarz wie reife Brombeeren. Er hätte weiter gehen sollen, weiter, hinaus in die Nacht, nach Hause, ans Meer, nur nicht stehen bleiben und fragen.
„Natürlich.“
Die Anspannung zerfiel. Adrian setzte sich.
„Warten Sie auf jemand?
„Können Sie schweigen?“
„Schweigen?“
Sie lächelte wieder.
„Ja. Einfach schweigen. Kein Wort mehr sagen.“
„Okay. Dann bin ich still.“
Ihr Blick wanderte wieder aus dem Fenster und Adrian folgte ihm, aber da war nichts, außer ihrem Spiegelbild. Vielleicht dachte sie auch ans Meer, mit seinen brechenden Wellen und dem Schreien der Möwen. Oder sie wartete auf jemanden, einen Mann, der kommen würde, um Adrians Platz einzunehmen. Oder …
Um ihren Hals lag eine Silberkette mit einer Perle als Anhänger. Adrians Blick wanderte tiefer. Wieder erschein ihr Lächeln – sie hatte ihn ertappt.
„Hören Sie, ich würde ja gerne mit ihnen schweigen. Schweigen und einfach aus dem Fenster sehen. Aber ich muss ihnen etwas sagen. Ich habe sie schon mal gesehen. In einem Traum … Wissen Sie, Sie sind wunderschön. Ich … Ach, wissen Sie, ich habe eine Frau. Wir verstehen uns nichts besonders gut … Vielleicht könnten Sie …“
„Entschuldigen Sie, ich muss jetzt leider gehen.“ Und sie ließ Adrian am Tisch zurück.
Es schneite noch immer - in Flocken groß wie Schmetterlinge - und Adrians Kleidung färbte sich weiß. An einer Brücke blieb er stehen. Unter ihm wälzte sich der Fluss schwarz wie Teer und er sah den Wirbeln und kleinen Wellen nach, wie sie in die Nacht verschwanden. Hinter Adrian fuhren Autos.
Brummend schob sich ein Schleppkahn unter der Brüstung hervor. Schaum perlte um den Bug, und für einen Augenblick sah Adrian durch eines der Bullaugen ins Innere des Schiffs. Eine Frau lag da im warmen Licht und lachte. Mit ihr könnte er glücklich werden. Aber der Kahn fuhr weiter und versank im Dunkeln.
Dann ging er und der Wind frischte auf, peitschte den Schnee die Straße entlang.
Im Treppenhaus roch es nach feuchtem Stein. Schwerfällig stieg er aufwärts und das Bellen der Hunde im zweiten Stock brach sich an den Wänden. Vor der Wohnungstür hielt er inne – schloss auf.
„Du bist zu spät.“