Was ist neu

Begraben

Mitglied
Beitritt
20.10.2024
Beiträge
85
Zuletzt bearbeitet:

Begraben

Nach gut zweihundert Kilometern tauchte seine Heimatstadt das erste Mal auf einem der blauen Schilder am Straßenrand auf.
“Es wird ernst.”
Sie lachte.
“Vielleicht sollten wir uns doch ein Zimmer im Zentrum nehmen”, sagte er.
Sie legte ihre Hand auf sein Knie. “Mach dir nicht so viele Gedanken!”

Sein Vater kam in verwaschener Jeans und Daunenweste ans Gartentörchen geschlappt.
“Habt aber lange gebraucht!”
Sie streckte ihm die Hand hin. “Hallo, ich bin Mina.”
“Ich bin der Jochen.”
Er umarmte seinen Vater und klopfte ihm auf den Rücken. "Wie geht's?"
“Ich hab euch das Arbeitszimmer hergerichtet. Ich hoffe, das passt so.”
“Bestimmt”, sagte sie und lächelte.
“Na, dann kommt mal rein!”
Er brachte die Taschen in den ersten Stock und stellte sie neben das ausgeklappte Schlafsofa. Es war ein grauer Tag, an den Bäumen hingen nur noch vereinzelte Blätter. Er hörte Mina und seinen Vater unten im Wohnzimmer reden. Bevor er ausgezogen war, direkt nach dem Abitur, war das sein Zimmer gewesen. Oft hatte er früher vor dem Fenster gestanden und herausgestarrt. Er atmete tief ein und langsam wieder aus.

Beim Abendessen gab er sich einsilbig.
“Ist was?”, sagte sie, als sie für einen Moment alleine waren.
“Bin nur etwas müde von der Fahrt.”
“Wirklich?”
“Ja.”
Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. “Was sollen wir denn morgen machen?”
“Zeig mir das Viertel! Möchte sehen, wo du aufgewachsen bist.”
“Willst du nicht lieber in die Stadt?”
“Da können wir doch Samstag hin.”
“Ok.”
“Das klingt ja nicht sehr motiviert.”
“Gibt hier nicht viel, was interessant ist.”
"Das sagst du nur, weil du es kennst."
Sein Vater kam mit einem Tablett zurück und verteilte Schälchen mit Vanilleeis und roter Grütze.
“Schmeckt super!”, sagte sie.
"Nicht selbst gemacht, muss ich gestehen."
"Macht doch nichts."
"Meine Frau, die konnte kochen.”
Sein Vater sah ihn an.
“Du hast da was”, sagte er und fasste sich ans Kinn.
“Darf ich fragen, wann sie gestorben ist?”
“Das ist jetzt bald siebenundzwanzig Jahre her.”
“Und du wolltest dich nicht wieder binden?”
Er warf ihr einen ernsten Blick zu und deutete ein Kopfschütteln an.
“Du, das hat sich einfach nicht ergeben.”
Sein Vater schien einem Gedanken nachzuhängen und sie stieß das Thema nicht wieder an. Später lag er mit ihr oben auf dem Sofa. Sie fühlte bei ihm vor, aber er hatte keine Lust.
“Ist wirklich nichts?”
“Nein.”

***​

Am nächsten Morgen regnete es. Sie frühstückten lange und machten sich dann in Ruhe fertig.
“Sollen wir wirklich gehen?”, sagte er.
“Der Himmel wird doch schon heller.”
“Na gut.”
Er zog den einzigen Schirm aus dem Eisenfass im Flur, und sie traten vor die Tür. Er spannte ihn auf und legte den Arm um ihre Hüfte. Sie tat es ihm gleich, und sie schritten los. Am Ende der Straße bogen sie links ab und folgten in Kopfsteinpflaster eingelassen Gleisen.
„Das war früher die Bahn in die Stadt. War noch eine von den ganz alten mit Eisenschaltknüppel und so.”
„Bei uns gab es auch solche.“
„In Sarajevo?“
„Ja. Bei uns war alles alt.“
„Als Kind bin ich manchmal alleine zum Judotraining gefahren. Das waren bestimmt zehn, zwölf Stationen.“
Er zählte im Kopf nach. „Ja, zwölf. Da war ich noch in der Grundschule. Heutzutage ja undenkbar.“
„Die Kinder heute wachsen zu behütet auf.”
“Ja.”
“Wir machen das mal anders, stimmt’s?“
Sie grinste, als sie seine Miene sah. “Du verstehst heute echt gar keinen Spaß.”

„Da war früher ein kleiner Edeka.“
Er zeigte auf einen Flachbau, der sich zwischen zwei Mehrfamilienhäusern wegduckte.
„Der dicke Besitzer stand hinter der Wursttheke und seine dicke Frau saß an der Kasse. Und der Rest des Ladens war leer, wenn du verstehst.“
Sie schlug ihm gegen die Schulter. „Habt ihr nicht!“
„Wie die Raben!“
Sie lachte. „Du bist ja ein Böser!“
“Sag das nicht!“, sagte er ernst.
Sie gingen weiter. Ein großer Mann mit starrer Haltung kam ihnen mit hektischen Schritten entgegen. Er trug einen verwilderten Vollbart und eine Armeejacke. Sein graues Haar war lang und strähnig. Als er sie passierte, musste er die Schulter zurückziehen, um nicht von dem Mann angerempelt zu werden. Er blieb stehen und drehte sich um. „Krass!“
„Was ist?“
Er sah dem Mann nach. „Das war der Besitzer vom Schreibwarenladen, wo wir immer unsere Schulsachen gekauft haben. Russe. Es hieß immer, der hätte zu Hause im Ural jemanden mit bloßen Händen erwürgt und wäre dann geflüchtet. Nach Frankreich zur Fremdenlegion. Mit dem Sold hätte er dann den Laden hier aufgemacht. Mit bloßen Händen erwürgt und zuhause im Ural, mit genau diesen Worten wurde das immer erzählt. Wahrscheinlich war das alles Bullshit.“
Sie lachte. “Bestimmt ist er total lieb.“

Sie erreichten eine Hauptstraße. An vielen Hauswänden waren Flecken, an einem mit Graffiti beschmierten Stromkasten lehnte ein zusammengefalteter Wäscheständer, das Pflaster war übersät mit plattgetretenen Kaugummis. Auf der anderen Straßenseite, in einem Bushäuschen, saßen zwei Penner auf der Bank, einer hielt eine bauchige Rotweinflasche in der Hand.
“Schönen Schulweg hatte ich, oder?”
“Wo ist deine Schule?”
“Die Straße runter.”
“Gehen wir hin?”
“Ist nur ein Gebäude.”
“Schade.”
“Wäre auch ein Umweg. Und hier ist es schöner.” Er deutete in Richtung eines kleinen Platzes mit Bänken, der von einigen Gründerzeithäusern eingerahmt wurde. In einem war im Erdgeschoss ein italienisches Café, wo sie einen Espresso tranken. Als sie anschließend wieder auf die Straße traten, hatte der Regen aufgehört. Es wickelte das Bändchen um den Schirm und drückte es fest. Der Weg führte bald über eine schmucklose Hauptstraße mit Zweckbauten.
“Gehen wir schon zurück?”
“Ja”, sagte er, “Oder willst du noch weiter laufen?”
“Ich könnte schon noch ein Stück.”
Sie blieb stehen und sah sich um. “Was ist denn da hinten? Da bei den Bäumen?”
“Da fängt das Bonzenviertel an.”
“Das will ich sehen!”
“Dann sind wir aber bestimmt noch ne Stunde unterwegs.”
“Umso besser, so verbrennen wir dieses Riesenfrühstück.”
Er zögerte. Sie zog ihm spielerisch am Arm. “Los, komm schon!”
Er gab nach und sie gingen auf die Bäume zu. Bald wurden die Geschäftshäuser von großen Stadthäusern mit kunstfertig gearbeiteten Verzierungen abgelöst, von gepflegten Wohnanlagen und von Villen mit weißen Fassaden und schwarz gerahmten Fenstern. Eine Allee führte sie tiefer ins Viertel.
“Dahinten war mein Kindergarten und eine Straße weiter meine Grundschule”, sagte er.
“Warst also selbst ein Bonzenkind”, sagte sie lachend.
“Unser Haus war genau auf der Grenze sozusagen, also war ich hier in der Grundschule. Das war einfach die nächste. Ein Gymnasium gibt’s hier aber nicht, da war ich dann bei den Asis. Aber ehrlich gesagt, die Bonzen sind die schlimmeren. Alle Familien kaputt hier."
Er blieb stehen und zeigte mit der Schirmspitze auf einen Zigarettenautomaten, der am Rand des Bürgersteigs an einem Metallpfeiler befestigt war. “Hier haben wir immer Kippen gekauft. Und dann direkt in den Park paffen. Geht heute auch nicht mehr. Damals brauchte man nur einen Heiermann.”
“Einen was?”
“Einen Heiermann, so hat man man das Fünf-Mark-Stück genannt. So viel hat eine Schachtel am Automaten gekostet. Fünf Mark. Im Laden waren sie günstiger, darum waren in den Schachteln vom Automaten zwei oder drei Kippen mehr drin.”
Er grinste. “Ein Heiermann war das Beste. Richtig schöne Münze auch. So eine schöne gibt’s beim Euro nicht. Aber noch besser war der Fünf-Mark-Schein. Der war selten. Wenn man so einen hatte, wollte man ihn gar nicht ausgeben.”
“In Bosnien konnte man auch mit Deutschmark bezahlen früher. Aber diesen Mann da kenne ich nicht.”
Er legte den Arm um sie. “Heiermann!”
“Heiermann.”
“Keine Ahnung, warum der so hieß. War ein Adler drauf und ne Fünf, kein Gesicht.”
Sie löste sich. “Können wir durch den Park gehen?”
“Der ist nichts Besonderes. Hier kommen gleich noch die ganz fetten Hütten. Willst du die nicht sehen?”
“Nee, lieber in den Park”, sagte sie und ging ein paar Schritte voran auf den Schotterweg. Am Wegrand standen alte Platanen mit scheckiger Rinde und andere alte Laubbäume. Ihr Blattwerk lag in großen, gelbbraunen Haufen zusammengerecht auf der feucht glitzernden Wiese.
“So schön der Herbst!”, sagte sie. “Hast du hier früher gespielt?”
“Ja, immer. Das war wie mein Wohnzimmer.”
“Ich war auch immer im Park.”
“So muss das sein!”
Der Weg machte eine Kurve und führte dann durch eine leichte Senke, wo er linker Hand von dichtem Gebüsch und rechter Hand von einer alten Backsteinmauer gesäumt wurde. Er fuhr beim Gehen mit dem Finger durch eine der rauen Fugen. „Dahinter liegt meine Mutter.“
Sie blieb stehen. „Oh!“
Er ging ein paar Schritte weiter, bevor er sich zu ihr umdrehte. Sie sah ihn voller Mitgefühl an. „Möchtest du mir ihr Grab zeigen?“
„Ein andermal, ja?“, sagte er und wandte sich zum Weitergehen.
„Klar, wie du willst.“
Sie schloss zu ihm auf und nahm seine Hand. “Du warst ja erst sechs! Das muss sehr schwer gewesen sein. Hast du viele Erinnerungen an sie?“
„Ein paar. Aber manchmal weiß ich nicht, ob sie alle echt sind.“
„Verstehe.“
Sie drückte seine Hand fester. “Wenn du mal drüber reden willst …”
“Ok.”

Mit der Mauerecke endete auch der Park. Sie betraten eine Straße mit imposanten Häusern auf ausgedehnten Grundstücken.
“Und hier hat mein bester Freund gewohnt”, sagte er nach ein paar Metern. “Eduard Meier. Deutschester Name. Hab erst später mal erfahren, dass das eigentlich irgendwelche ungarischen Adligen waren, denen irgendwann das Geld ausgegangen ist. Das Haus sah damals nicht so aus. War so braungrau gestrichen. Die Einfahrt war auch anders. Die hatten nur eine Etage eingerichtet, der ganze Rest war mit altem Krempel und Kisten vollgestopft. Irgendwelche Truhen und Degen und Geweihe. Lauter so Zeug. Für uns war das der beste Spielplatz überhaupt.”
“Das glaub ich. Ich mag solche Orte mit eigenem Charakter.”
“Und jetzt wohnen da irgendwelche Schnösel.”
Er sah sich das Klingelschild an. “Dr. Wolfertz!”
“Was ist aus deinem Freund geworden? Habt ihr noch Kontakt?”
“Nein.”

Sie schlenderten weiter. Sie lief auf die andere Straßenseite, um durch eine Hecke hindurchzuspähen, hinter der ein besonders imposantes Anwesen lag. Er betrachtete derweil ein Mehrfamilienhaus mit Cortenstahlverkleidungen an den Balkonen. Sie kam zu ihm zurück und legte den Kopf auf seine Schulter.
„Hier stand das unheimliche Haus“, sagte er.
Sie lachte. “Was ist das denn?“
„Das unheimliche Haus. So haben wir das genannt. Das war so eine alte, verlassene Villa, die total baufällig war. Der Garten war auch total zugewuchert. Sah aus wie in einem Horrorfilm. War eine Mutprobe, da reinzugehen.“
“Warst du drin?”
„Ja, mit Kumpels.“
„Und hattest du Angst?“
“Beim ersten Mal schon, dann nicht mehr. Haben immer da geraucht und so. Aber einmal ist etwas Schlimmes passiert.“
Sie sah zu ihm hoch.
„Einer ist durch ein Loch im Boden vom ersten Stock ins Erdgeschoss gefallen und auf dem Kopf gelandet. Musste mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden und lag ein paar Wochen im Koma. Als er wieder aufgewacht ist, hatte er einen Dachschaden.”
"Das ist ja schrecklich!“
“Ja. Er hat dann manchmal ohne Grund gelächelt oder ist wegen Kleinigkeiten ausgerastet. Ist auch nicht mehr richtig mitgekommen in der Schule. Haben ihn darum nur noch Matschbirne genannt.“
“Wie gemein!”
„Ja. Tut mir auch voll leid heute.“
„Was ist aus ihm geworden?“
„Keine Ahnung. Aber das Haus wurde dann kurze Zeit später abgerissen und dieser Klotz hier gebaut. Seine Eltern habe ich nach Jahren noch einmal gesehen. Wirkten wie gebrochene Leute.”
“Klar, wenn dem eigenen Kind so was passiert ist.”
“Matschbirne”, sagte er vor sich hin. “Komm, lass weiter!”

Er zeigte ihr noch ein paar Orte, die in seiner Jugend eine Rolle gespielt hatten.
“Danke, das war schön”, sagte sie, als sie wieder zu Hause waren und im Flur ihre Sachen ablegten.
“Bin froh, dass das abgehakt ist”, sagte er.
Sie aßen mit seinem Vater eine Kleinigkeit zu Mittag, dann zogen sie sich nach oben zurück, um sich auszuruhen. Anschließend schliefen sie miteinander.
“Bist jetzt erst angekommen, oder?”, sagte sie, als sie hinterher vor dem Badezimmerspiegel standen und sich für den Abend fertigmachten.
“Kann sein”, sagte er.

***
Am nächsten Tag flanierten sie durch die Innenstadt. Sie besuchten ein Museum und verbrachten zwei Stunden in einem der Traditionscafés der Stadt. Abends aßen sie mit seinem Vater in einem Restaurant. Er trank entgegen seiner Gewohnheit ein paar Gläser Wein und sie blieben sitzen, bis ihnen der Kellner freundlich bedeutete, dass sie die letzten Gäste seien. Zu Hause umarmte sein Vater Mina beim Gutenachtsagen. “War ein sehr schöner Abend!”
“Fand ich auch”, sagte sie.
“Sogar unserm Muffel scheint es Spaß gemacht zu haben.” Sein Vater legte ihm lachend den Arm um den Hals, als wollte er ihn in den Schwitzkasten nehmen.
“Ja, war lustig”, sagte er. “Müssen wir noch mal hin.”
“Sonst ist er eigentlich gar nicht so muffelig”, sagte sie.
“Das ist der Ort”, sagte er.
“Aber es ist doch deine Heimat”, sagte sein Vater.
“Eben drum”, sagte er und das Lächeln im Gesicht seines Vaters wurde schmaler.
“Ich finde es jedenfalls schade, dass wir morgen schon zurück müssen”, sagte sie.
“Ihr seid immer willkommen!"

Bevor er nach oben ging, nahm sein Vater ihn zur Seite. “Da hast du aber eine Nette!”
“Finde ich auch”, sagte er.
“Wirklich, sehr nett!” Sein Vater drückte ihm den Oberarm.
“Ja."
Er betrat die erste Stufe der Treppe. "Also, dann, schlaf gut!"
"Du auch", sagte sein Vater und sah ihn nachdenklich an, bevor er sich abwandte, um in sein Zimmer zu gehen.


***​

Sie waren eine gute Stunde unterwegs. Es war kaum Verkehr. Sie hatte den Sitz ein wenig zurückgestellt und die Augen geschlossen.
“Ich war’s”, sagte er.
Langsam öffnete sie die Augen. “Hmm?”
“Ich habe ihn geschubst.”
Sie blinzelte. “Wen?”
“Den Jungen im Haus.”
Für einen Moment schienen seine Worte widerzuhallen und er spürte ihren Blick, während er geradeaus auf die Fahrbahn starrte.
“Warum?”
“Kein Grund. Hab's einfach gemacht.”
“Das glaube ich nicht!”
“Ist aber so.”
“Wieso hat er nichts gesagt?”
“Er konnte sich an nichts erinnern.”
“Und die anderen Kinder?”
“Die waren da schon wieder unten. Oder auf der Treppe. Ich weiß nicht mehr. Auf jeden Fall waren wir allein in dem Raum.”
Jetzt schaute er sie an. Ihr Blick war neutral. Vielleicht war er forschend. Anklagend wer er nicht.

 

Hallo @H. Kopper!

Das ist sehr gut geschrieben! Tatsächlich ist mir beim Lesen nur ein Wort untergekommen, dass ich streichen würde – und ich streiche sehr gern!
War schon neugierig auf deinen ersten Text – deine Kommentare fand ich allesamt beeindruckend.
Nun zur Geschichte: Ja, wie gesagt gut geschrieben aber mehr auch nicht. Als die gruselige Vila kam, dachte ich, okay, das muss nun also auch noch rein, und sein Eingeständnis am Schluß macht es nicht besser. Für mich würde es hier erst interessant werden! Denn diese beiläufigen Schilderungen, bei welchen irgendetwas Schlimmes angedeutet wird, gibt es zuhauf. Schade!
Ist aber nur mein Empfinden. Schreiben kannst du auf alle Fälle!

Gruß,
Sammis

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Sammis und @Ima-dieLiebe,

vielen Dank für eure Zeit und die Kommentare. Da sie eher spartanisch gehalten sind, kann ich zugegebenermassen nicht wirklich viel aus ihnen herausziehen, was eure Lesarten und etwaige Verbesserungen angeht, aber das kommt ja vielleicht noch von anderen Lesern.

Bis dahin freundliche Grüße,

HK

 

Hi @H. Kopper,

schön, dass du wieder hier bist :)

Bevor ich auf den Inhalt eingehe, zwei Kleinigkeiten

Beim Abendessen unterhielten sein Vater und Mina sich angeregt, während er sich einsilbig gab.

Da holpert es bei mir ein wenig. Ich fände "unterhielten Mina und sein Vater sich" schon deutlich runder, aber auch über das doppelte "sich" stolpere ich. Ich weiß nicht, vielleicht noch mal kaputtmachen und neu zusammensetzen den Satz, ich bin gerade lösungsblind.

Sein Vater kam mit einem Tablett zurück und verteilte Schälchen mit Vanilleeis und roter Grütze.
“Schmeckt super!”, sagte sie.
"Nicht selbst gemacht, muss ich gestehen."
"Macht doch nichts."
(Seine Mutter), die konnte kochen.”
Sein Vater sah ihn an.
“Du hast da was”, sagte er und fasste sich ans Kinn.
“Darf ich fragen, wann sie gestorben ist?”
“Das ist jetzt bald siebenundzwanzig Jahre her”, sagte sein Vater.
“Und du wolltest dich nicht wieder binden?”
Er warf ihr einen ernsten Blick zu und deutete ein Kopfschütteln an.
“Du, das hat sich einfach nicht ergeben.”
Sein Vater schien einem Gedanken nachzuhängen und sie stieß das Thema nicht wieder an. Später lag er mit ihr oben auf dem Sofa.

Ist mir hier ein bisschen viel auf wenig Raum.

Ansonsten habe ich nichts zu mäkeln, das fühlt sich alles sehr rund und ausgearbeitet an, sodass ich mich gut auf den Inhalt konzentrieren kann.

Das ist ein sehr langsamer, ruhiger Text, es passiert eher wenig. Die Stärke liegt in der Schwere, denke ich, die von Anfang an sehr deutlich wird - ich spüre, wie der Protagonist sich quält, wie die Situation ihn aussaugt. All grey, ich sehe keine Farbe, er verhält sich distanziert gegenüber seinem Vater, gegenüber seiner Freundin. Auch, als er ihr von früher erzählt, fühlt sich jedes Wort, das er rausbekommt, wie ein schwerer Brocken an, den er einen steilen Hang hochrollen muss. Das macht keinen Spaß zu lesen, das zieht mich selbst mit runter, aber nicht falsch verstehen, das ist kein Qualitätsurteil, zumindest kein negatives. Die Stimmung hast du gut abgebildet.

Ein kleines Problem hatte ich mit den Erinnerungen, die er schildert. Ich weiß nicht, ob das Sinn macht, aber mir sind die fast zu männlich: Rauchen und trinken. Russische Würger und kaputte Familien. Da hätte ich mir etwas Facettenreichtum gewünscht, einen Kontrast zum Grau, so entsteht bei mir nämlich das Bild eines geknickten, etwas selbstmitleidigen Mannes, eines Kerls, der es hart hatte im Leben. Einer, der mich leider fast ein bisschen anödet, weil er ja auch so verschlossen ist.

Du sparst dir den "Öffnungsakt" für das Ende auf. Das lässt seine Stimmung noch mal in neuem Licht erscheinen, gibt dem ganzen eine neue Facette. Und das hat auch seine Wirkung, harte Sache, ich frage mich nur, ob die Wirkung noch krasser kommen könnte ... Wenn er sich schon vorher versucht zu öffnen, aber scheitert ... Wenn ich einen Hinweis bekomme, okay, hier ging irgendeine Scheiße ab, die ihn belastet ... So erkläre ich mir das nämlich zu einem großen Teil mit dem Tod der Mutter, der Text lockt einen ja auch ein bisschen auf diese Fährte, das wird früh erwähnt und beiseitegeschoben, der Titel selbst könnte ein Hinweis sein, na, und dann springt der Jack in the box aus der Kiste und ich denk, na gut, hast mich gekriegt, aber finde ich auch bisschen blöd, dass du mich vergackeiern wolltest, ich hab dir ja vertraut.

Nur so Gedanken. Die nicht überschatten sollen, dass ich den Text auch in seiner jetzigen Form sehr lesenswert finde. Wie du diese Schwere, diesen Brocken, durch den ganzen Text rollst. Deshalb vielen Dank fürs Teilen!

Bas

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Bas,

ich danke dir sehr für deinen Kommentar! Im Grunde hast du den Text genau so gelesen, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Das ist ein sehr langsamer, ruhiger Text, es passiert eher wenig.

Darum habe ich mich bemüht, sparsam zu erzählen. Sonst, so meine Befürchtung, wäre er dahingeplätschert.

Die Stärke liegt in der Schwere, denke ich, die von Anfang an sehr deutlich wird - ich spüre, wie der Protagonist sich quält, wie die Situation ihn aussaugt.

Freut mich, dass das so rüberkommt.

Auch, als er ihr von früher erzählt, fühlt sich jedes Wort, das er rausbekommt, wie ein schwerer Brocken an, den er einen steilen Hang hochrollen muss. Das macht keinen Spaß zu lesen, das zieht mich selbst mit runter,

Ok, in so einer extremen Form war das eigentlich nicht intendiert ;-) Über die Erinnerungen habe ich nicht viel nachgedacht, muss ich gestehen, die haben sich eher ergeben. Ich denke, ich habe nach Dingen gesucht, die halbwegs erzählenswert sind.

Erst beim Schreiben ist mir dann aufgefallen, dass sich seine gedrückte Stimmung bis zum Wendepunkt halten muss, sonst funktioniert das für mich psychologisch nicht. Aber im Anschluss, also am Abend und an Tag zwei, raumnehmend von der gelockerten Stimmung zu erzählen, erschien mir unökonomisch. Vielleicht war ich da zu sparsam? Es sollte schon rüberkommen, dass er hinterher gelöst(er) ist.

Ein kleines Problem hatte ich mit den Erinnerungen, die er schildert. Ich weiß nicht, ob das Sinn macht, aber mir sind die fast zu männlich: Rauchen und trinken. Russische Würger und kaputte Familien. Da hätte ich mir etwas Facettenreichtum gewünscht, einen Kontrast zum Grau, so entsteht bei mir nämlich das Bild eines geknickten, etwas selbstmitleidigen Mannes, eines Kerls, der es hart hatte im Leben. Einer, der mich leider fast ein bisschen anödet, weil er ja auch so verschlossen ist.

Ich hatte mir das so gedacht, dass er innerlich und halb unbewusst, die ganze Zeit um das kreist, was in seiner Heimatstadt begraben liegt. Er will das umschiffen und dann auch wieder nicht; es zieht ihn dahin, obwohl er sich einbildet, gerade nicht dahin zu wollen. Eigentlich hatte ich seine Tat auch nicht als Unfall, sondern als scheinbar unmotivierte Handlung ersonnen; da lag also noch viel mehr auf seinen Schultern (Anmerkung: So ist es nun auch im Text, hab's geändert).

Wie du die Erinnerungen liest, erstaunt mich ein wenig. So düster und mitleidig finde ich sie gar nicht. Ich lese sie eher in Richtung: Was haben wir damals als Jungs im Viertel so gedacht und getrieben? Was war "cool" und lohnt sich auszupacken? Und natürlich wollte ich schon auch markieren, dass die Mutter und wohl auch der Vater abwesend waren. Das ist eher als nüchterne Tatsache von mir gemeint gewesen, und weniger als Mitleid erregende Situation. Muss ich vielleicht nachbessern.

Du sparst dir den "Öffnungsakt" für das Ende auf. Das lässt seine Stimmung noch mal in neuem Licht erscheinen, gibt dem ganzen eine neue Facette. Und das hat auch seine Wirkung, harte Sache, ich frage mich nur, ob die Wirkung noch krasser kommen könnte ... Wenn er sich schon vorher versucht zu öffnen, aber scheitert ... Wenn ich einen Hinweis bekomme, okay, hier ging irgendeine Scheiße ab, die ihn belastet ... So erkläre ich mir das nämlich zu einem großen Teil mit dem Tod der Mutter, der Text lockt einen ja auch ein bisschen auf diese Fährte, das wird früh erwähnt und beiseitegeschoben, der Titel selbst könnte ein Hinweis sein, na, und dann springt der Jack in the box aus der Kiste und ich denk, na gut, hast mich gekriegt, aber finde ich auch bisschen blöd, dass du mich vergackeiern wolltest, ich hab dir ja vertraut.

Also für mich persönlich war das eine sozusagen als Folge des anderen gedacht. Da wäre es vielleicht stärker gewesen, bei der Ursprungsidee zu bleiben und es nicht zum Unfall zu machen. So rückt dann der Tod der Mutter näher an die Tat heran. Ich hatte es auch so intendiert, dass er denkt: Wenn ich von dieser schlimmen Tat erzähle, dann ist es aus, weil mich das zu einem anderen, schlechten Menschen macht. Mit der Offenbarung vernichtet er die erste ernsthafte Beziehung seit vielen Jahren, aber ohne Offenbarung wird sie auch nicht funktionieren. Darum diese Schwere: Er weiß, jetzt wo es ernst wird, endet es zwangsläufig auch wieder.

Jetzt, wo ich den Text hier so beschreibe, merke ich, dass ich wohl zur Urprungsidee zurück muss, weil es sonst unstimmig ist (hab's schon angepasst). Danke für den Anstoß!

Freundliche Grüße

HK

 

Hallo @H. Kopper ,


ich schreibe hauptsächlich, weil bei mir beim ersten Lesen eine andere Lesart entstanden ist als bei den anderen. Mittlerweile ahne ich aber, woran es lag. Es scheint eine Art kurioser Nebeneffekt des Wesens deines Prot inmitten seiner Umgebung zu sein.

Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. “Was sollen wir denn morgen machen?”
“Zeig mir das Viertel! Möchte sehen, wo du aufgewachsen bist.”
“Willst du nicht lieber in die Stadt?”
“Da können wir doch morgen hin.”
Aber zunächst eine Verständnisfrage: ist es nach dem Kuss wirklich "morgen machen" oder "heute noch" machen? Weil sie über die City dann "Da können wir doch morgen hin" sagt.
“Das ist jetzt bald siebenundzwanzig Jahre her.”
“Und du wolltest dich nicht wieder binden?”
Er warf ihr einen ernsten Blick zu und deutete ein Kopfschütteln an.
“Du, das hat sich einfach nicht ergeben.”
Sein Vater schien einem Gedanken nachzuhängen und sie stieß das Thema nicht wieder an.
So. Beim ersten Lesen habe ich vermutet, dass die Geschichte auf amouröse Verwicklungen zwischen den drei Protagonisten hinausläuft, auf eine Annäherung zwischen Mina und Jochen z.B., befeuert von dem Umstand, dass der Prot so abwesend und abweisend ist.
(Herzlichere) Interaktion gibt es ja beinahe nur zwischen Jochen und Mina, das wird es gewesen sein, was mich dort einen Schwerpunkt hat setzen lassen.
Deshalb war ich, kannst du dir denken, auf andere Art und Weise überrascht von dem Ende, wie es dann dort stand. (Es war die Vorversion).
Auch den zitierten Dialog empfinde ich als Annäherung mit viel Ungesagtem, wobei ich es mittlerweile anders erklären kann, dass ich das so las und es lediglich eine Lesart unter Vielen ist.
Sein Vater schien einem Gedanken nachzuhängen und sie stieß das Thema nicht wieder an. Später lag er mit ihr oben auf dem Sofa. Sie fühlte bei ihm vor, aber er hatte keine Lust.
Das hat z.B. auch zu dieser Lesart beigetragen. Der Prot ist ja unbenamt, wenn im Vorsatz sein Vater die Hauptrolle spielt, habe ich eben dieses "Sein Vater" ("Sein", der Prot, ist ja die Person, auf die sich der Folgesatz bezieht) als die relevante "Er"-Person im Folgesatz genommen und war kurz irritiert, dass Mina und Jochen schon gemeinsam auf einem Sofa lagen. :shy:
Zu Hause umarmte sein Vater Mina beim Gutenachtsagen. “War ein sehr schöner Abend!”
In einer Umgebung des sehr beschwerten Prot leuchten solche Szenen wahrscheinlich doppelt stark und haben zum Eindruck einer größeren Nähe geführt, als in der Intention tatsächlich da ist.
Das nochmal, weil ich scheinbar die einzige (zeitweise) auf dieser Fährte war.

Zwar wäre ich nicht mal sicher, ob das Geständnis wirklich dazu führt, dass Mina den Prot verlässt. Dennoch gefällt mir die Variante, dass er den Jungen ohne besondere Motivation geschubst hat besser, als die vorherige Unfallvariante.

Viele Grüße,
Helen

 

Hallo @H. Kopper

Willkommen zurück!
Ich finde das einen guten Text, vor allem der Anfang hat mich überzeugt, die Spannung, die sich in kleinen Gesten zeigt oder in einzelnen Dialogpassagen, die du gut in die alltäglichen und harmlosen Sätze eingestreut hast. So wirken denn auch die harmlosen Sätze nicht mehr so harmlos, man hört als Leser auf einmal genauer hin, versucht, die Schwingungen aufzunehmen, die zwischen den drei Figuren herrschen. Das ist ansprechend subtil gearbeitet.
Den Rundgang durch die Orte der Kindheit ist mir ein Ticken zu lang, das hat auch etwas Repetitives, folgt jeweils einem ähnlichen Schema. Hier wird auffällig, wie sehr du den Inhalt über die Dialoge vermittelst und nicht über Beobachtungen, Reflexionen etc. Das ist bestimmt eine bewusste und auch spannende Entscheidung (ich habe mich zwischendurch gefragt, ob der Text eigentlich personal oder neutral erzählt ist), aber bei diesem Durchgang durch die Orte der Kindheit verliert die Erzählung dadurch an Unmittelbarkeit. Ich weiss nicht, ob ich mich da vernünftig ausdrücke, aber da hättest du mich fast verloren.
Der Schluss, ich weiss nicht. Die Partnerin des Prota ist mir sympathisch. Daher will ich nicht glauben, dass sie so reagieren wird, wie er befürchtet. Nein, den Schluss kauf ich nicht. Ich weiss auch nicht, ob es dieses kleine bunte Bonbon am Ende braucht. Mir kam das ein wenig angehängt vor, eine Erklärung der Beklommenheit des Prota. Was mich daran vielleicht ein bisschen stört, ist die Singularität dieses Ereignisses. Anders formuliert: Diese Verfehlung, dieses Schubsen hätte ja auch in der Stadt X geschehen können und dann hätte der Prota ein besonderes Verhältnis zur Stadt X. Bisher habe ich den Text aber als einen Text über Rückkehr und Heimat gelesen und das umfasst ja stets viele Aspekte, zumindest ist das für mich so. Wiederum weiss ich nicht, ob ich mich klar ausgedrückt habe, sonst frag einfach nach. Klar, wenn du das bunte Bonbon weglässt, dann ist der Text noch etwas grauer und könnte als fad empfunden werden. Ist immer schwierig, diesbezüglich das richtige Mass zu finden.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo @Helenesthe,

ich bedanke mich sehr für deinen Kommentar!

Beim ersten Lesen habe ich vermutet, dass die Geschichte auf amouröse Verwicklungen zwischen den drei Protagonisten hinausläuft, auf eine Annäherung zwischen Mina und Jochen z.B., befeuert von dem Umstand, dass der Prot so abwesend und abweisend ist.

Interessant, auf die Idee, dass man das so lesen kann, wäre ich nie gekommen. Aber du hast recht mit ...

Der Prot ist ja unbenamt, wenn im Vorsatz sein Vater die Hauptrolle spielt, habe ich eben dieses "Sein Vater" ("Sein", der Prot, ist ja die Person, auf die sich der Folgesatz bezieht) als die relevante "Er"-Person im Folgesatz genommen und war kurz irritiert, dass Mina und Jochen schon gemeinsam auf einem Sofa lagen.

Ich habe die Namen sehr sparsam verwendet. Keine Ahnung ehrlich gesagt, warum ich das gemacht habe, aber fand es irgendwie passender als dauernd "Mina" und "Jochen" zu schreiben. So mit Namen zu jonglieren gibt Stories oft so einen naiven Touch, finde ich, und nimmt ihnen an Gravität. Aber ist mir schon auch aufgefallen, dass man dann oft "ihn" und "ihm" und "er" hat ohne direkte Zuordnung.

Zwar wäre ich nicht mal sicher, ob das Geständnis wirklich dazu führt, dass Mina den Prot verlässt.

Das ist auch nur meine eigene Interpretation, die Story lässt das ja offen.

Dennoch gefällt mir die Variante, dass er den Jungen ohne besondere Motivation geschubst hat besser, als die vorherige Unfallvariante.

Das freut mich.

Freundliche Grüße

HK

+++

Hallo @Peeperkorn,

auch dir vielen Dank für deinen Kommentar. Hier bringst du es für mich auf den Punkt:

Ist immer schwierig, diesbezüglich das richtige Mass zu finden.

Ich finde, das gilt für alle deine Kritikpunkte. Am Ende sind es ja alles Einzelentscheidungen, die man treffen muss, um überhaupt eine Story zusammenzuzimmern. Dann steht sie irgendwann und plötzlich scheint es, als wäre alles ein am Reißbrett geplantes, modulares Konstrukt.

Den Rundgang durch die Orte der Kindheit ist mir ein Ticken zu lang, das hat auch etwas Repetitives, folgt jeweils einem ähnlichen Schema. Hier wird auffällig, wie sehr du den Inhalt über die Dialoge vermittelst und nicht über Beobachtungen, Reflexionen etc. Das ist bestimmt eine bewusste und auch spannende Entscheidung (ich habe mich zwischendurch gefragt, ob der Text eigentlich personal oder neutral erzählt ist), aber bei diesem Durchgang durch die Orte der Kindheit verliert die Erzählung dadurch an Unmittelbarkeit. Ich weiss nicht, ob ich mich da vernünftig ausdrücke, aber da hättest du mich fast verloren.

Hier sind mehrere solcher Punkte enthalten. Der Rundgang hat ganz sicher etwas Repetitives. Ich will mich gar nicht rechtfertigen, der Text ist kein bisschen abgehangen, deswegen habe ich noch Null Distanz. Aber im Schreibprozess galt es irgendwo die Mitte zu finden aus Erzählenswertem/Vermeidung von Banalem, Interpretationsspielraum, Nachvollziehbarkeit für den Leser und auch Ablenkung vom Clou am Ende.

Ich habe tatsächlich, wie es @Bas auch schon beschrieben hat, die Fährte bewusst hin zum Tod der Mutter gelegt, und damit weg vom "unheimlichen Haus". Das hat natürlich Meter gekostet, denn die Schwierigkeit war hier, dem Haus bzw. der ersten Erzählung von früher einen proportionalen Platz zwischen dem Rest zuzuweisen, der dennoch einen gewissen Raum einnimmt. Wäre das die einzige ausgearbeitete Stelle gewesen, hätte der Leser was geahnt. Wäre es hingegen zusammen mit allem nur kurz angerissen worden, wäre es der Schwere der Bedeutung nicht gerecht geworden.

Das alles wird natürlich hinfällig, wenn man das unterschreibt:

Ich weiss auch nicht, ob es dieses kleine bunte Bonbon am Ende braucht.

Hier muss ich auf den Schreibprozess zurückkommen. Denn das war für mich Kern und Ausgangspunkt der Story, also alles andere als anghängt. Jetzt kann man natürlich sagen, mit dem Schreiben des Drumherums ist dieser Kern dann eben in seiner Konkretheit obsolet geworden. Aber ich fand es eigentlich ganz elegant, am Ende einerseits dies zu tun ...

Mir kam das ein wenig angehängt vor, eine Erklärung der Beklommenheit des Prota.

... andererseits neue Türen aufzumachen und somit ein offenes Ende zu schaffen. Denn das ist ja nicht klar:

Daher will ich nicht glauben, dass sie so reagieren wird, wie er befürchtet.

Wir wissen nicht, ob er das wirklich befürchtet, und auch nicht, ob es so kommt. Das war ja Info aus den Kommentaren. Aber ich denke, es ist nachvollziehbar, dass so eine Tat einen Schatten bis in die Gegenwart werfen würde.

Allerdings ist die Story hier auch durch ihre Form eingeschränkt, denn hierzu ...

(ich habe mich zwischendurch gefragt, ob der Text eigentlich personal oder neutral erzählt ist)

... kann ich sagen, dass die Story zwischen Erzählperspektiven hängt, wobei der Erzähler einerseits keine Gedanken und Gefühle des Protagonisten kennt (neutral), andererseits aber zumindest hier und da Informationen gibt, die der Protagonist nicht haben muss, wie hier (auktorial):

"Du auch", sagte sein Vater und sah ihn nachdenklich an, bevor er sich abwandte, um in sein Zimmer zu gehen.

Sie waren eine gute Stunde unterwegs. Es war kaum Verkehr. Sie hatte den Sitz ein wenig zurückgestellt und die Augen geschlossen.
“Ich war’s”, sagte er.
Langsam öffnete sie die Augen. “Hmm?”
“Ich habe ihn geschubst.”
Sie blinzelte. “Wen?”
“Den Jungen im Haus.”
Für einen Moment schienen seine Worte widerzuhallen und er spürte ihren Blick, während er geradeaus auf die Fahrbahn starrte.

Hier kann man nur darüber mutmaßen, ob der Protagonisten diese Reaktionen der anderen Figuren selbst wahrnimmt oder ob das Zusatzinfos an den Leser sind. Denn insgesamt folgt der Text eigentlich nur dem Protagonisten (personal).

Was mich daran vielleicht ein bisschen stört, ist die Singularität dieses Ereignisses. Anders formuliert: Diese Verfehlung, dieses Schubsen hätte ja auch in der Stadt X geschehen können und dann hätte der Prota ein besonderes Verhältnis zur Stadt X. Bisher habe ich den Text aber als einen Text über Rückkehr und Heimat gelesen und das umfasst ja stets viele Aspekte, zumindest ist das für mich so.

Ich habe es oben schon anklingen lassen: Für mich ist das eben kein singuläres Ereignis, sondern fügt sich in den übrigen Kontext Heimat und Vergangenheit ein. Tatsächlich hatte ich unter anderem die möglichen Titel "Heimat" oder "Heimatbesuch" im Sinn. Nach meiner Lesart ist genau das die Heimat des Protagonisten und diese konkrete Heimat ist so problembehaftet. Vielleicht muss ich aber wirklich noch wie auch oben angemerkt mehr Positives einstreuen, um ein Gegengewicht zum düsteren Zeug zu schaffen. Ich habe eben nur Sorge, dass es dann beginnt, dahinzuplätschern.

Freundliche Grüße

HK

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom