Mitglied
- Beitritt
- 20.10.2024
- Beiträge
- 6
Begraben
Nach gut zweihundert Kilometern tauchte seine Heimatstadt das erste Mal auf einem der blauen Schilder am Straßenrand auf.
“Es wird ernst.”
Sie lachte.
“Vielleicht sollten wir uns doch ein Zimmer im Zentrum nehmen”, sagte er.
Sie legte ihre Hand auf sein Knie. “Mach dir nicht so viele Gedanken!”
Sein Vater kam in verwaschener Jeans und Daunenweste ans Gartentörchen geschlappt.
“Habt aber lange gebraucht!”
Sie streckte ihm die Hand hin. “Hallo, ich bin Mina.”
“Ich bin der Jochen.”
Er umarmte seinen Vater und klopfte ihm auf den Rücken. "Wie geht's?"
“Ich hab euch das Arbeitszimmer hergerichtet. Ich hoffe, das passt so.”
“Bestimmt”, sagte sie und lächelte.
“Na, dann kommt mal rein!”
Er brachte die Taschen in den ersten Stock und stellte sie neben das ausgeklappte Schlafsofa. Es war ein grauer Tag, an den Bäumen hingen nur noch vereinzelte Blätter. Er hörte Mina und seinen Vater unten im Wohnzimmer reden. Bevor er ausgezogen war, direkt nach dem Abitur, war das sein Zimmer gewesen. Oft hatte er früher vor dem Fenster gestanden und herausgestarrt. Er atmete tief ein und langsam wieder aus.
Beim Abendessen unterhielten sein Vater und Mina sich angeregt, während er sich einsilbig gab.
“Ist was?”, sagte sie, als sein Vater gerade in der Küche war.
“Bin nur etwas müde von der Fahrt.”
“Wirklich?”
“Ja.”
Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. “Was sollen wir denn morgen machen?”
“Zeig mir das Viertel! Möchte sehen, wo du aufgewachsen bist.”
“Willst du nicht lieber in die Stadt?”
“Da können wir doch morgen hin.”
“Ok.”
“Das klingt ja nicht sehr motiviert.”
“Gibt hier nicht viel, was interessant ist.”
"Das sagst du nur, weil du es kennst."
Sein Vater kam mit einem Tablett zurück und verteilte Schälchen mit Vanilleeis und roter Grütze.
“Schmeckt super!”, sagte sie.
"Nicht selbst gemacht, muss ich gestehen."
"Macht doch nichts."
“Seine Mutter, die konnte kochen.”
Sein Vater sah ihn an.
“Du hast da was”, sagte er und fasste sich ans Kinn.
“Darf ich fragen, wann sie gestorben ist?”
“Das ist jetzt bald siebenundzwanzig Jahre her”, sagte sein Vater.
“Und du wolltest dich nicht wieder binden?”
Er warf ihr einen ernsten Blick zu und deutete ein Kopfschütteln an.
“Du, das hat sich einfach nicht ergeben.”
Sein Vater schien einem Gedanken nachzuhängen und sie stieß das Thema nicht wieder an. Später lag er mit ihr oben auf dem Sofa. Sie fühlte bei ihm vor, aber er hatte keine Lust.
“Ist wirklich nichts?”
“Nein.”
Am nächsten Morgen regnete es. Sie frühstückten lange und machten sich dann in Ruhe fertig.
“Sollen wir wirklich gehen?”, sagte er.
“Der Himmel wird doch schon heller.”
“Na gut.”
Er zog den einzigen Schirm aus dem Eisenfass im Flur, und sie traten vor die Tür. Er spannte ihn auf und legte den Arm um ihre Hüfte. Sie tat es ihm gleich, und sie schritten los. Am Ende der Straße bogen sie links ab und folgten in Kopfsteinpflaster eingelassen Gleisen.
„Das war früher die Bahn in die Stadt. War noch eine von den ganz alten mit Eisenschaltknüppel und so.”
„Bei uns gab es auch solche.“
„In Sarajevo?“
„Ja. Bei uns war alles alt.“
„Als Kind bin ich manchmal alleine zum Judotraining gefahren. Das waren bestimmt zehn, zwölf Stationen.“
Er zählte im Kopf nach. „Ja, zwölf. Da war ich noch in der Grundschule. Heutzutage undenkbar, dass ein Acht-, Neunjähriger alleine in die Stadt fährt.“
„Die Kinder heute wachsen zu behütet auf.”
“Ja.”
“Wir machen das mal anders, stimmt’s?“
Sie grinste, als sie seine Miene sah. “Du verstehst heute echt gar keinen Spaß.”
“Das ist der Ort”, sagte er.
„Da war früher ein kleiner Edeka.“
Er zeigte auf einen Flachbau, der sich zwischen zwei Mehrfamilienhäusern wegduckte.
„Der dicke Besitzer stand hinter der Wursttheke und seine dicke Frau saß an der Kasse. Und der Rest des Ladens war leer, wenn du verstehst.“
Sie schlug ihm gegen die Schulter. „Habt ihr nicht!“
„Wie die Raben!“
Sie lachte. „Du bist ja ein Böser!“
“Sag das nicht!“, sagte er ernst.
Sie gingen weiter. Ein großer Mann mit starrer Haltung kam ihnen mit hektischen Schritten entgegen. Er trug einen verwilderten Vollbart und eine Armeejacke. Sein graues Haar war lang und strähnig. Als er sie passierte, musste er die Schulter zurückziehen, um nicht von dem Mann angerempelt zu werden. Er blieb stehen und drehte sich um. „Krass!“
„Was ist?“
Er sah dem Mann nach. „Das war der Besitzer vom Schreibwarenladen, wo wir immer unsere Schulsachen gekauft haben. Russe. Es hieß immer, der hätte zu Hause im Ural jemanden mit bloßen Händen erwürgt und wäre dann geflüchtet. Nach Frankreich zur Fremdenlegion. Mit dem Sold hätte er dann den Laden hier aufgemacht. Mit bloßen Händen erwürgt und zuhause im Ural, mit genau diesen Worten wurde das immer erzählt. Wahrscheinlich war das alles Bullshit.“
Sie lachte. “Bestimmt ist er total lieb.“
Sie erreichten eine Hauptstraße. An vielen Hauswänden waren Flecken, an einem mit Graffiti beschmierten Stromkasten lehnte ein zusammengefalteter Wäscheständer, das Pflaster war übersät mit plattgetretenen Kaugummis. Auf der anderen Straßenseite, in einem Bushäuschen, saßen zwei Penner auf der Bank, einer hielt eine bauchige Rotweinflasche in der Hand.
“Schönen Schulweg hatte ich, oder?”
“Wo ist deine Schule?”
“Die Straße runter.”
“Gehen wir hin?”
“Ist nur ein Gebäude.”
“Schade.”
“Wäre auch ein Umweg. Und hier ist es schöner.” Er deutete in Richtung eines kleinen Platzes mit Bänken, der von einigen Gründerzeithäusern eingerahmt wurde. In einem war im Erdgeschoss ein italienisches Café, wo sie einen Espresso tranken. Als sie anschließend wieder auf die Straße traten, hatte der Regen aufgehört. Es wickelte das Bändchen um den Schirm und drückte es fest. Der Weg führte bald über eine schmucklose Hauptstraße mit Zweckbauten.
“Gehen wir schon zurück?”
“Ja”, sagte er, “Oder willst du noch weiter laufen?”
“Ich könnte schon noch ein Stück.”
Sie blieb stehen und sah sich um. “Was ist denn da hinten? Da bei den Bäumen?”
“Da fängt das Bonzenviertel an.”
“Das will ich sehen!”
“Dann sind wir aber bestimmt noch ne Stunde unterwegs.”
“Umso besser, so verbrennen wir dieses Riesenfrühstück.”
Er zögerte. Sie zog ihm spielerisch am Arm. “Los, komm schon!”
Er gab nach und sie gingen auf die Bäume zu. Bald wurden die Geschäftshäuser von großen Stadthäusern mit kunstfertig gearbeiteten Verzierungen abgelöst, von gepflegten Wohnanlagen und von Villen mit weißen Fassaden und schwarz gerahmten Fenstern. Eine Allee führte sie tiefer ins Viertel.
“Dahinten war mein Kindergarten und eine Straße weiter meine Grundschule”, sagte er.
“Warst also selbst ein Bonzenkind”, sagte sie lachend.
“Unser Haus war genau auf der Grenze sozusagen, also war ich hier in der Grundschule. Das war einfach die nächste. Ein Gymnasium gibt’s hier aber nicht, da war ich dann bei den Asis. Aber ehrlich gesagt, die Bonzen sind die schlimmeren. Alle Familien kaputt hier."
Er blieb stehen und zeigte mit der Schirmspitze auf einen Zigarettenautomaten, der am Rand des Bürgersteigs an einem Metallpfeiler befestigt war. “Hier haben wir immer Kippen gekauft. Und dann direkt in den Park paffen. Geht heute auch nicht mehr. Damals brauchte man nur einen Heiermann.”
“Einen was?”
“Einen Heiermann, so hat man man das Fünf-Mark-Stück genannt. So viel hat eine Schachtel am Automaten gekostet. Fünf Mark. Im Laden waren sie günstiger, darum waren in den Schachteln vom Automaten zwei oder drei Kippen mehr drin.”
Er grinste. “Ein Heiermann war das Beste. Richtig schöne Münze auch. So eine schöne gibt’s beim Euro nicht. Aber noch besser war der Fünf-Mark-Schein. Der war selten. Wenn man so einen hatte, wollte man ihn gar nicht ausgeben.”
“In Bosnien konnte man auch mit Deutschmark bezahlen früher. Aber diesen Mann da kenne ich nicht.”
Er legte den Arm um sie. “Heiermann!”
“Heiermann.”
“Keine Ahnung, warum der so hieß. War ein Adler drauf und ne Fünf, kein Gesicht.”
Sie löste sich. “Können wir durch den Park gehen?”
“Der ist nichts Besonderes. Hier kommen gleich noch die ganz fetten Hütten. Willst du die nicht sehen?”
“Nee, lieber in den Park”, sagte sie und ging ein paar Schritte voran auf den Schotterweg. Am Wegrand standen alte Platanen mit scheckiger Rinde und andere alte Laubbäume. Ihr Blattwerk lag in großen, gelbbraunen Haufen zusammengerecht auf der feucht glitzernden Wiese.
“So schön der Herbst!”, sagte sie. “Hast du hier früher gespielt?”
“Ja, immer. Das war wie mein Wohnzimmer.”
“Ich war auch immer im Park.”
“So muss das sein!”
Der Weg machte eine Kurve und führte dann durch eine leichte Senke, wo er linker Hand von dichtem Gebüsch und rechter Hand von einer alten Backsteinmauer gesäumt wurde. Er fuhr beim Gehen mit dem Finger durch eine der rauen Fugen. „Dahinter liegt meine Mutter.“
Sie blieb stehen. „Oh!“
Er ging ein paar Schritte weiter, bevor er sich zu ihr umdrehte. Sie sah ihn voller Mitgefühl an. „Möchtest du mir ihr Grab zeigen?“
„Ein andermal, ja?“, sagte er und wandte sich zum Weitergehen.
„Klar, wie du willst.“
Sie schloss zu ihm auf und nahm seine Hand. “Du warst ja erst sechs! Das muss sehr schwer gewesen sein. Hast du viele Erinnerungen an sie?“
„Ein paar. Aber manchmal weiß ich nicht, ob sie alle echt sind.“
„Verstehe.“
Sie drückte seine Hand fester. “Wenn du mal drüber reden willst …”
“Ok.”
Mit der Mauerecke endete auch der Park. Sie betraten eine Straße mit imposanten Häusern auf ausgedehnten Grundstücken.
“Und hier hat mein bester Freund gewohnt”, sagte er nach ein paar Metern. “Eduard Meier. Deutschester Name. Hab erst später mal erfahren, dass das eigentlich irgendwelche ungarischen Adligen waren, denen irgendwann das Geld ausgegangen ist. Das Haus sah damals nicht so aus. War so braungrau gestrichen. Die Einfahrt war auch anders. Die hatten nur eine Etage eingerichtet, der ganze Rest war mit altem Krempel und Kisten vollgestopft. Irgendwelche Truhen und Degen und Geweihe. Lauter so Zeug. Für uns war das der beste Spielplatz überhaupt.”
“Das glaub ich. Ich mag solche Orte mit eigenem Charakter.”
“Und jetzt wohnen da irgendwelche Schnösel.”
Er sah sich das Klingelschild an. “Dr. Wolfertz!”
“Was ist aus deinem Freund geworden? Habt ihr noch Kontakt?”
“Nein.”
Sie schlenderten weiter. Sie lief auf die andere Straßenseite, um durch eine Hecke hindurchzuspähen, hinter der ein besonders imposantes Anwesen lag. Er betrachtete derweil ein Mehrfamilienhaus mit Cortenstahlverkleidungen an den Balkonen. Sie kam zu ihm zurück und legte den Kopf auf seine Schulter.
„Hier stand das unheimliche Haus“, sagte er.
Sie lachte. “Was ist das denn?“
„Das unheimliche Haus. So haben wir das genannt. Das war so eine alte, verlassene Villa, die total baufällig war. Der Garten war auch total zugewuchert. Sah aus wie in einem Horrorfilm. War eine Mutprobe, da reinzugehen.“
“Warst du drin?”
„Ja, mit Kumpels.“
„Und hattest du Angst?“
“Beim ersten Mal schon, dann nicht mehr. Haben immer da geraucht und so. Aber einmal ist etwas Schlimmes passiert.“
Sie sah zu ihm hoch.
„Einer ist durch ein Loch im Boden vom ersten Stock ins Erdgeschoss gefallen und auf dem Kopf gelandet. Musste mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden und lag ein paar Wochen im Koma. Als er wieder aufgewacht ist, hatte er einen Dachschaden.”
"Das ist ja schrecklich!“
“Ja. Er hat dann manchmal ohne Grund gelächelt oder ist wegen Kleinigkeiten ausgerastet. Ist auch nicht mehr richtig mitgekommen in der Schule. Haben ihn darum nur noch Matschbirne genannt.“
“Wie gemein!”
„Ja. Tut mir auch voll leid heute.“
„Was ist aus ihm geworden?“
„Keine Ahnung. Aber das Haus wurde dann kurze Zeit später abgerissen und dieser Klotz hier gebaut. Seine Eltern habe ich nach Jahren noch einmal gesehen. Wirkten wie gebrochene Leute.”
“Klar, wenn dem eigenen Kind so was passiert ist.”
“Matschbirne”, sagte er vor sich hin. “Komm, lass weiter!”
Er zeigte ihr noch ein paar Orte, die in seiner Jugend eine Rolle gespielt hatten.
“Danke, das war schön”, sagte sie, als sie wieder zu Hause waren und im Flur ihre Sachen ablegten.
“Bin froh, dass das abgehakt ist”, sagte er.
Sie aßen mit seinem Vater eine Kleinigkeit zu Mittag, dann zogen sie sich nach oben zurück, um sich auszuruhen. Anschließend schliefen sie miteinander.
“Bist jetzt erst angekommen, oder?”, sagte sie, als sie hinterher vor dem Badezimmerspiegel standen und sich für den Abend fertigmachten.
“Kann sein”, sagte er.
“Fand ich auch”, sagte sie.
“Sogar unserm Muffel scheint es Spaß gemacht zu haben.” Sein Vater legte ihm lachend den Arm um den Hals, als wollte er ihn in den Schwitzkasten nehmen.
“Ja, war lustig”, sagte er. “Müssen wir noch mal hin.”
“Sonst ist er eigentlich gar so muffelig”, sagte sie.
“Das ist der Ort”, sagte er.
“Aber es ist doch deine Heimat”, sagte sein Vater.
“Eben drum”, sagte er und das Lächeln im Gesicht seines Vaters wurde schmaler.
“Ich finde es jedenfalls schade, dass wir morgen schon zurück müssen”, sagte sie.
“Ihr seid immer willkommen!"
Bevor er nach oben ging, nahm sein Vater ihn zur Seite. “Da hast du aber eine Nette!”
“Finde ich auch”, sagte er.
“Wirklich, sehr nett!” Sein Vater drückte ihm den Oberarm.
“Ja."
Er bertrat die erste Stufe der Treppe. "Also, dann, schlaf gut!"
"Du auch", sagte sein Vater und sah ihn nachdenklich an, bevor er sich abwandte, um in sein Zimmer zu gehen.
***
Sie waren eine gute Stunde unterwegs. Es war kaum Verkehr. Sie hatte den Sitz ein wenig zurückgestellt und die Augen geschlossen.
„Ich war’s“, sagte er.
Langsam öffnete sie die Augen.
„Hmm?“
„Ich habe ihn geschubst.“
Sie blinzelte.
„Wen?“
„Den Jungen im unheimlichen Haus.“
Er spürte ihren Blick, während er geradeaus starrte. Sie schwebten über der Fahrbahn, eingefroren im lautlosen Widerhall seiner Worte.
“Warum?”
“Wollte nur antäuschen, um ihn zu erschrecken. Aber hab mich verschätzt.”
„Wieso hat er nichts gesagt?“
„Er konnte sich an nichts erinnern.“
„Und die anderen Kinder?“
„Die waren da schon wieder unten. Oder auf der Treppe. Weiß nicht mehr. Auf jeden Fall waren wir allein in dem Raum.”
“Und du hast nichts gesagt?”
“Nein, du bist der erste Mensch, dem ich es erzähle.“