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Beginn einer Freundschaft?
„Psychologische Praxis Dr. Brauer, Mühlenweg 22“, murmelte Amalia vor sich hin, und nahm die kleine Hand ihrer fünfjährigen Schwester Lilly in ihre. Sie fühlte sich weich an.
„Was...Was macht Doktor Brauer mit mir?“, fragte Lilly sie, und schaute Amalia erwartungsvoll, fast erschrocken an. Amalia zögerte. Sie bewegte sich auf dünnem Eis.
„Er macht dich normal“, das hätte alles wohl am besten getroffen, aber es war nicht auszuschließen, dass Lilly dann nicht nur die generelle Kommunikation, sondern auch die mit ihrer Schwester verweigerte, und das wäre eben das, was das dünne Eis unter ihren Füßen zerbrechen würde. Ebenso Amalias Herz. Sie hing an ihrer Schwester und sie hatte sich an deren Autismus gewöhnt. Das Lilly Körperkontakt so gut es ging mied, und Menschen selten in die Auge schaute und auch die Stimmungsschwankungen hatten zu Lilly immer dazugehört, und mittlerweile fielen sie Amalia nicht mehr auf, was vielleicht daran liegen mochte, dass sie Lillys einzige Bezugsperson war. Dennoch gab es diese Verhaltensauffälligkeiten, und Lillys Kinderarzt hatte beschlossen, dass die Zeit jetzt reif war, für eine Praxis-Behandlung.
„Er hört dir zu und spricht mit dir“, antwortete Amalia schließlich auf Lillys Frage. Mit einem Ruck zog Lilly ihr die Hand weg und blieb mitten auf dem Fußweg stehen.
„Ich will nicht reden!“, rief sie empört, und die Menschen um sie herum schauten erstaunt, manche schmunzelten. Fieberhaft überlege Amalie wie sie Lilly besänftigen konnte.
„Das musst du nicht, wenn du nicht willst. Niemand wird dich zu irgendwas zwingen, versprochen.“ Amalia hatte sich im Internet über Therapien bei Autismus informiert. Sie spürte, wie Lilly überlegte. Unruhig trippelte sie von dem einen Fuß auf den anderen.
„Na gut, ich komme mit“, verkündete sie schließlich.
„Das finde ich gut von dir. Du wirst sehen, das ist nicht so schlimm“, redete sie Lilly noch Mut ein, und schließlich verfielen sie wieder in dieses Schweigen. Nicht das glückliche Schweigen, wenn Worte überflüssig sind, sondern in das, bei dem sich wenigstens ein Gesprächspartner unwohl fühlte. Amalia übernahm diesen Part wohl. Den restlichen Weg zur psychologischen Praxis stritten sie also nicht mehr, und Amalia drückte erleichtert die schwere Tür auf, die nach innen öffnete, wohl, damit keiner ausriss. Sie wischte sich die roten Locken aus der Stirn und ging entschlossenen Schrittes zu dem Empfangstresen.
„Hallo, ich bin Amalia Bachmann, meine Schwester Lilly hat einen Termin hier.“ Die Empfangsdame lächelte ihr freundlich zu.
„Bitte nehmt nochmal im Wartezimmer platz“, sagte sie, und wies auf die Glastür an der linken Seite.
„Danke“, meinte Amalia und blickte kurz auf Lilly.
„Na los, gehen wir rein?“ Aber Lilly zog die Tür schon auf, und Amalia folgte ihr. Manchmal verstand auch sie nicht, was in Lillys Kopf vorging. Eben hatte sie sich noch so gesträubt, in diese Praxis zu gehen und jetzt konnte sie es scheinbar nicht erwarten. Nach einem zum Boden gemurmeltem
„Hallo“ blickte Amalia in den Warteraum. Er war lila gestrichen, und die Stühle waren wohl so etwas wie champagnerfarben. Lilly machte es sich gerade hinten links gemütlich, in der Nähe eines Jungen im Rollstuhl, der mit seiner Mutter redete und dabei immer wieder mit seiner Hand in der Luft herumschlug, einem älteren, türkischen Mann und einem unscheinbaren, dünnem Mädchen mit schulterlangen, mausbraunen Haaren und grauen Augen. Sie trug eine Jeans, Chucks und einen grünen Pullover und hackte auf die Tasten ihres Handy ein. Amalia setzte sich neben sie und stöpselte sich ihre Musik in die Ohren, während Lilly links neben ihr noch total von den neuen Eindrücken geplättet war. Gerade wollte Amalia ihr Lieblingslied „Chicago“ anschalten, als ein ihr vage bekanntes Lied, wohl von Usher ertönte. Das Mädchen neben ihr stöhnte auf und presste das Handy an ihr Ohr. Normalerweise war Amalia nicht neugierig, aber seltsamerweise wollte sie unbedingt wissen, mit wem das Mädchen wohl sprach.
„Schatz, was ist denn?“, zischte sie in ihr Telefon.
„Ich bin beim Arzt, das dauert noch.“ Die Antwort von „Schatz“ verstand Amalia nicht, aber sie musste wohl sehr laut ausgefallen sein, denn das Mädchen neben ihr hielt ihr Handy weiter von sich weg und verzog das Gesicht.
„Tut mir Leid Fabi. Wir reden später darüber, bitte“, flüsterte sie wohl besorgt, dass jemand ihr zuhörte. Aber soweit Amalia das beurteilen konnte, war jeder ganz gut mit sich selbst beschäftigt. Nur sie hörte interessiert zu.
„Ich kann jetzt wirklich nicht!“ Langsam wurde das Mädchen neben ihr energisch.
„Ja, Tschüss" murmelte sie noch, dann ließ sie das Handy sinken und zog ihre Pulloverärmel über die Arme. Amalia schaute sie an, dann fragte sie
„Alles okay bei dir?“, und schämte sich im selben Moment. Anderer Gespräche belauschen, wildfremde Leute anquatschen, was war denn los mit ihr? Verwundert guckte sie das Mädchen an.
„Ähm, ja klar. Wieso fragst du das?“ Amalia merkte, wie sie rot wurde. Wie kam sie denn jetzt über die Wahrheit herum?
„Also, ich dachte nur, du sahst so ... hm“, begann sie.
„Du hast gehört, wie ich telefoniert habe, und jetzt denkst du, ich bin nicht okay, was?“, beendete das Mädchen ihren Satz.
„So ungefähr ja. Tut mir Leid“, sagte Amalia und schaute schüchtern zur Seite, bis sie merkte, dass das Mädchen lächelte.
„Halb so wild. Ich bin Rebekka, du?“
„Amalia“
„Schöner Namen find ich. Und, was ist dein Problem?“ fragte sie neugierig. Amalia lachte leise.
„Meins? Mathematik fürchte ich“, doch dann wurde sie ernst.
„Meine Schwester Lilly ist Autistin, ich begleite sie. Bei dir?“ Rebekka seufzte. Sie zog ihre Pulloverämel noch ein bisschen weiter runter und hielt sie fest.
„Sagt dir Borderline was?“, fragte sie schließlich. Amalia schüttelte den Kopf. Rebekka machte auf sie keinen kranken Eindruck. Keine Anzeichen von Autismus, Adhs oder auch Tourette. Was konnte es denn noch sein? Während sie überlegte zupfte Lilly sie am Ärmel.
„Wir sind dran!“, wisperte sie. Amalia drehte den Kopf zu Rebekka. „Ich muss jetzt gehen, aber vielleicht können wir uns wieder treffen?“ Rebekka nickte.
„Gibst du mir deine Handynummer?“ Amalia schnappte sich einen Kugelschreiber, der neben einer Zeitschrift auf einem Tischchen lag.
„Ich hab aber kein Blatt“, meinte sie und blickte sich suchend um. Da zog Rebekka ihre Ärmel nach oben und sagte „Schreib hier drauf.“ Amalia blickte auf rote Striemen und Narben, die am Oberarm endeten – oder anfingen? Verschwörerisch und mit geröteten Augen schaute Rebekka sie an. Amalia erschrak. Rebekka ritzte? Aber Amalia gab sich einen Ruck und rief:
„Bitte ruf an, ich freu mich schon!“ lächelte sie. Und während Dr. Brauer ein Gespräch mit Lilly führte, dachte Amalia über diesen seltsamen Anfang einer sicherlich wunderbaren Freundschaft nach.