Begehbares Meer
„Wach auf, Tom“, wiederholte die Stimme.
Jemand drückte meine Schulter. Ich öffnete die Augen, bleiches Morgenlicht fiel auf Sybille. Sie stand vor mir auf dem Balkontisch, ihr Haarknoten berührte beinahe die Decke. Von den Schenkeln aufwärts überragte sie die Brüstung im vierzehnten Stock. Eine Freundin beschwor sie: „Sybille. Komm runter.“ Hinter ihr drängten sich sieben, acht andere Leute. Die Party war vorbei und die meisten Gäste auf dem Weg in die Betten, als Sybille auf den Eisentisch stieg. Stumm stand sie da, die Musik war lange verklungen. Nur ein Auto von der Straße und ein paar Vögel vom Dach waren zu hören. Gänsehaut hatte sich auf Sybilles Beinen gebildet, ihr Gesicht war blass, ihr Ausdruck unnahbar. Ich sah neben mir hoch, wem die Hand auf meiner Schulter gehörte. Es war Kurt, Sybilles Mann, der seine Frau anstarrte, die seinem Blick ungerührt standhielt. Dazwischen, schien mir, existierte ich nicht. Ich wünschte, ich schliefe noch immer. „Bitte“, flehte die Freundin. Vielleicht hätte ich aufspringen sollen, um Sybille zu packen. Doch ich rührte mich nicht, wie sich überhaupt niemand rührte: Kurt nicht, seine Frau nicht, die Freundin in der Balkontür und die anderen hinter ihr ebenfalls nicht. Die Zeit stand still. Nur die Amseln sangen über der Stille.
Fast unmerklich begann Sybille zu zittern und sank in die Knie. Ich staunte, wie schön die Frau war. Sie war wunderbar bleich, das weiße Cocktailkleid betonte ihre Figur, eine Strähne hellblonden Haars hatte sich aus dem Knoten gelöst. Es fiel neben der kleinen Narbe auf ihrer Stirn vor ein Auge und über die Wange, an den dünnen Lippen, am Kinn und ihrem sehnigen Hals herab vor die Brust. In diesem Moment wusste ich, dass Sybille schon tot war. Ich weiß nicht, wieso, aber ich wusste es so sicher, wie ich die Vögel hörte und das Morgenlicht in ihrem Haar leuchten sah; und ich weiß nicht, warum sich niemand bewegte, auch Sybille war wieder erstarrt - hinter frierender Haut und dem kalten Blick auf Kurt, ihren Mann.
Dann ließ sie sich zur Seite fallen und verschwand ohne Laut in der Tiefe. Nur ihre Freundin stieß einen zerrissenen Schrei aus. Noch immer bewegte sich niemand. Der leere Himmel, den Sybille zurückließ, hielt mich umfangen. Nie werde ich seine Zartheit vergessen, das fahle Licht der frühen Stunde und die Ruhe, die folgte. Der Schrei des Entsetzens erstickte, die Vögel auf dem Dach sangen nicht mehr. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden vergingen, wie viel Ewigkeit sich einem Sturz aus dem vierzehnten Stock zumessen lässt. Aber ich spürte, wie diese Ewigkeit mir Fesseln anlegte. Die Tiefe über dem Vorplatz schien endlos. Flach spreizte sich der Himmel vor mir, der fassungslos war. Dann schlug Sybille auf dem Beton auf. Kurts Griff, der meine Schulter zerdrückte, wurde weich und verschwand.
Irgendwann erhob ich mich aus dem Durcheinander von Weinen und Schreien. Auf schwachen Beinen drängte ich mich an den Leuten vorbei. Ich wollte es nicht, trotzdem sah ich nach unten. Um Sybilles Reste hatte sich eine rote Lache gebildet. Seltsam verdreht lag sie in ihrem Blut.
„Guten Abend.“
„´n Abend, Tom. Schön, dass du hier bist.“
Sybille war in Weiß gekleidet und trug ihre neuen High Heels dazu. Sie hatte bordeauxroten Lippenstift aufgetragen, ihre Augen dunkel geschminkt und ihr Haar hochgesteckt. So hätte sie zu einem Staatsempfang aufbrechen können. Man erkannte, wie wichtig die Party ihr war.
Kurt hatte ein ausgeleiertes T-Shirt angezogen. Nicht nur sein aufgeblasener Bauch kontrastierte mit Sybilles Erscheinung, die ihn, schlank und rank, mit ihrem Haarknoten ein Stück überragte. Während Sybille auf Feiern eingestellt war, signalisierten Kurts Aufmachung und sein wortloses, schlappes Händeschütteln, was er davon hielt, den ganzen Stock zu bewirten: Nichts oder, noch weniger, Unmut und unterdrückte Entrüstung. Er fand es unmoralisch, kurz nach dem Selbstmord im Haus eine Party zu geben. Aber Sybille hatte darauf bestanden und sich über alle Einwände hinweggesetzt: Würde die junge Frau noch leben, hätte sie sicher nichts dagegen, wenn andere Leute das Leben genossen. Obwohl Kurt das nicht überzeugte, sondern im Gegenteil seinen Widerwillen gegen Sybilles Oberflächlichkeit, wie er es nannte, vertiefte, gab er zuletzt nach.
Sybille dachte an nichts anderes als an die Frau mit den aufgeschnittenen Armen. Kurt hatte es mir erzählt, als wir uns zufällig am Müllschlucker trafen: Der unbegreifliche Tod von Frau Sonntag ließ Sybille nicht los. Sie spekulierte über die Gründe, ob Frau Sonntags Mutter mit ihren Vorwürfen Recht haben könnte, ob man Schlüsse daraus ziehen sollte - und falls ja, welche. Man konnte doch nicht einfach ausziehen? Wenig später setzte sie sich über ihre Spekulationen hinweg, lachte aufgesetzt, das sei alles Unsinn und interessiere sie nicht. Dann begann sie von neuem zu grübeln.
Das wiederholte sich einige Tage, bis sie Kurt vorschlug, eine Party zu geben. Sie wollte alle Nachbarn vom gleichen Stockwerk einladen und ein paar Freundinnen, die sie kaum sehe. Sie ertrage, erklärte Sybille, die Gleichgültigkeit nicht mehr, mit der man nebeneinanderher lebe. Eine Stockwerkfeier sei die beste Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Kurt wandte, wie gesagt, ein, es sei geschmacklos, kurz nach einem Todesfall im Haus eine Party zu feiern. Aber seine Frau entgegnete, solches Unglück entstehe gerade aus nachbarschaftlichem Desinteresse und Isolation. Vielleicht würde Frau Sonntag noch leben, wenn man sich mehr umeinander kümmern würde; und das habe sie, Sybille, nun vor. Sie ließ sich nicht davon abbringen, berichtete Kurt, schließlich habe er ihren Plan akzeptiert. Gleichzeitig entschuldigte er sich bei mir für den Fall, dass ich es pietätlos fände, kurz nach Frau Sonntags Tod auf eine Party zu gehen, und er nehme es mir nicht übel, wenn ich nicht mitfeiern wolle. Ich antwortete, das könne man so oder so sehen, und versprach ihm zu kommen.
Kurt und Sybille waren meine unmittelbaren Nachbarn. Dies war der eigentliche Grund, warum ich die Einladung annahm. Obwohl wir in einem Neubau wohnten, waren die Wände unzureichend schallisoliert. Auf Anfrage bei Blue Guide sagte man mir, das liege an den vielen Kabelschächten, die hinter den Wänden verliefen. Man entschuldigte sich dafür, könne gegen eine gewisse Hellhörigkeit der Räume aber nichts tun. Ich solle mit den Nachbarn reden, sie mögen sich rücksichtsvoller benehmen. Das stimmte wohl, dennoch tat ich es nicht. Die Vorstellung, in einen peinlichen Streit zu geraten, schreckte mich ab. Solchen Eventualitäten ging ich seit je aus dem Weg. Dabei hätte ich Grund genug gehabt, bei Kurt und Sybille zu läuten. Regelmäßig tönte ihr Ehekrach durch die Wand, dumpfe oder schrille Vorhaltungen, die in lautstarken Beleidigungen und Türenschlagen ihren enervierenden Höhepunkt fanden. Wenn ich abends auf dem Balkon saß und Schnaps trank, hörte ich jedes ihrer kränkenden Worte durch das gekippte Fenster hinter der Trennwand. Aber begegnete ich den beiden im Flur, benahmen sie sich mir gegenüber so freundlich, als wären sie ein unbeschwertes, harmonisches Paar. Ich weiß nicht, ob sie jemals auf die Idee kamen, dass ich ihre Streitereien bis ins Detail kannte, und deutete nie etwas an. Wir verhielten uns wie gute Nachbarn und wie ein guter Nachbar nahm ich ihre Einladung an, obwohl ich wenig Lust hatte, einen ganzen Abend unter Fremden zu sein. Außer mit Kurt und Sybille hatte ich noch mit niemand auf dem Stockwerk gesprochen und ich hatte auch nicht vor, es zu tun. Aber stundenlang Partylärm durch die Wand zu ertragen, war keine vielversprechende Alternative.
Der zweite Grund, warum ich die Party annahm, war Sybilles Erscheinung. Sie erinnerte mich, als ich sie zum ersten Mal sah, sofort an meine Exfrau Sonja. Sybilles Haar, ihre Augen, ihre Figur, ihre Größe, alles war Sonja - nur schöner. Aber vielleicht stimmte das nicht und meine Erinnerung machte Sonja unscheinbarer und gewöhnlicher, als sie in Wirklichkeit war. Schließlich hatte sie mich für einen anderen verlassen, ich hatte also keinen Grund, gut von ihr zu denken. Jedenfalls erschien mir Sybille wie eine aufpolierte Wiedergängerin meiner geschiedenen Frau. Womöglich war auch das ein Grund, warum ich Kurt und sie gewähren und herumtoben ließ, ohne mich zu beschweren, weil ich mir vorstellte, Sonja könnte mit ihrem neuen Mann das Gleiche erleiden. In meiner Fantasie genoss ich Sybilles Probleme als Strafe für Sonja. Sah ich Sybille jedoch auf dem Flur, hatte ich deshalb ein schlechtes Gewissen und plauderte ein wenig mit ihr. Mein Hass auf Sonja wich dann, als begegnete ich einem schöneren Double der Frau, mit der ich einmal verheiratet war, einer Zuneigung für Sybille, in der ich meine Vergangenheit wiedererkannte.
Beinahe war ich erregt, als sie in ihrem weißen Kleid die Tür öffnete und mich hereinbat. Sie lächelte so gut gelaunt, dass ich mich fragte, wie dieselbe Frau hinter meiner Wohnzimmerwand wie eine Verrückte herumschreien konnte; und ich dachte an Kurts Erwähnung, wie Frau Sonntags Tod Sybille aufgewühlt hatte. Davon war nichts zu spüren; oder Sybille konnte ihre wahren Gefühle gut überspielen - was immer das war, ihre wahren Gefühle. Ich dachte auch wieder an Sonja, die ich hasste und in Gestalt von Sybille neu zu mögen begann. Dann begrüßte ich Kurt, der nicht antwortete. Stattdessen verzog er den Mund, als wollte er sagen: Was machen wir hier? Ich lächelte ihm aufmunternd zu, obwohl ich sein Schweigen unfreundlich fand, und zuckte mit den Schultern, um ihm anzudeuten: Mach dir nichts draus. Aber Sybille umfasste schon meinen Arm und zog mich von Kurt weg, als wäre es ein großer Fehler, sich um ihn zu kümmern. „Du willst bestimmt einen Whisky“, rief sie vergnügt.
Ich schreibe das auf, weil die Polizei mich noch nicht, wie angekündigt, als Zeuge vorgeladen hat. Seit dem Tag von Sybilles Tod habe ich den Inspektor nicht mehr gesehen. Auch die Mails, die ich Blue Guide geschickt habe, sind nicht beantwortet worden. Ich kann nichts beweisen, aber ich habe, wie Frau Sonntags Mutter, einen klaren Verdacht. Nicht alles, was ich beobachtet und worüber ich nachgedacht habe, kann zufällig sein. Wenn sich endlich jemand meldet, um meine Meinung zu hören, werde ich mich mit Hilfe meiner Notizen an alles erinnern.
„Was für ein Ausblick, nicht wahr?“
Ein Hausbewohner versuchte ein Gespräch mit mir zu beginnen. Die Sonne war untergegangen, die Ebene lag in trübem Licht vor uns. Ich drehte mich um, einer der Nachbarn stand in der Balkontür. Seinen Vornamen weiß ich nicht mehr, ich bin schlecht darin, mir Namen zu merken. Vielleicht liegt das an meiner Gleichgültigkeit. Ich prostete ihm mit meinem Whisky-Glas zu, weil mir keine Antwort einfiel. Vom vierzehnten Stock konnte man bis zum Horizont sehen, aber da war nichts, was ein wirklicher Ausblick sein sollte. Stattdessen blickte man auf eine einsame Landschaft, erst weit hinten ahnte man ein paar Häuser der Stadt. Wenn die Untersuchungen von Blue Guide erfolgreich waren, würde hier ein moderner Vorort entstehen.
„Ist es nicht seltsam“, fragte ich den Mann neben mir, „dass die ersten Mind-Reader-Häuser Hochhäuser sind, die wie Sozialbauten aussehen? Schließlich werden die Wohnungen später sehr hochpreisig sein. Nichts, was man sich mit einem kleinen Einkommen leistet.“
„Stimmt. Ich habe mich auch darüber gewundert, als ich die Werbemappen mit den Fotos bekam. Später habe ich den Makler gefragt. Er hat mir erklärt, dass Blue Guide für alle Genehmigungen eine möglichst große Datenmenge benötigt. In den fünfzehn Stockwerken wohnen über hundert Parteien.“
„Ja, natürlich.“ Ich wusste nicht weiter.
„Die anderen Häuser werden niedriger sein. Luxusvillen und so; und wenn es erst einen Bahnanschluss gibt, ist man in einer halben Stunde in Hamburg. - Auf der A24 steht man ständig im Stau. Das nervt mich total.“
„Ja. Und im Winter fehlte eine Garage. Jeden Morgen musste ich das Eis von den Scheiben kratzen.“
„Das ging mir auch so. Aber für eine Tiefgarage wäre eben kein Platz. Die unterirdischen Anlagen sollen sehr weitläufig sein.“
„Natürlich, ich weiß. - Entschuldigung, ich habe vergessen, Sybille etwas zu sagen.“
Ich ließ den Mann stehen und ging zu Sybille hinüber, die eine Freundin begrüßte. Ich nickte den beiden zu, gab der Freundin die Hand und stellte mich vor. Dann ging ich weiter und setzte mich auf das Sofa.
Im Gegensatz zu den meisten Leuten im Haus habe ich kein besonderes Interesse am Computer-Fortschritt. Ich bin letztes Jahr nur eingezogen, weil ich nach meiner Scheidung von Sonja kaum Geld übrig hatte, um vernünftig zu wohnen. Mein Apartment in Hamburg war so winzig und schäbig, dass der halbwegs bezahlbare Mietpreis immer noch unverschämt hoch war. Sonst hätte ich mich nie für Blue Guide als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt. Aber als ich im Internet las, wie günstig man dafür eine Wohnung bekam, nahm ich das Angebot an.
Der Blue Guide Mind Reader wird bis 2060 Standard in jedem Neubau sein, sagt man. Die bisherigen Reihenversuche waren ohne Zwischenfälle gelungen. Alles würde wunderbar sein; und noch billiger bekam man die Wohnung, wenn man sich den Chip und den Sensor unter der Kopfhaut einpflanzen ließ. Das ist absolut risikolos, sagte mein Makler. Außerdem überwache Blue Guide alle Hirnaktivitäten und schalte den Chip bei der geringsten Unregelmäßigkeit ab; und natürlich gebe es ein fristloses Widerspruchsrecht. In kürzester Zeit werde der Chip dann entfernt.
Also sagte ich zu. Vor dem ambulanten Eingriff war ich nervös, aber nach zwanzig Minuten war alles vorbei. Die Technik ist bestmöglich minimalinvasiv. Die Narbe unter dem Haaransatz war nach einer Woche kaum noch zu sehen. Trotzdem trennt sie die Hausbewohner in zwei verschiedene Lager: in das mit und in das ohne implantierten Chip. Letzteres muss zur Bedienung der Geräte ein Stirnband tragen, unter dem man sofort zu schwitzen beginnt; und die Miete ist höher.
Als ich meine Wohnung im vierzehnten Stock zum ersten Mal nach dem Umzug betrat, begrüßte mich eine freundliche Computerstimme, die mich in den Mind Reader einwies. Selbst für einen Laien wie mich war das einfach. Man musste auf dem Touchscreen, das in die Wohnzimmerwand eingelassen war, ein Passwort eingeben und danach aus den Unterlagen die Identifikationsnummer des Chips, damit nur die entsprechenden Mieter die Geräte in ihrer Wohnung steuern konnten. Anschließend musste man alle Lichtschalter, die Medien, das Küchenzubehör, die Heizung und zuletzt die Wasserhähne manuell aktivieren und dazu einen einfachen Befehl denken. Der Sensor unter der Haut tastet die Ionenströme im Hirn ab und verknüpft das Signal mit der Bedienung der Technik. Dafür war es wichtig, sich die Befehle wörtlich zu merken, zum Beispiel „Licht an“ oder „Internet aus“, und sie einige Male zu wiederholen, damit der Sensor die Gedanken wiedererkannte, die im Hirn nicht immer identisch repräsentiert sind. Nach einigen Minuten genügte es zu denken: „Wasser in Küche an“, und der Hahn über dem Spülbecken öffnete sich. Man musste sich nur noch daran gewöhnen, nicht mehr nach der Bedienung zu greifen, und man war vollständig kompatibel mit seiner Wohnung.
Blue Guide Deutschland behauptet, der Mind Reader sei so weit ausgereift, dass man sofort mit der serienmäßigen Produktion anfangen könnte. Die Tests in den Hochhäusern (neben dem bei Hamburg gibt es noch weitere bei Berlin, Frankfurt und München) wären nur aus juristischen Gründen notwendig. Denn während der Mind Reader in Frankreich und Skandinavien schon verbreitet wird (zumindest unter den Reichen), wartet man in Deutschland noch auf die Genehmigung des Ministeriums für Wohnungsbau und Digitaltechnik. Die Aufzeichnung aller Daten, die Blue Guide in den Hochhäusern vornimmt, wird von staatlichen Sicherheitskommissaren überwacht. Sollte es innerhalb von achtzehn Monaten keinen Zwischenfall geben (beziehungsweise keinen inakzeptablen), werden die Bagger anrollen und man wird mit dem Bau ganzer Mind-Reader-Viertel beginnen.
Von Kleinigkeiten abgesehen war bisher nichts geschehen. Was mich betrifft, musste nur die Mikrowelle ausgetauscht werden, weil ihr Empfang gestört war. Einmal stürzte der Server ab und war für eine Stunde außer Betrieb, aber für das Genehmigungsverfahren stellt so etwas kein Hindernis dar. (Das World Wide Web gibt es bald sechzig Jahre und noch immer sind die Server störungsanfällig. Trotzdem würde das Internet niemand verbieten.) Bedenklicher war, dass sich einige Mieter über Kopfschmerzen beklagten, die sie auf den Mind Reader zurückführten. Medizinische Untersuchungen konnten jedoch keinen Zusammenhang herstellen. Die Beschwerden träten unabhängig von der Technik auf oder seien schlimmstenfalls psychosomatisch. Das heißt, Benutzer, die gegenüber dem Mind Reader skeptisch eingestellt sind, könnten dadurch eine Art Migräne-Aura erzeugen. Weshalb Blue-Guide-Skeptiker in unserem Haus wohnen sollten, blieb dabei unklar. Andererseits bin auch ich nicht hier, weil ich ein Computer-Freak bin.
Nachrichten über den Stand des Experiments verschickt Blue Guide via Mail an die Mieter. Alles läuft gut. Die Presse soll erst am Ende der Tests in die Details eingeweiht werden. Der Mietvertrag enthält eine Klausel, die jeden Kontakt zu Journalisten mit Strafe bedroht.
Die Party entwickelte sich. Man trank, kam sich näher, man lachte. Fast jeder trug die winzige Narbe auf seiner Stirn. Kurts Bar war mit allem ausgestattet, was ich mir wünschte. Während die anderen ihre Zukunft planten (niemand wollte mehr auf die Mind-Reader-Annehmlichkeiten verzichten, alle nahmen sich vor, nächstes Jahr unter großzügigen Sonderkonditionen für Versuchsteilnehmer ein Blue-Guide-Haus zu erwerben), goss ich mir einen neuen Single Malt ein. Mein Alkoholkonsum war ein Scheidungsgrund für Sonja gewesen. Meiner Meinung nach war das aber ein Vorwand, um sich ihrem neuen Freund in die Arme zu werfen. So, wie ich mich erinnere, trank ich vor der Scheidung weniger als heute. Wenn ich jetzt nachts im Bett lag und dem Geschrei von Kurt und Sybille zuhörte, war Schnaps die beste Beruhigung. Ich fiel, wenn ich genug getrunken hatte, für ein paar Stunden in so tiefen Schlaf, dass mich nicht einmal eine Abrissbirne, die durch die Wand knallte, aufgeweckt hätte. Zugegeben, meine Flaschen leerten sich, seitdem ich hier wohnte, zunehmend schnell. Ich wollte Blue Guide sogar eine Mail schreiben, ob dies mit dem Mind Reader zu tun haben und der Chip in meinem Kopf Suchtverhalten hervorrufen könnte. Aber ich ließ es. Ich wollte nicht wie ein Alkoholiker dastehen; und was wäre die Antwort gewesen? Man hätte, wie bei den Kopfschmerzen, keine Verbindung gesehen. Sicher, es gibt die Wohnungsbaukommissare, aber die Versuchsreihe erscheint mir inzwischen doch sehr intransparent. Blue Guide würde nie den Erfolg seines Vorhabens gefährden und freiwillig Fehler zugeben; und schützen uns die Kommissare wirklich vor Missbrauch? Warum meldet sich niemand bei mir?
Eben habe ich meine Notizen noch einmal gelesen. Sie sind länger als anfangs geplant, aber sie helfen mir, meinen Befürchtungen nicht zu misstrauen.
Nach Mitternacht hatte der Alkoholpegel alle Tanzhemmungen (außer bei mir) von dannen gespült. Sogar Kurt hatte bessere Laune und drehte über den Mind Reader die Lautstärke hoch. Beim neuesten Hit von Snadge sangen einige mit, dann dröhnten die Bässe von dogbitch.reloaded, gefolgt von Katy Perry II. Aber kaum hatten die Intros begonnen und die Tänzer sich den Rhythmus zu eigen gemacht, begann ein anderer Track. Bald standen die meisten unschlüssig da. Ein paar verließen die Tanzfläche, die leer geräumte Wohnzimmermitte, und setzten sich, sichtlich betrunken, an der Wand auf den Boden. Einer pfiff durch die Finger und rief: „Einigt euch mal.“ Bissig lachten alle, die wussten, wo das Problem lag: Natürlich wurde auch die Musikauswahl über den Mind Reader geregelt. Doch wenn der Benutzer den aktuellen Song hörte, fiel ihm oft ein anderer, ähnlicher ein. Dies war eine Schwachstelle der Software: Der Sensor extrahierte den neuen Titel aus den Gedanken des Users und startete ihn. Dadurch wurde es beinahe unmöglich, ein Lied zu Ende zu hören.
Später wurde mir klar, dass es diesmal anders sein musste. Eine Assoziation von Dogbitch zu Perry II. war wenig wahrscheinlich, dafür waren die Tracks zu verschieden. Offenbar stritten Kurt und Sybille über den Soundmaker um die besseren Hits. Auf eine halbe Minute harter Jungle-Beats folgte unvermittelt Katys computermoduliertes Kindergewimmer, dann kam das berühmte Body-Switch-Thema von den Olympischen Spielen 2040 und dann wieder Dogbitch und Katy.
„Scheiße, Sybille“, rief Kurt, „halt dich da raus.“ Ich schaute aus meinem Whisky-Glas hoch. Sybille hielt Kurt den ausgestreckten Mittelfinger hin und zischte: „Du Pisser.“ Mir fiel Sonja ein, wie sie mich beschimpfte. Vor all den Leuten wollte ich keinen Ehestreit sehen. Ich erhob mich aus dem niedrigen Sofa, um im Notfall dazwischenzugehen. Was Sybille noch sagte, verstand man nicht mehr. Kurt drehte die Musik lauter und schaltete auf Dogbitch zurück. Seine Frau gab es auf und ließ sich auf das Sofa fallen, das ich eben freigemacht hatte. Die meisten taten, als wäre nichts weiter geschehen, und übergingen die Szene mit verbissenem Tanz. Einzelne saßen noch verlegen am Rand, bis Sybille ihnen zurief: „Tanzt doch, ihr Säcke.“ Sie erhob sich schwankend und zog jemand an sich. Zornig packte sie ihn an den Hüften und drehte sich um ihn. Das ging eine Weile, bis sie sich an seine Schulter anlehnte. Sybille war ziemlich betrunken.
Dann wechselte wieder der Track. Die Leute stöhnten und blieben abwartend stehen. Ich kannte das Lied nicht. Es war ein Oldie von 2009, den ich später im Internet fand. Nach einem langsamen Gitarrensolo sang eine Männerstimme: „I killed myself today.“ Sybille spürte alle Blicke auf sich und hob den Kopf von der Schulter des Typen.
„Das war ich nicht“, sagte sie, „ich kenn´ das Lied nicht.“
„Wer denn sonst?“, schimpfte Kurt.
„Ich war das nicht“, wiederholte Sybille.
Kurt schaltete die Lautsprecher aus und rief: „Vergiss es.“
„Ganz schön geschmacklos“, mischte ein Dritter sich ein. Als einer von wenigen war er noch nüchtern.
„Was?“, fragte Sybille.
„Das. Ein Lied über Selbstmord zu spielen. Wo vor einer Woche...“
„Aber ich war es nicht“, beharrte Sybille.
„Wer dann?“
„Wer kennt dieses Lied und hat es auf die Liste gesetzt?“
„So ein Unsinn. Niemand hat Zugang zu einem fremden Soundmaker. Das konnte nur Kurt sein oder Sybille.“
„Ist doch egal.“
Alle begannen durcheinanderzureden. Ich erinnerte mich, was Kurt über seine Frau gesagt hatte, über ihre Stimmung seit Frau Sonntags Selbstmord. Ich ging zu Sybille hinüber und fragte: „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Sie sah mich nur an.
„Kommt, macht wieder Musik“, forderte jemand. Der Nüchterne spottete: „Wahrscheinlich war es Frau Sonntag.“
„Was?“ Sybille war wütend.
„Wahrscheinlich hat Frau Sonntag das Lied ausgewählt, wenn es sonst niemand war.“
„Ja, natürlich, Frau Sonntag hat das Lied ausgewählt“, äffte Sybille ihn nach.
„Du bist betrunken. Sei still“, sagte Kurt.
„Völlig daneben“, betonte der nüchterne Mann.
„Was soll das denn?“, wollte ich wissen. Sybille schaute ins Leere.
„Geh schlafen“, forderte Kurt. Zu mir sagte er: „Die ist hinüber.“ Dann rief er in die Menge: „Los, die Party geht weiter“, als hätte er sie gewollt und müsste den Abend nun retten. Niemand reagierte auf ihn.
„Wieso soll es geschmacklos sein, eine Party zu feiern?“, fragte Sybille den nüchternen Mann. „Sie wissen doch nichts von Susanne.“ Bis eben hatte sie alle geduzt.
„Aber du!“, höhnte der Mann.
„Warum soll man nicht feiern, wenn jemand tot ist? Und wenn er nicht tot ist, was dann? Ist das nicht ein Grund, glücklich zu sein?“
„Frau Sonntag ist ganz bestimmt tot. Ihre Mutter hat sie verblutet in der Wanne gefunden.“
„Hör auf!“, meinte die Frau neben ihm.
„Ein Handgelenk war so tief zerschnitten, dass fast -“
„Dann ist eben ein Teil von ihr tot“, unterbrach ihn Sybille. „Und warum sagen alle Frau Sonntag zu ihr? Sie heißt Susanne.“
„Wie gesagt, der Schnitt war so tief -“
„Und was ist mit den Seelen?“
„Mit was?“
„Sybille, sei still“, knurrte Kurt.
Der Nüchterne fragte ironisch: „Von welchen Seelen redet die denn?“
„Sie wissen nichts von den Seelen in jedem? Das sieht Ihnen ähnlich.“ Alle schauten sie an. Sybille erklärte: „Jeder Mensch hat so viele Seelen. Blue Church verbreitet nur Unsinn.“
„Wie kommst du denn darauf?“, wollte ich wissen.
„Lass mich mal, Tom. Ein Körper, eine Seele, denkt jeder. Aber warum? - Ein Monat, ein Tag. Ein Haus und ein Fenster? Das ist doch Schwachsinn.“
„Und was hat das mit Frau Sonntag zu tun?“
„Ich meine jetzt alle. - Glaubt ihr an die unsterbliche Seele? Genauso dumm oder klug ist es, an zahllose Seelen in jedem zu glauben. Wie sollte man sonst einen anderen lieben und gleichzeitig verabscheuen können?“
Sybille sah Kurt an. Sie war nicht mehr so betrunken wie eben.
„Warum soll man nicht feiern und traurig sein können? Warum nicht tot und lebendig? Was weiß man vom Tod? Ist Susannes Seele mit dem Körper gestorben? Oder schon vorher? Und ist man ein Dummkopf, wenn man überhaupt glaubt? Man ist so eingesperrt in seinem Körper und der Geist ist so unfrei. Das haben die Leute auseinander gemacht: Sklaven ihres gefangenen Geists.“
Kurt starrte seine Frau ungläubig an. Er fragte sich, wer aus ihr sprach. Ich sah ihm an, dass er Sybille nicht wiedererkannte. Ihre Stimme war völlig verändert.
„Und wenn ich viele Seelen hätte, wenn ich jung bin und alt bin, verheiratet bin und allein, wenn ich auch der bin, der mich geheiratet hat, dann... - Dann liefen wir durch ein begehbares Meer.“
„Schwachsinn“, sagte Kurt, der in großer Unruhe war, und schaute von Sybille zu den Gästen hinüber. „Wenn Gott das hört, wird er sich im Grabe umdrehen.“ Niemand wusste, ob das als Witz gemeint war.
Als hätte sie sich vor allen entblößt und müsste sich unendlich schämen, drehte Sybille sich urplötzlich um und lief aus dem Zimmer. Durch die Stille hörte man, wie sie sich aufs Bett warf.
„Willst du nicht zu ihr gehen?“, fragte ich Kurt.
„Die beruhigt sich schon wieder.“ Er griff sich an die Nase. „Tut mir leid, Leute! Will noch jemand was trinken? - Schaut nicht so blöd und amüsiert euch.“ Mit dem Mind Reader schaltete Kurt die Musik wieder ein: Dogbitch, was offenbar seine Lieblingsband war.
Die Leute begannen zu tanzen. Ich schenkte einen Whisky nach und ging auf den Balkon. In der kühlen Luft merkte ich, wie ich schwitzte. Nach dem Gedränge im Zimmer tat mir der Blick zum Horizont gut. Blaues Mondlicht lag auf der Landschaft. Ich fröstelte und nahm einen Schluck. Hinter der Trennwand lag meine Wohnung. Am liebsten wäre ich drüben gewesen und hätte seit Stunden geschlafen. Von einem Moment auf den anderen war Sybille völlig verändert. Der Gedanke daran beunruhigte mich. Ich zog die Balkontüre zu. Wie konnten die Leute jetzt feiern? Nahmen sie einfach hin, was gerade passiert war? Oder war ich überspannt und deutete in die Rede einer Betrunkenen ein Geheimnis hinein, das es nicht gab? Erschöpft setzte ich mich auf den Stuhl hinter mir.
Minuten vergingen. Ich schaute zur Betondecke hoch und in den Himmel darüber. Dumpfe Bässe ließen die Balkontür vibrieren. Dann kam jemand heraus. Die Musik wurde lauter, Sybille trat an die Brüstung.
„Hi“, rührte ich mich.
„Ach, du bist es, Tom.“ Sie hatte die Whisky-Flasche dabei. „Willst du noch einen?“ Bevor ich antworten konnte, schenkte sie ein.
Mit dem Rücken zu mir sah sie auf die Landschaft. Von hinten hätte sie Sonja sein können.
„Glaubst du das wirklich?“, fragte ich nach einer Weile. „Dass ein Mensch aus vielen Seelen besteht?“
Sie schwieg erst. „Das klingt seltsam: Aus vielen Seelen besteht.“
„Wie würdest du es ausdrücken?“
„Ein andermal, Tom.“
„Wirklich, mich interessiert, was du gesagt hast.“
Sybille drehte sich um und fragte: „Was habe ich denn gesagt?“
Ich war irritiert. „Machst du Witze?“ Sie schwieg. „Du weißt es nicht mehr?“
„Doch. Dass eine Seele nicht genügt, um sich selbst zu verstehen. Es ist nur... - Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, Tom.“
„Du warst plötzlich ganz anders.“
Sie lächelte. „Dann habe ich offenbar Recht.“ Da ich sie nicht verstand, fügte Sybille hinzu: „Dann war das eine andere Seele in mir.“
„Meinst du das ernst? Wie kommst du auf so was?“
„Bitte, Tom. Nicht jetzt. Es ist spät, ich bin müde.“
Ich ließ nicht locker: „Wie meintest du das mit dem begehbaren Meer?“
„Ich weiß nicht. Was sagte ich denn?“
„Dass du in einem begehbaren Meer lebst - oder so ähnlich.“
„Ja, du hast Recht.“ Sie zögerte. „Ach Tom, ich bin müde.“
Ich gab es auf und trank einen Schluck. Sybille schenkte mir nach und trank auch. Ich sagte: „Du erinnerst mich an meine Exfrau. Wusstest du das?“
Sie lächelte. „Nein.“ Dann kniete sie sich hin, nahm meine Hand und schlug vor: „Wollen wir uns bald einmal treffen? Ich möchte dir von mir erzählen.“
„Natürlich.“ „Wirklich?“ „Versprochen.“
„Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Seit Susanne tot ist, kann ich an nichts anderes denken. Ihr Selbstmord verfolgt mich, dabei weiß ich gar nichts von ihr. Ich möchte ihre Mutter anrufen und alles über Susanne erfahren. Gleichzeitig habe ich Angst, es wirklich zu tun. Dann wird mir alles ganz gleich. Als wäre ich nicht mehr ich, sondern sie.“
In diesem Moment ging die Musik aus. Sybille stand auf und schaute durchs Fenster.
„Eine andere Seele?“, fragte ich hilflos.
„Vielleicht. Lass uns morgen weiterreden. Okay?“
Ich nickte. Sybille griff nach dem Türknauf. „Die Gäste werden bald gehen. Ich will noch mit Anne reden, mit meiner Freundin. Ich schäme mich vor ihr. Sie muss denken, ich spinne.“
„Wenn es eine gute Freundin ist, wird sie das nicht.“
Sybille lachte ungläubig. „Soll ich dir die Flasche dalassen?“
„Ja, bitte.“
Sie ging hinein und ließ mich im Zwielicht zurück. Ich trank und sah in den Himmel. Vermutlich hatte ich an dem Abend eine ganze Flasche Whisky geleert. Über diesen Gedanken fiel mir der Mind Reader ein: Ob der Chip in meinen Kopf schuld an meinem Alkoholkonsum war? Zum ersten Mal fragte ich mich, ob Sybilles seltsame Reden nicht von ihr selbst kamen, sondern vom Mind Reader gesteuert sein könnten. Wenn wir uns wiedersahen, wollte ich das mit ihr besprechen. Ich ahnte nicht, dass es nie dazu kam.
Irgendwann schlief ich ein, von zu viel Whisky betäubt. Was dann geschah, habe ich niemals erfahren. Niemand wollte mir davon erzählen. Jeder, der dabei war, sah mich auf meine Frage hin an, als gäbe es keine Antwort.
Als ich von Kurt aufgeweckt wurde, stand Sybille vor mir auf dem Tisch. Warum ich sie nicht packte und festhielt und warum sich auch sonst niemand rührte, um Sybille zu retten, kann ich nicht sagen. Zeit genug hätte jeder gehabt. Jetzt durchschreitet sie ihr begehbares Meer, in der Tiefe der zahllosen Seelen. Oder hat der Mind Reader Schuld? Beginnt er, wie ich befürchte, uns zu manipulieren?
Kann es sich bei vielen Zufällen noch um Zufälle handeln? Der Oldie, den niemand kannte, Sybilles Besessenheit von Susannes Selbstmord, die seltsamen Worte vor ihrem Tod? Warum griff niemand ein, um Sybilles zu retten? Welchen Schluss lässt das zu? Und falls der Mind Reader damit zu tun hat - wie beeinflusst er uns? Doch es erscheint kein Ermittler, um mit mir zu reden.
Während die Polizei nach Sybilles Tod jeden Zeugen einzeln vernahm, kam Frau Sonntags Mutter dazu. Sie hatte die Leiche auf dem Parkplatz gesehen und war außer sich geraten vor Wut und Verzweiflung. Kaum hatte sie den Aufzug verlassen, schrie sie: „Ich wusste, es wird wieder passieren.“ Ein Polizist hielt sie an der Wohnungstür auf.
„Susanne hat sich nicht getötet“, rief sie uns zu, „das war der Chip, der ist das gewesen. Susanne war glücklich. Sie wollte leben...“
„Bitte beruhigen Sie sich“, verlangte ein Polizist. Kurt, ich und die anderen sahen über die Diele hinaus auf den Flur. Jemand erklärte der Polizei, wer Frau Sonntag war. Susannes Mutter war klein, weißhaarig, hatte Ringe unter Augen und trug einen Pyjama. Sie versuchte sich an dem Polizisten vorbei zu drängen und zu uns zu gelangen. Der Beamte ließ sie nicht durch.
„Glauben Sie mir! Der Mind Reader hat das mit Susanne gemacht. Und jetzt mit der anderen Frau. Susanne...“
„Frau Sonntag, seien Sie still.“ Ein Inspektor ging zu ihr und fragte: „Haben Sie Beweise für das, was Sie sagen?“
„Susanne war vorher ganz anders. Sie...“ Weiter kam sie nicht. Sie begann laut zu weinen. Der Inspektor nickte dem Polizisten zu, der die Verzweifelte am Arm nahm und den Flur hinabführte. „Susanne, Susanne“, hörten wir, bevor die Fahrstuhltür aufging und Frau Sonntag mit ihrem Begleiter verschwand.
Unvermittelt begannen in Kurts Wohnung alle durcheinanderzureden. Der Inspektor rief: „Ruhe“, aber niemand beachtete ihn. Sagte Frau Sonntag die Wahrheit? Stimmte etwas mit dem Mind Reader nicht? „Ich muss Sie bitten“, begann der Inspektor, dann rief er zum zweiten Mal: „Ruhe!“, und zwar so laut, dass alle zusammenzuckten und Stille eintrat.
Am nächsten Tag erreichte alle Hausbewohner die folgende Mail:
Sehr geehrte Mieterinnen und Mieter,
mit Bestürzung haben wir in kurzer Zeit den zweiten Todesfall in der Wohnanlage (Hamburg II) von Blue Guide erlebt. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen und Freunden der Toten. Wir möchten jedem Einzelnen unser tief empfundenes Mitgefühl ausdrücken und wünschen Ihnen den Trost und die Kraft, um diese schwere Zeit zu überstehen.
Blue Church bietet allen, die das wünschen, kostenlose psychologische oder seelsorgerische Hilfe. Wir werden alles Menschenmögliche für Ihr Wohlergehen und Ihre Sicherheit tun.
Darüber hinaus haben wir zu Kenntnis genommen, dass Zweifel an der Funktionstüchtigkeit des Blue Guide Mind Readers bestehen. Man hat das Programm wiederholt mit den beiden Todesfällen in Verbindung gebracht.
Dazu stellen wir nachdrücklich fest: Eine Überprüfung aller relevanten Vorgänge im Mind-Reader-Netzwerk, die unter strengster Überwachung durch das Sicherheitskommissariat Nord stattfand, hat nicht das geringste Indiz für einen solchen Verdacht ergeben. Wir verstehen, dass es unter dem Eindruck der schrecklichen Vorfälle zu irrationalen Vermutungen kommt. Gleichwohl können wir diese vollständig entkräften.
Sollten Sie dennoch Sorge um Ihre Sicherheit haben, steht Ihnen natürlich frei, Ihren Vertrag mit Blue Guide unter Umgehung der vereinbarten Konditionen zu kündigen.
Für Rückfragen stehen wir gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
i.A. des Vorstands Michael Mayer
Die Mail tat ihre Wirkung: Als ich mit einem Nachbarn sprach, der Sybilles Ende miterlebt hatte, interpretierte dieser Frau Sonntags Vorwürfe als hysterische Reaktion auf den Tod ihrer Tochter. Ich konnte ihm nicht widersprechen. Meine Erinnerungen, was auf der Party passiert war und mir seltsam erschien, waren zu konfus, um daraus einen klaren Verdacht zu entwickeln. Vermutlich war alles Zufall gewesen. Meine Gedanken kreisten um Sybille, wie sie vor mir auf dem Tisch stand und wie sie sich aus der Hocke in den Tod kippen ließ. Ich träumte davon und wachte durchgeschwitzt auf. Eigentlich kannte ich Sybille nicht gut und meine Trauer hätte sich in Grenzen gehalten. Aber dass sie mit mir sprechen wollte und ich nicht wusste, worüber, ließ mich nicht los. Was wollte Sybille mir sagen? Vielleicht hatte sie denselben Verdacht wie Susannes Mutter und ich. Doch die E-Mail von Blue Guide widersprach dem nicht nur, sondern behauptete auch, Gegenbeweise zu haben; und dann waren da die vielen Streitereien zwischen Kurt und Sybille. Wahrscheinlich war sie eine verzweifelte Frau. Ich wollte mit Kurt sprechen, um mehr zu erfahren. Als ich ihm aber auf dem Flur begegnete und mein Mitgefühl ausdrücken wollte, wimmelte er mich kaltschnäuzig ab.
Letzte Nacht war ich im Traum wieder auf dem Balkon. Diesmal war Sybille nicht da, nur Kurt und die anderen. Verwirrt schaute ich über die Brüstung, ob Sybilles Leiche unten in ihrem Blut lag. Aber dort war nichts zu sehen. Ich spürte, wie der Boden unter mir nachgab, und wachte angsterfüllt auf.
Die restliche Nacht lag ich wach. Wo war Sybille geblieben? Ich weinte um sie. Oder weinte ich um mich selbst?
Während ich frühstückte, überlegte ich, ob ich das Angebot von Blue Guide annehmen und den Mietvertrag kündigen sollte. Ich müsste in ein winziges Apartment zurück, aber alles wäre besser, als hier zu verzweifeln. Im Spiegel sah ich fürchterlich aus, übernächtigt, mit geröteten Augen. Einen Moment fragte ich mich, warum ich überhaupt im Spiegel erschien und nicht Sybille, und erschrak über diesen Gedanken. Etwas in mir war durcheinandergeraten. Ich strich die Haare zur Seite und betrachtete die kleine Narbe auf meiner Stirn.
Später läutete ich bei Kurt. Man hört Schritte hinter der Tür, aber niemand öffnete mir. Es drängte mich sehr, mit Kurt über Sybille zu reden. Als ich in meiner Wohnung zurück war, weinte ich wieder. Nachdem ich mich beruhigt hatte, schickte ich Blue Guide meine Mietkündigung. Ich wusste nicht, ob meine Stimmung aus dem Mind Reader kam, und wollte keinen haltlosen Verdacht äußern. Ich wollte nur, dass man mir den Chip aus dem Kopf nimmt.
Seit einer Woche warte ich auf eine Antwort von Blue Guide. Als ich, ungeduldig geworden, die Hauptzentrale anrief, teilte mir eine Computerstimme mit, ich würde mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden. Lounge-Musik setzte ein, aber niemand meldete sich. Ich habe ein dutzend Mal angerufen. Es war immer dasselbe.
Am Abend fuhr ich mit dem Aufzug ins Untergeschoss. Ich suchte nach einer Tür, hinter der sich die Beobachtungsräume von Blue Guide befanden (Kellerabteile hatten wir nicht). Ein dumpfes, beinahe unhörbares Brummen lag in der Luft. Das war alles. Auf jeder Seite gelangte ich an eine Betonwand ohne weiteren Durchgang. Meine Hilflosigkeit vermischte sich mit wachsender Wut. Ich unterdrückte den Impuls, mit dem Kopf an die Wand zu schlagen, um den Mind Reader in mir zu zerstören. Vielleicht wäre er nur defekt gewesen statt außer Betrieb. Ich hatte Angst, was das mit mir machte. Gereizt kehrte ich zurück in den vierzehnten Stock. Ich läutete wieder bei Kurt. Wie immer öffnete niemand.
Dann nahm ich mir vor, zur Blue-Guide-Zentrale zu fahren. Man würde mich dort nicht abweisen können; und zur Polizei wollte ich auch gehen, wenn sie nicht zu mir kam. Aber als ich ins Auto stieg, begann ich so heftig zu zittern, dass ich nicht losfahren konnte. Nur ein paar Meter entfernt war Sybille gestorben. Ich starrte auf den Parkplatz, als läge dort ihre Leiche. Jäh platzte die Sonne zwischen den Wolken hervor. Die Schlieren auf der Frontscheibe verschwammen in blassgelbem Licht. Ich verschob die Fahrt in die Stadt auf einen anderen Tag. Das Zittern in meinem Körper ließ nach.
Tom stand vor dem Spiegel und sah sich unverwandt an. Wie kam er hierher? In Wahrheit war der Spiegel bestimmt eine Leinwand, die Toms Körper zeigte, denn er konnte nicht er sein. Er schaute an sich herab, sah seine Arme, die Brust, den Bauch und die Beine und wunderte sich. Womöglich war das Spiegelbild er und die Wirklichkeit lag auf der anderen Seite.
Mit Erschrecken habe ich eben gelesen, dass ich, ohne es zu bemerken, letzte Nacht von mir in der dritten Person schrieb. Ich hatte mich lange im Spiegel betrachtet und an Sybille gedacht, wie sie vor mir auf dem Tisch stand. Die Erinnerung, wie sie aus dem Leben herausfiel, ließ mich erschaudern. Dass Sybille nicht im Spiegel erschien, erklärte ich mit ihrem Tod. Aber warum sollte Sybille mein Spiegelbild sein? Ich war doch ich. Dann ging ich zum Schreibtisch, um aufzuschreiben, was in mir vorging.
Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann das verstehen. Die vielen Seelen, von denen Sybille erzählt hat.
- Ich weiß nicht weiter. Mir fehlen die Worte dafür.
Tom stand vor dem Spiegel und betrachtete sich. Er sah Sybille, ihren Haarknoten, die blonde Strähne, die ihr ins Gesicht hing, das weiße Kleid und die blassen Beine. Aus dem Spiegel heraus verfolgte sie, wie Tom sich bewegte. Er schob die Haarsträhne hinter ein Ohr; es rutschte zurück vor sein Auge. Dabei war ihm, als hätte Sybille sich überhaupt nicht bewegt.
Später trat sie zur Seite. Das Wohnzimmer, in dem der Spiegel hing, war mit einem Mal leer.
Vergesst mich nicht. Bitte!
Ich läutete. Nichts passierte. Ich läutete wieder. Dann hämmerte ich mit der Faust an die Tür. „Mach auf, Kurt“, rief ich, „ich bin es, Sybille.“
Kurt riss die Tür auf und starrte mich an.
„Spinnst du? Willst du mich verarschen?“, rief er.
Ich versuchte ihn zu umarmen. Er stieß mich zurück.
„Aber Kurt? Was ist mit dir, Kurt?“
Kurt schlug die Tür zu. Ich stand hilflos im Flur. Es wäre dunkel gewesen, wäre nicht durch die offene Nachbartür ein Spalt Licht auf den Boden gefallen. Ich betrat die Wohnung und schaute mich um. Niemand war hier.
Eben habe ich diese Notizen gelesen. Ich nehme an, es sind meine, aber ich weiß nichts davon. Einen Tom kenne ich nicht.
Ich habe furchtbares Kopfweh. Ich werde auf den Balkon gehen.
Die Seelen. Ich habe die Seelen gesehen.