Begegnung
Eriks Glieder waren in sich zusammengesackt.Es schien als hielten unsichtbare Fäden seinen Körper aufrecht und dirigierten ihn über den dämmrigen Korridor. Die Tür des 13. Zimmers öffnete sich, als hätte sie grad auf ihn gewartet, von selbst. Da stand sie – ein zierliches Mädchen und doch ging Kraft und Größe von ihr aus. Wie eine sagenhafte Prinzessin aus einer fantastischen Welt wirkte sie. Kindlich – aber von fernen Wissen erfüllt. Das nachtschwarze Haar umspielte ihre Silhouette und tanzte einen zaghaften Tanz im Wind, der durch das geöffnete Fenster drang.Sie stand da und doch schien es als sei sie unendlich fern. Als Erik näher kam, sah er, dass das einzige, was dieses Mädchen trug, der Mantel aus milden Licht war, in dem sie die Himmelswächter hüllten, die durch das Fenster hereintraten. Zu seiner eigenen Verwunderung wunderte ihn dieser bloße Anblick der fernen Prinzessin nicht. So als habe er dies Bild schon irgendwo einmal gesehen. Mit dem Rücken stand sie zu ihm und doch sah- nein er spürte vielmehr, dass sie lächelte. Wie ein warmer Lufthauch zog ihr Lächeln durch den Raum und streifte sacht Eriks Wange. Da fiel ihm die Angst vom Leib und das Herz begann zu brennen.
Dieses Gefühl rauschte vom Herzen aus durch seinen ganzen Körper. Ein Gefühl an der Grenze zwischen unendlichen Schmerz und absoluter Glückseeligkeit. Im einem Moment glaubte er der Schmerz überwiege und seine Stimme setzte reflexartig zu einem entsetzlichen Schrei an. Doch im nächsten Moment flutete eine Welle des reinsten Glücks durch seinen Körper. Ein Glück, das er noch nie zuvor hatte empfunden oder sich je hätte träumen lassen, dass es dies überhaupt gibt. Wie wenn grenzenlose Träume in seinen Adern pulsierten. Wie wenn Blütenblätter seine Sinne betäubten. Als wenn endloses Nachtgeflüster in seinen Ohren rauschte. Ja - wie die Sanftheit der ewig dunklen Nacht selbst, die er schon einmal hatte er ahnen können. Nur jetzt um ein solch Vielfaches intensiver, dass ihm die Zahl fehlte, um diesem Gefühl eine Grenze setzen zu können. Es war schier grenzenlos. Er dachte nicht mehr. Er fühlte einzig. Erik wurde von der Gewalt, mit der dieses unglaubliche Gefühl auf ihn hernieder brach, in die Knie gezwungen. Er warf sich der Fremden vor die Füße und heulte haltlos in die Nacht. Es brach aus ihm, wie es im Hochsommer aus den schwangeren Wolken bricht, nachdem die Sonne ihnen wochenlang das Wasser zur Last hinauf getrieben hatte. Plötzlich, ohne Vorwarnung und bar jeder Beherrschung. Was es für Tränen waren, ist schwer zu erklären Er weinte weder aus Trauer noch aus Freude. Es waren vielmehr Tränen seines Herzens, dass so plötzlich in solch unerhörte Bewegung geraten war, dass ihm als Antwort nichts als diese Tränen eingefallen war. Es war schlicht für solch einen Moment nicht ausgerüstet und zeigte nun die stärkste Gefühlsregung, die es zu zeigen im Stande war.
Doch fühlte er sich dieses Augenblickes nicht würdig. Wie gern hätte er gezeigt, was er dort in diesem sagenhaften Augenblick empfundenen hatte. Es zerriss ihm schier das Herz diesem Augenblick so dürftig – ja unwürdig beantwortet, worüber ziehen zu lassen. Verzweiflung schlich ihm ins Herz. Dort warf sie ihre Wurzeln, um mit giftigen Ranken sich ihren Weg hoch in Richtung Kopf zu bahnen und mit aller Gewalt sich um seine Kehle zu schnüren. Sie presste ihm die nun Blut durchzogenen Augäpfel aus ihrer Höhle. Vor seinen Augen verschwamm die Welt. Reflexartig kämpfte Erik gegen das Gefühl an. Warf sich entschlossen und mit aller Kraft gegen die Verzweiflung. Er schnappte so tief es die Kehle zuliess nach dem kostbaren Gas. Doch dann hielt er inne. Was tat er da eigentlich? Das Leben gewährte ihm endlich den ersehnten Frieden. Ohne jede Anstrengung konnte er nun seine heimliche Sehnsucht befriedigen und sich in die sanften Wogen der Ewigkeit werfen. Er hatte schon vor Zeiten die Hoffnung in die Welt verloren – hatte seine Liebe am Leben dem Tode geschenkt. Und was könnte es Schöneres geben, als in Erinnerung an die Welt, das Funkeln reinen Glückes mit zu nehmen? Ja – er war sich sicher. Das Leben wollte sich mit diesem letzten Moment seines Daseins mit ihm versöhnen. Es wollte, dass er das Schönste im Herzen mit in die Ewigkeit nimmt, dass das Leben zu bieten hat. Deswegen hatte es ihn nicht früher gehen lassen!
Mayana wurde von einer Art pfeifenden Krätzen aus dem Mondlicht gerissen. Es dauerte eine Weile bis ihre Augen das öde weiß ihres Krankenzimmers als wahr erkennen wollten. Sie erschrak als sie den Haufen Mensch zu ihren Füßen erblickte. Der Körper des Jungen bäumte sich in unrhythmischen Zuckungen auf und nieder. Mit zittrigen Händen hockte sie sich zu ihm hinunter. Vorsichtig drehte sie seinen Kopf, um in sein Gesicht sehen zu können. Sein Gesicht war tief rot und sie konnte die Hauptschlagader seines Kopfes sehen, wie sie verzweifelt versuchte Leben durch den sterbenden Körper zu pumpen. Auch die Lunge angelte mit aller Entschlossenheit nach einem Halt in der Welt und saugte mit kräftigen Zügen nach dem kostbaren Lebensgas. Doch fiel es ihr von Zug zu Zug schwerer – ihr Ätzen ertönte zu hysterischen Hilfeschreien. Auf einmal erstarb der Kampf und ein mildes Lächeln glitzerte über das Gesicht des Erstickenden. Die Lippen formte so etwas wie: „ Versöhnen wir uns.“ Und dann sackte der Körper ihr stumm in den Schoß. Mayana war wie gelähmt. „Erik!“ hörte sie sich rufen. „Erik –geh nicht!“ Im gleichen Augenblick, in dem sie sprach, wunderte sie sich über ihre Worte. Woher kannte sie diesen Jungen? Sie fand keine Antwort, doch ihr ganzes Fühlen hatte in diesem Augenblick nur diesen einen unbändigen Wunsch – dass dieser Fremde in ihrem Schoss sie nicht verlassen möge.
„Nein – das darf nicht sein!“ flehte ihr Herz, während bittere Tränen von ihrem Gesicht auf ihre nackten Schenkel tropften. Sie hatte nie gelernt, wie man einen Sterbenden von seinem Vorhaben abhalten konnte. Sie war hilflos – haltlos! Es war ihr wie in ihren Kinderträumen – wo sie von Geisterhand gepackt aus einem lächelnden Augenblick in ein kaltes, düsteres Blau geworfen wurde. Ein Blau ohne Boden – durch das sie hinab fiel. Hinab ohne Ziel –ohne Ende. Sie erwachte damals stets von ihrer Mutter geweckt mit Angst erstarrten Augen, die meist für Tage nicht in ihre alte Form zurückfanden. Der Fall war für Mayana schon immer der Inbegriff der Furcht gewesen und sie hatte ihr Leben lang gebetet dies nie außerhalb des Traumes erleben zu müssen. Nun aber fiel sie nach langer Zeit des Friedens erneut und wieder packte sie diese hemmungslose Furcht, wie sie eigentlich nur Kinder im Stande sind zu fühlen. Diesmal fehlte die sanfte Stimme ihrer Frau Mama, die sie mit Kraft ihrer Liebe den Klauen der Angst entriss. So hämmerte die Angst gnadenlos und ungebremst an Mayas kleines Herz. Doch da hatte ihr Herz selbst, dem etwas entgegen zu setzten. Das unbändige Verlangen nach diesem Jungen –Erik. Ohne dass sie ihr Handeln selber verstand, riss sie dem Jungen das Hemd vom Leib und warf sich an seine Brust. Ihre Tränen rannen auf Eriks Gesicht – über seine Lippen. Instinktiv tastete ihre linke Hand nach der Seinen. Die Rechte glitt seine Brust entlang und hielt bei seinem Herzen inne. Ihre Lippen senkten sich zu den Seinen nieder. Sie hoffte inständig er möge ihren Herzenswunsch spüren und erhören.
Dem Frieden so nah, sank Erik in die sanften Federn der Schwingen des dunklen Engels, der nun bereit war ihn in den letzten Schlaf zu geleiten. Die Anstrengung, die eben noch an seiner Seele gezerrt hatte, um ihm am Leben zu halten, wich nun der sanften Umarmung der totalen Entspannung – der letzten und absoluten Entspannung. Die Lippen formten ein dankbares Lächeln, das nun seinerseits dem Leben, die Aussöhnung anbot. Er wollte das Leben nicht mit Hass im Herzen verlassen und streckte die Hand. Auf einmal brannte ihm die Brust, als wütete ein Waldbrand auf ihm. Dieser verlangte mit aller Kraft seine Aufmerksamkeit. Seine Flammen züngelten auch nach seinem Gesicht und rannen wie Lava von den Wangen hinunter zum Kinn. Ein fordernder Griff packte erst die ausgestreckte Hand und umschloss dann sein Herz. Sanft aber bestimmt und fest entschlossen ihn nicht mehr loszulassen. Dann kitzelte es zärtlich über seine Lippen als hätte der erste Flügelschlag eines gerade erst entpuppten Schmetterlings seine Lippen gestreift und seine Lungen füllten sich gegen seinen Willen mit dem frischen Luftzug, den der Flügelschlag dieses Frühlingsboten ihm einflösste. Zögernd öffnete er die Augen und blickte geradewegs in Mayanas verheulte, aber nun auch unglaublich erleichterten Augen. Als er nun endgültig sein Herz an die Fremde verlor, sah er was schöner war als das eigene Glück und sei es noch so rein – so ehrlich gefühlt Das Funkeln ihres Glückes, dass er beim Erwachen erblickte, brannte sich so gleich tief in sein Herz und er fand nie wieder etwas vergleichbar Zauberhaftes.
Wortlos blickten sie einander an. Die Zeit schien still zu stehen. Ihr nackter Körper zitterte über dem Seinen. Erik wusste nicht, ob es Kälte oder Angst war, die sie erzittern liess, aber er verspürte das eindringliche Verlangen es von ihr zu nehmen. So umarmte er sie so behutsam er es vermochte. Teils um es ihr ein wenig schwerer zu machen ihn ohne ein Wort zu verlassen, aber zum größten Teil, um ihr dieses Zittern zu nehmen. Sie musste sich ihm nicht erklären, denn es gäbe keinen Grund, der ihn nicht veranlasst hätte ihr den Schutz seiner Umarmung zu gewähren. Auch fürchtete er sie nach dem Grund zu fragen, weil sein Herz zu sehr bangte dieses Wesen zu verschrecken, auf dass es in die Dunkelheit flüchten würde –fort von ihm. Sie sank ihm erschöpft aber immer noch zitternd in die Arme. Seine Hand streichte ihr zärtlich durch das dunkele Haar und er erfreute sich dabei selbst an dem sanften Kitzeln, das bei der Berührung von seiner Hand aus durch seinen Körper fuhr. Wie ein Katzenjunges schmiegte sie sich vertrauensvoll enger an seinem Leib. Von dort, wo sie seine Haut berührte, trieb sie ihm wallende Hitze in dem Leib, die ihm schier, den Verstand zu rauben drohte. Erik wagte nun kaum mehr zu atmen, schon gar nicht sich in irgendeiner Weise zu bewegen. Zu kostbar schien ihm dieser zerbrechliche Augenblick. Er hoffte die Welt würde anhalten und ihm im Hier und Jetzt auf ewig verweilen lassen. Er überließ sich voll und ganz diesem einen Moment und fühlte in seiner tiefsten Einfachheit – wie ein Kind voller Unschuld und Aufrichtigkeit genoss er ihre Nähe.
Mayanas Atem wurde ruhiger. Das Zittern ließ ab von ihr. Sie entschlief mit einem weichen Lächeln der Behaglichkeit auf ihren Lippen. Erik aber wurde nicht müde die Schlafende einfach nur anzusehen. Wie ihr nachtschwarzes Haar in glänzenden Wogen über ihren Rücken wallte. Wie sanft sich ihre feinporige Haut wie aus blasser Seide an ihren Körper schmiegte. Wie ihre langen Wimpern im Takt ihrer Träume zuckten. Wie vornehm die blasse Narbe ihr rechtes Auge schmückte - fast wie ein Apostroph der gerade auf dieses eine Auge noch einmal höflichst aufmerksam machen wolle. Er sah sich jedes einzelne Haar ihrer akkuraten Brauenbogen an und stellte fest, dass einige Häärchen aus der Nähe betrachtet verschmitzt aus der Reihe tanzten. Sein Blick rutschte von ihren Brauen über den seichten Schwung ihres Nasenrückens und landete auf ihrer Spitze, die sich neugierig nach oben reckte. Ihre Nase hatte einige zierliche Züge, doch im Ganzen betrachtet wirkte sie vorn etwas knubbelig – fast drollig- aber durchaus liebenswert. Erik Lippen spitzten sich ein wenig als er ihre Nase betrachtete und einigen Sekunden rang er mit dem Gedanken sie zu küssen oder wenigstens das drollige Spitzchen mit einer einzigen Fingerspitze nur zu berühren. Aber er widerstand der Versuchung um des Augenblickes willen. Denn für keine Versuchung der Welt war er bereit diesen Augenblick früher als notwendig ziehen zu lassen. Ihm fiel auf, dass die Innenwinkel ihrer Augen in Richtung Nasenspitze deuteten, wo gegen die Außenwinkel auf die Ohrspitzen verwiesen. Sie waren also leicht schräg wie zwei Rutschbahnen zum Nasenrücken geformt. Im Gedanken schwang er sich auf die Spitze ihres linken Ohres, die ungewöhnlich spitz nach oben zulief, so dass er Mühe hatte sich auf ihr halten zu können. Er beugte sich vornüber und stellte zu seiner Belustigung fest, dass sie kein Ohrläppchen besaß. Das was man hätte gerade noch Ohrläppchen nennen dürfen, war mit dem hinteren Teil ihres Kieferknochen verbunden und bildete so mehr eine Einheit mit dem Ohr als einen baumelnden Zipfel wie es eigentlich hätte sein müssen. Er riss sich vom Anblick ihres nur mit Phantasie erahnbaren Ohrläppchens fort und sprang auf den Außenwinkel ihrer Augen. Rutschte mit aufjauchzenden Herzen zur Nase hinunter. Der Schwung warf ihn über die Nasenspitze hinaus und er plumpste geradewegs in die samtigen Kissen ihres Lippenrots – Kirschrot um genau zu sein.
Als er so in ihrem Lächeln auf und ab federte, überkam ihm ein unangenehmer Gedanke, der ihn zu gleich aus seiner Phantasie zurück auf den harten Linoleumboden des Zimmer 13 riss. War er etwa verrückt geworden? Ging er doch tatsächlich in ihrem Gesicht spazieren! Für einige Augenblicke – so musste er sich selbst eingestehen – hätte er schwören können, er wäre tatsächlich auf ihrem Gesicht spazieren gegangen. Auf ihrer Ohrspitze hatte er seine Knie wackeln und zittern gespürt. Als er in die schwindelnde Tiefe zu ihren Ohrläppchen herab geblickt hatte, hatte er da nicht dieses flaue Gefühl im Magen gehabt, das ihm in großen Höhen immer überkommt? Und diesen dumpfen Schmerz der durch sein Gesäß zog als er mit Schwung dem Nasenrücken aufsaß – ja den konnte er doch noch immer spüren! War er nun auf ihrem Gesicht spazieren gegangen? Oder ist es das, was man Halluzinationen nennt? War er denn vollends verrückt geworden? Gefallen hatte es ihn jedenfalls – nein mehr als das. Es schien ihm realer und lebenswerter als jede Realität, die er zuvor erlebt hatte. Was tat dieses Mädchen mit ihm? Oder was tat er wegen ihr? Müde des Denkens sank er zu ihr hinunter. Ließ sich in sein Fühlen zurücksinken und verbannte seine zerstörerischen Gedanken. Wie ein regungsloses Menschenknäuel lagen sie zu Boden des 13ten Zimmers der Nervenheilanstalt St. Petrosus – am Rande der Welt. Sie schlafend in ihm verschränkt. Er wachend um sie geschlungen, in einer Art der Entspannung, die ihm viel tiefer ging als jeder Schlaf, den er je gekostet hatte. Eine Entspannung, die ihm ans Herz griff und seiner Seele Frieden bot. Erik genoss sie – gleich ob Wahn oder Normalität, Phantasie oder Realität , Liebe oder Halluzination – denn sein Herz fühlte aufrichtig und klar –gleich wie man es nennen möge.