Was ist neu

Begegnung wie an jedem Tag

Mitglied
Beitritt
20.04.2002
Beiträge
276

Begegnung wie an jedem Tag

Begegnung wie an jedem Tag

Es mag vielen Leuten seltsam erscheinen, dass ich noch immer zu Fuß gehe. Wo ich doch wahrlich dass Geld hätte, mir alles zu kaufen, was ich mir wünsche. Sogar einen Teleklangspringer oder ein SAAB Mach 5.
Ich nenne sogar beides mein Eigen. Allerdings benutze ich es eher selten, da mir nicht der Sinn nach Beschleunigung steht. Wie heisst es doch so schön in den Versen eines unbekannten Autoren:

Doch Zeit ist ruhig – ganz still – bleibt stehn.
Nur wir, die sich bewegen...
Wozu? Was gibt es sonst zu sehn,
dem Tod eiln wir entgegen...

Außerdem laufe ich gerne und was wäre ich traurig, wen ich nicht die Begegnung des Luftdrachen machen könnte. Jedes Mal aufs Neue.
Dieser Luftikus ist ein ganz ein Guter. Einfaltspinselig entsteht er jedes Mal an der selben Stelle von Neuem und stellt mir immer wieder die selben Fragen, wiewohl er meine Anwesenheit und die der anderen stets zu erkennen vermag.
Denn er entsteht nicht für jedermann.
Nein, nur für Mr. Colin Bottom, Master Michael Leg, Sir Archibald Wounded Arm und für mich:
Sandford Nose.
Mag es an unseren Namen oder unseren wohligen Eigenheiten liegen, ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass die meisten Leute nicht wissen, was sie verpassen, weil sie ihn nicht haben. Und vielleicht ist das auch besser so. Am Ende wäre man uns noch gram. Als ob es unsere Schuld wäre, dass wir ihn nicht loswerden.
Also streune ich wie jeden Tag durch die mageren Industriegassen, bewege mich unter den Decken der Brückenbögen und klettere mühselig an den Wänden der alten Büros hoch, die noch in Benutzung waren, bevor der Teleklang jegliche computerisierte Arbeit ersetzte.
(Denn nichts ist schneller als der Gedanke. Jetzt hasten die Menschen mit ihren sogenannten „Headsets“ durch Raum und Zeit und verweilen nicht länger in der gegenständlichen Gegenwart. Sie treffen sich in „Klangräumen“ und leben in telepathischer Weise alles nach, was sie sich vorstellen können.)
Deswegen ist so vieles hier verwaist.
Und jeden Tag scheint sich die Natur ein Stück mehr zurück zu holen. So wird der Aufgang stets beschwerlicher, denn die konischen Pilze, die an den Außenseiten der Wolkenkratzer kleben, sind feucht und glitschig und nicht essbar. Schon der Geruch lässt mich jedes Mal grün im Gesicht werden.
Doch ich schweife ab.
Denn wie sonst, soll ich meinen kurzlebigen – jedes Mal neu entstehenden - Freund aufsuchen, wenn nicht durch das Überschreiten der Pilze. Und während ihre Kappen noch raschelnd über mir im Seitenwind die Köpfe zusammenstecken und meine Ankunft betuscheln, bin ich schon über sie hinweg und erreiche den Cloudwalk.
Über den Köpfen der Stahlskelette erstreckt sich eine wolkige Weide, auf denen Kühe wolkige Wiesen wiederkäuen, während sie mir listig zublinzeln und mit ihren Skorpionschwänzen genervt ein paar zahnlose Piranhas verscheuchen, die sich an ihrem Euter gütlich tun wollen.
Ich nicke ihnen bescheiden zu und fange voller Ungeduld an zu schleichen, damit ich schneller vorankomme. Und wie aus dem Nichts steht er vor mir. Seine milchigen Augen schauen mich an und sein frisch entstehender Schwanz wirbelt lustig zischend durch die Luft, während er mir den Frack entzwei reißt und mir den Fangdorn in die Achselhöhle setzt, damit er mich besser verstehen kann.
„Nanu“, beginnt er dann wie stets. „Wer bist denn Du?“
„Gestatten, Nose ist mein Name, Sandford Nose...“, entgegne ich höflich und bestimmt wie immer, auch wenn der Dorn herrlich zwickt und ich mein Grinsen kaum zurück zu halten vermag. Aber mein wolkiger Freund ist wie alle Drachen sehr leicht zu erzürnen. Deswegen halte ich mich besser zurück. Es ist zwar ein schönes Gefühl, zerrissen zu werden. Aber wir haben ja noch gar nicht richtig begonnen.
„Schön“, grollt mein alter Freund. „Hab Dich noch nie hier gesehn.“
„Nun...ich komme ja auch eben erst vorbei. Ich wollte einen kleinen Spaziergang machen. Speiende Feuerblumen im Abendnebel betrachten, während die Sonne aufgeht. Auf rennende Weiden setzen, die ihren Zielen entgegenschleichen und mir einen kleinen gebackenen Igel genehmigen. All das, was man als junger Bursche von 387 Jahren halt so macht.“
„Hach“, der Wolkendrache schlägt vergnügt die Augen nieder und gönnt sich eine Traumzeit. Nachdem der Aborigine wieder aus unserem Blickfeld verschwunden ist, schlägt er sie wieder auf und fährt fort:
„Spielende Kinder, was wäre das schön. Könnte man jemals die eigenen sehn. Doch leider, leider – so viele Neider. Wo hab ich jetzt bloß meine Eier stehn?“
Ich könnte ihm ja jetzt entgegnen, dass er sie wahrscheinlich zuhause hat, aber das hatte Colin (Bottom) schon mal gewagt. Daraufhin hatte unser lieber Freund einen Anfall bekommen und ihn zu Asche verbrannt. Drei Tage später hatte Bottom mir davon Bericht erstattet.
Nein, nach Braten ist mir heute einfach nicht.
Also übergehe ich diesen dahingeworfenen Satz, der sich dem Horizont entgegenwindet und dabei fast eines der Wolkenkühe erschlägt, und führe das Gespräch nun meinerseits fort:
„Wie mag es wohl um das Wetter heuer beschieden sein?“
Nun hub der Wolkendrache an...
Wenn es ums Wetter ging, waren Wolkendrachen anscheinend nicht aufzuhalten. Vielleicht, weil sie selbst Bestandteil davon waren. Und so erzählte er mir von den Flauten des Bermudadreiecks, dem Monsunregen in der afrikanischen Wüste und dem Sommerhagel in der Antarktis. Und während noch blitzend und krachend die Blitze in ihn einschlugen, dröhnte seine Stimme lustvoll den Eisblöcken entgegen, die aus dem funkelnden, blauen Himmel schlugen. Er war so in seine Erzählung vertieft, dass sein Fangdorn verrutschte und nicht nur meinen Oberarm durchbohrte, sondern sich, windend und drehend, in meinen Kiefer wickelte.
Lange noch prasselte es auf uns herunter, aber schließlich beruhigte der Drache sich wieder und sah mich an.
Jetzt war es wieder soweit.
So wie jetzt, geschah es immer.
Wir trafen aufeinander, wechselten ein paar Worte und redeten übers Wetter. So wie jedermann es auch auf der Strasse tat. Nun allerdings kamen wir an den heiklen Punkt unserer Erzählung, und ich konnte es fast nicht mehr aushalten vor lauter Spannung.
Ich war durchnässt bis auf die Haut, und während die Regenwürmer im Himmel sabbernd das Wasser in ihre nimmervollen Bäuche schlugen, betrachtete ich abschätzend den Wolkendrachen, dessen Körper jetzt kobaltblau vor Blitzen funkelte, während er seinen roten Rachen aufriss und brüllte:
„WAS WILLST DU?“
Das war er.
Der heikle Punkt.
Bottom, Leg, Wounded Arm und ich waren nur deswegen hier.
Jeden schönen und schlechten Tag.
Eigentlich immer.
Wenn ich jetzt über den Lüneburger Geysir sprach oder über den Ausnahmezustand bei der Extraktion von Milchpastillen aus Kakaopulver, dann würde sich das würdevolle Monstrum wieder beruhigen und vielleicht sogar einschlafen.
Was enttäuschend wäre.
Auch ein Bericht über die undurchsichtigen Schleier der nordamerikanischen Ganternetze oder über das jemenitische Brauchtum des Seidenhäkelns würden ihn nicht erzürnen.
Hingegen...
Wenn man auf Kugelblitze zu sprechen kam oder auf die magyarischen Schwertrituale, dann brach es mit ihm durch und sein Fangdorn würde einen in Stücke reißen. Auch ein paar andere seichte Themen waren dazu angetan.
Aber ich, so wie die anderen auch, war stets auf Neues aus.
Und so fragte ich los.
„Ich will wissen, ob die Subtangente tendenziell durch die derminale Subtraktion von Koeffizienten jeglichen Wertes gegenüber der nagenden Biber am Hooverdamm ein Sonnenbad nehmen können, ohne von ausgefuchsten Wildenten auf den Schwamm genommen zu werden?“
Etwas Unglaubliches geschah.
Der Drache entzündete sich selbst in einem gleißenden Blitz. Seine Haut begann zu kochen, was meinem Kiefer fast einen Gefrierbrand bescherte. Er begann zu wachsen und Hunderte von Blasen zu werfen. All diese Blasen platzten mit einem einzigen Knall auf und heraus strömten Hunderte von Menschen.
Überrascht schlug ich die Augen auf.
DAS war noch nie passiert.
Aus jeder Blase war ein Mensch hervorgesprungen. Und ich kannte jeden einzelnen von ihnen.
Einhundertsiebenundfünfzig Mal sahen mich Bottoms Augenpaare an. Zweihundertsiebzehn Mal die von Leg. Siebenunddreissig Mal die Augen von Wounded Arms – der arme Kerl hatte noch nie viel Zeit übrig.
Und dreihundertvierundachtzig Mal sah ich mir selbst in die Augen.
Wie Enten schnatternd schimpften die Kerlchens aufeinander ein. Jeder hatte eine andere Antwort auf diese Frage. Einige lachten sich halbtot, andere wurden richtig wütend. Wieder andere vertieften sich so in die Diskussion, dass sie einschliefen. Über alledem thronte der riesige Kopf des Drachen, dessen Augen mich lodernd hinter seinem Kamm beäugten.
Mittlerweile schlugen die vielen Figuren wie wild aufeinander ein, weil sie es nicht schafften, sich auf eine Antwort meiner Frage zu einigen. Einige verletzten sich selbst dabei.
Nachdem meine Augen so groß geworden waren, dass sie den Fangdorn an meinem Kiefer berührten, konnte ich nicht anders als in ein gemäßigtes Kichern auszubrechen, dass über die Menge hinwegbrandete.
Sofort wurde es still.
Die Massen drehten sich wie ein Mann um und ich hätte mich beinahe selbst nach mir umgedreht, so verführerisch sah diese Bewegung aus. Doch ich ließ es bleiben, viel zu gespannt, was als Nächstes geschehen würde.
„ER IST SCHULD!“ schrieen sie wie ein Mann. Dann gingen sie auf mich los, stürzten sich auf mich und zerrten an mir. Gruben ihre Kiefer in meine Fleisch und in den Fangdorn, der unwillig ein paar von ihnen zerrieb, bevor er sich zurückzog.
Die meisten von Ihnen wurden schnell vernünftig und zogen sich erschrocken wieder zurück. Aber ausgerechnet die Meinen konnten nicht anders als mich zu einem der Ihren zu machen. Sie fielen über mich her und zerrissen mich Stück für Stück...

Was für eine Begegnung!
Davon muss ich unbedingt Bottom erzählen...
Morgen in drei Tagen!

ENDE

 

Hallo Henry Bienek!

Deine Geschichte setzt ja schon Staub an, so lange mußt Du hier schon warten... mal wegpusten...

So.

Deine Geschichte liest sich gut, interessant und auch ziemlich surrealistisch. Auch, wenn sich mir ein tieferer Sinn nicht direkt erschlossen hat. Fallweise hatte ich zwar einzelne Assoziationen, aber nichts, was sich über die ganze Geschichte erstreckt hätte.
So kam ich vom Innenleben einer Nase - das Gewitter ein kräftiges Niesen vielleicht?, die Schnupfenviren die Menschen, die aus den Blasen kommen? - zur Gesellschaftskritik und wieder ganz woanders hin.

Somit war sie eine kurzweilige Zeitfüllung, die wohl schön zu lesen war, aber nicht nachwirkt.

Ein paar Fehler habe ich gegen Ende der Geschichte entdeckt:

"konnte ich nicht anders als in ein gemäßigtes Kichern auszubrechen, dass über die Menge hinwegbrandete." - das statt dass

"schrieen sie wie ein Mann." - schrien sie

"Gruben ihre Kiefer in meine Fleisch" - mein Fleisch

"Die meisten von Ihnen" - ihnen (klein)

"zu einem der Ihren zu machen" - ihren

Liebe Grüße
Susi

 

Hallo Susi,

vielen Dank für Deine konstruktive Kritik.

Die Fehler sind mir übrigens besonders peinlich, da ich sie nicht gesehen habe und mich bei anderen auch immer darüber aufrege - zumindest, wenn es deutlich zu viele sind.

Deswegen überlese ich meine Texte mormalerweise immer mehrmals, bevor ich sie irgendwo hin sende. Tja, da ist wohl was schief gegangen ;-)

Zum Thema Surreales:
So sehr ich mich auch über die Aufforderung von www.kurzgeschichten.de gefreut hatte, hatte ich allerdings genauso meine Hände über den Kopf geschlagen.

Surreales??? Was soll denn das sein???

Also habe ich erst mal herumgesurft, aber nichts wirklich Herausragendes gefunden, was mich davon überzeugt hätte, dass es wirklich die Surrealität einer Geschichte definiert.

Im Grunde genauso schlau wie vorher, habe ich also versucht, selbst eine Definition zu erarbeiten. Und dabei kam diese Geschichte heraus.

Dabei ist das Thema genauso surreal wie die Geschichte selbst. Ein paar gesetzte Herren, die - zufälligerweise(?) - alle nach Körperteilen benannt sind, haben kein anderes Hobby, als einen Wolkendrachen solange zu reizen, bis er sie auf die verschiedensten Arten und Weisen tötet.

Das ist nicht sehr innovativ, aber ich dachte mir, wenn schon surreal, dann richtig, grins...

Im Grunde habe ich eigentlich nur auf das Ende hingearbeitet und mich beim Schreiben treiben lassen. Ich war am Ende selbst überrascht,was dabei herauskam. Vor allem, weil es viele Möglichkeiten gibt, Sachen hinein zu deuten, die so gar nicht geplant waren.

Sozialkritik, wollte ich mit dieser Geschichte nicht üben, sondern einfach nur mal was Anderes schreiben.

Staubig - weil die Antwort doch etwas trocken war - verabschiede ich mich

Henry Bienek

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom