Begegnung in Kapstadt
„Es geziemt sich nicht für eine Frau allein zu reisen“ hatte mich mein Vater stets gelehrt und so war es selbstverständlich, dass ich jene junge Frau aus dem Kurland, die wie verlassen am großen Hafen von Kapstand stand, unter meine Obhut nahm. Ich hatte gerade einen schweren Gang hinter mir. Zusammen mit meiner Zofe hatte ich meinen Sohn zum Hafen gebracht, wo er ein Schiff bestieg, das ihn nach Aberdeen bringen sollte, wo er, wie sein Vater vor ihm, Jura zu studieren wollte. Auch wenn ich immer wusste, dass dieser Tag des Abschiedes einmal kommen musste, war es für mich als Mutter nicht leicht den Sohn ziehen zu lassen. Vielleicht war auch dies der Grund, warum ich die junge Frau, die kaum älter als mein Sohn war, sofort in mein Herz schloss. Sie sprach mit einem unverkennbar deutschen Akzent, als sie mir erklärte, dass sie weiter nach Stellenbosch müsse, um dort ihren Verlobten zu treffen, einen Missionar, der am Bergriver, einige Kilometer östlich der Stadt, am Fuß des Simonsberg in einer Missionsstation lebte. Der Name des Missionars, den sie mir nannte, war mir unbekannt, aber die Missionsstation kannte ich. Mein Mann hatte sie im Jahr des Herren 1830 mit aufgebaut. So führte ich die junge Deutsche zu meiner Kutsche, meine Zofe nahm bei dem Kutscher auf dem Bock platz, damit die junge Dame in der Kutsche genug Platz hatte sich auszustrecken und von den Strapazen der Reise zu erholen. Ich hatte ihr empfohlen etwas zu schlafen, doch sie war viel zu aufgeregt, jetzt wo sie ihrem Verlobten so nahe war. Auf der Fahrt erfuhr ich mehr von ihrem Leben. Ihr Name war Julie Katharina von Hausmann und sie stammte aus Mitau nahe Riga, das zwar zum russischen Zarenreich gehörte, aber hauptsächlich von Deutschen bewohnt wurde. Ihr Vater war dort Lehrer an einer Oberschule. Den Missionar hatte sie 1843 kennen gelernt, als er dort für wenige Tage seinen Onkel besuchte. Seit diesem Tag schickten die beiden sich Briefe und als Julie im Frühjahr 1847 einundzwanzig Jahre alt wurde, hatte ihr Vater der Verlobung mit dem Missionar zugestimmt und ihr erlaubt ihm nach Südafrika zu folgen. Ich konnte den Schmerz des Vaters, seine Tochter gehen zu lassen, gut nachfühlen, hatte ich doch gerade erst meinen eigenen Sohn in die Ferne ziehen lassen. Als wir den Kuils River überquert hatten zog, Julie vorsichtig einen kleinen Zettel aus der Tasche und erklärte, dass sie ein Gedicht für ihren Verlobten geschrieben hatte. Es soll ihr Hochzeitsversprechen sein. Schüchtern fragte sie, ob sie es mir vorlesen dürfe. Gerne willigte ich ein. Durch den Kontakt mit holländischen und deutschen Farmern verstand ich die deutsche Sprache recht gut und lauschte andächtig ihren Worten.
„So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Bis an mein selig Ende
Und ewiglich.
Ich mag allein nicht gehen,
Nicht einen Schritt;
Wo Du wirst geh’n und stehen,
Da nimm mich mit.“
Als sie geendet hatte, lief mir eine Träne über die Wange. Ihr Verlobter durfte sich glücklich schätzen, so eine Frau gefunden zu haben. Julie war während des Vortrages rot geworden und fragte unsicher, ob ich die Worte für angemessen halte. Ich ergriff ihre Hände und sagte, den Tränen nahe, dass es wunderschöne Worte seien.
Als es Abend wurde, erreichten wir mein Haus. Für die Weiterfahrt zur Missionsstation war es zu spät, darum nahmen mein Mann und ich Julie bei uns auf. Am nächsten Morgen machten wir uns sofort auf den Weg zur Missionsstation. Mein Mann lenkte die Kutsche und ich saß mit Julie in der Kabine und zeigte ihr mein Hochzeitskleid. Ich wollte es ihr schenken, da sie kein Hochzeitskleid, sondern nur einen Schleier aus ihrer Heimat mitbringen konnte. Ein paar kleine Änderungen würde ich noch machen lassen müssen, aber dann so war ich sicher, würde es Julie wunderbar passen. Kurz vor Mittag erreichten wir die Missionsstation. Den Moment des Glücks wollten wir dem jungen Paar allein gönnen, so gingen mein Mann und ich ein wenig um die Station herum spazieren. Nach etwa einer halben Stunde erreichten wir den Friedhof der Mission, der etwas außerhalb lag. Als wir uns ihm näherten, hörten wir lautes Schluchzen. Dann sahen wir Julie vor einem Grab kniend bitterlich weinen. Neben ihr stand ein älterer Missionar. Als wir näher kam, ging er uns entgegen und berichtete, dass Julies verlobter vor drei Wochen an der Ruhr gestorben war. Sie hatten versucht ihr zu schreiben, doch der Brief hatte sie nicht mehr erreicht.
Manchmal reicht Weinen einfach nicht aus. Wie soll der Mensch auf solches Elend reagieren? Wie soll die gequälte Seele ihren Frieden finden? Es war Abend, als Julie sich endlich vom Grab ihrer großen Liebe lösen konnte. Ich führte sie zur Kutsche und schweigend fuhren wir zurück zu unserem Haus.
Mein Mann war immer ein sehr frommer Mann gewesen. Obwohl wir jeden Sonntag zur Kirche fuhren, um der Predigt des Pfarrers zu lauschen, hatte er eine eigene kleine Kapelle neben unserem Haus errichtet, in der er täglich in Stille seine Gebete sprach. Am Morgen des nächsten Tages fanden wir Julie betend in der Kapelle. Ich trat zu ihr und fragte, was wir für sie tun könnten. Unter tränen antwortete Julie, dass sie nur zurück nach Hause wolle. Wir brachen sofort auf und brachten sie nach Kapstadt. Bevor sie ihr Schiff bestieg, schloss ich sie noch einmal in meine Arme. Ich habe sie nie wieder gesehen und weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist. So vergingen die Jahre. Mein Sohn kehrte glücklich von seinem Studium zurück und wurde Anwalt wie sein Vater. Schließlich wurde mein Mann 1864 mit 68 Jahren zu seinem Herrn gerufen. Als ich am Tag vor seiner Beerdigung mit dem Pfarrer sprach, erzählte er mir von einem neuen Lied, das er gerade erst aus London erhalten hatte. Es stammte von einer Deutschen. Einen englischen Text gebe es leider noch nicht, aber er findet es sehr schön und glaubt, dass es auch meinem Mann gefallen hätte. Der Pfarrer reichte mir das Blatt mit dem Lied und ich begann zu lesen.
Ich will Dir folgen, wo Du hingehst.
Julie von Hausmann
So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Bis an mein selig Ende
Und ewiglich.
Ich mag allein nicht gehen,
Nicht einen Schritt;
Wo Du wirst geh’n und stehen,
Da nimm mich mit.
In Dein Erbarmen hülle
Mein schwaches Herz,
Und mach’ es endlich stille
In Freud’ und Schmerz.
Laß ruh’n zu Deinen Füßen
Dein armes Kind,
Es will die Augen schließen
Und glauben blind.
Wenn ich auch gar nichts fühle
Von Deiner Macht,
Du bringst mich doch zum Ziele
Auch durch die Nacht.
So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Bis an mein selig Ende
Und ewiglich!
Als ich geendet hatte liefen mit wieder Tränen über die Wange. Ich wusste nun, dass Julie ihren Frieden gefunden hatte. Mit zittriger Stimme bat ich den Pfarrer dieses Lied singen zu lassen. Als am nächsten Morgen Julies Worte über den Friedhof klangen, fühlte ich, dass auch mein Mann seinen Frieden gefunden hatte und ich ihn getrost zu seinem Herrn gehen lassen konnte.
Die Geschichte ist eine Legende. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Julie Katharina von Hausmann je in Afrika gewesen ist, oder eine Beziehung mit einem Missionar hatte. Doch es ist eine alte und schöne Legende über eine wunderschönes Lied. Julie Katharina von Hausmann (1826 – 1901) hat uns mit ihrem 1862 erschienenen Lied ein Geschenk gemacht, das wir in Ehren halten sollen.