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Befreit
Befreit
Eine unmögliche Geschichte über das eine Mal
Ich stand an der Bushaltestelle und pfiff in unregelmässigen Abständen ein paar schiefe Töne zwischen meinen Lippen hervor. Ich dachte mir nichts weiter. Es war auch gar nichts zu denken da. Es stand nichts besonderes an. Weder alltägliches, noch existentialistisches. Plötzlich neigte sich eine ältere Dame zu mir hinüber und sprach einen seltsamen Satz zu mir. Nicht nur, dass der Satz an sich seltsam war, es war auch die Art und Weise wie sie ihn aussprach und vor allem die ganze Situation war dadurch auf einmal völlig lächerlich. Total irreal. Die zwei anderen Menschen, die ebenfalls auf den Bus warteten, sahen mich an, nur um sich im nächsten Augenblick wieder wegzudrehen. Verstehen Sie, einfach so ein typischer "Was war jetzt, war jetzt was?"-Moment. Ich drehte mich um und sah der Dame ins Gesicht. Sie lächelte nur. Ich fragte sie, ob sie gerade etwas gesagt hätte und sie zwinkerte mir zu. Verstand ich schon wieder nicht. Ich meine, warum sagt eine ältere Frau - und sie war wirklich mindestens sechzig, wenn nicht älter - aus heiterem Himmel so einen Satz zu einem Wildfremden und zwinkert einem dann auch noch dämlich zu? Die beiden anderen sahen mich wieder an und eine musste dann anscheinend irgendwie grinsen, ob des Satzes oder wegen mir oder wegen der ganzen bescheuerten Situation, ich weiß es nicht. Ich forderte die Dame also freundlich auf, den Satz zu wiederholen, weil ich ihn nicht richtig verstanden hatte. Sie lachte aber nur und stieg dann auch gleich in den Bus, der mittlerweile gekommen war. Ich stieg jetzt natürlich nicht ein. Machte mich doch hier nicht zum Blödian. Wart ich halt auf den nächsten oder geh zu Fuß. Ja, wart ich jetzt auf den nächsten oder geh ich zu Fuß? Gute Frage. Eigentlich musste ich ja gar nirgends hin. Ich meine, nicht wirklich. Ich hätte natürlich wohin fahren wollen, aber musste ich ja nicht. Vor allem jetzt nicht mehr.
Was hatte sie gesagt? War es das, was ich glaubte zu hören? Wenn ja, gehörte die Alte doch in's Irrenhaus. Je länger ich über den Satz oder zumindest über das, was ich mir eingebildet hatte gehört zu haben, nachdachte, umso mehr ärgerte ich mich über die alte Kuh. Wie kam sie dazu, so etwas zu mir zu sagen, noch dazu in aller Öffentlichkeit und wo sie mich doch überhaupt nicht kannte? Es half nichts. Es ließ mich zwar nicht los, aber ich würde jetzt sowieso nicht mehr herausfinden, was und warum sie es gesagt hatte. Ich ging also quer über die Straße, steckte meine Hände in die Hosentaschen und ...
Wie soll ich das jetzt beschreiben? Sie wissen sicher nicht wie das ist. Man weiß einfach nicht, wie so etwas ist, weil so etwas ganz einfach nicht passiert. Jeder hat sich so etwas schon mal gedacht, aber es passiert ja nicht. Nie. Bis auf einmal. Dieses lächerliche, dämliche, zum Himmel schreiende, blöde eine Mal. Was macht man dann? Was würden Sie tun? In Ohnmacht fallen? Schreien? So schnell laufen, wie einem die Beine tragen? Oder einfach lachen? Na, ich werde ihnen sagen, was ich getan habe.
Ich ging also quer über die Straße, meine Gedanken noch bei der Alten und ihrem saublöden Satz, steckte meine Hände in die Hosentaschen ... wollte(!) meine Hände in die Hosentaschen stecken und ... ich muss es wohl nicht beim Namen nennen.
Mein Körper erstarrte augenblicklich. Ich tat für einige Sekunden rein gar nichts. Wagte es nicht, an mir herab zu sehen. Ich stand einfach da, mitten auf der Kreuzung, mitten im Leben, mitten in der Bewegung eingefroren. Einen Moment zuvor hatte ich noch das Schaufenster gegenüber im Visier gehabt. Meine Augen waren zwar immer noch auf diesen Punkt gerichtet, nahmen aber nichts mehr wahr. Nur noch stumpfe Knöpfe in einem hohlen Kopf. Mein Gehör war betäubt. Wären meine Ohren aufnahmebereit gewesen, hätten sie jetzt allmählich das Lachen und vereinzelte Hupen rings um mich, an mein doofes Hirn weitergeleitet. Es kam aber nichts. Auch meine Fähigkeit zu denken, kam erst viel später wieder auf. Die nächsten Augenblicke erlebte ich wie in Trance. Ich richtete mich langsam auf und stellte meinen Fuß, der ja noch aus der Bewegung heraus dreissig Zentimeter vor mir stand, neben mein anderes Bein. Ich hob meinen Kopf und zog jetzt, zum ersten mal nach einer Ewigkeit, wieder etwas Luft in meine dünnen Lungen. Mein Kopf wandte sich nach rechts, mein Körper folgte. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich spürte den warmen Asphalt unter meinen Sohlen. Meine zaghaften Schritte führten mich quer über die Straße, vorbei an den langsamer werdenden Autos, zurück auf den Gehsteig. Vereinzelt dachte ich, Pfiffe oder Rufe zu hören, kann aber auch gut sein, dass ich das mehr an den Gesichtern der Menschen abzulesen glaubte, die ich jetzt kaum, aber eben doch, wahrzunehmen schien. Sie sahen mich an. Blieben stehen und drehten sich nach mir um. Gedanken wie "Was, wenn mich jemand sieht, der mich kennt?" oder "Was, wenn mir jemand androht, mich zu verprügeln?" oder "Was, wenn ein Polizist aufkreuzt und mich verhaftet?", Gedanken also, die jedem normalen Menschen in den Sinn gekommen wären, blieben mir in diesen Augenblicken völlig fern. Je länger sich diese Sekunden auch hinzogen, desto ruhiger wurde ich innerlich sogar.
Ich spazierte die Einkaufsstraße hinunter und genoß den warmen Wind, der sich zwischen meinen Beinen hindurchzwängte. Die Blicke der Passanten kümmerten mich zusehends immer weniger. Mein Gang wurde immer beschwingter, fast hätte ich Lust gehabt zu springen und zu laufen, aber ich hatte es ja nicht eilig. So tänzelte ich einfach nur den Weg entlang und ein dickes, fettes Grinsen machte sich in meinem Gesicht bemerkbar, während ich mir den, jetzt gar nicht mehr so seltsam klingenden Satz der Alten, ins Gedächtnis rief: "Ja ja ... das hab ich früher auch mal gemacht. Befreit, gell?"