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Befreit

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12.01.2003
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Befreit

Befreit

Eine unmögliche Geschichte über das eine Mal


Ich stand an der Bushaltestelle und pfiff in unregelmässigen Abständen ein paar schiefe Töne zwischen meinen Lippen hervor. Ich dachte mir nichts weiter. Es war auch gar nichts zu denken da. Es stand nichts besonderes an. Weder alltägliches, noch existentialistisches. Plötzlich neigte sich eine ältere Dame zu mir hinüber und sprach einen seltsamen Satz zu mir. Nicht nur, dass der Satz an sich seltsam war, es war auch die Art und Weise wie sie ihn aussprach und vor allem die ganze Situation war dadurch auf einmal völlig lächerlich. Total irreal. Die zwei anderen Menschen, die ebenfalls auf den Bus warteten, sahen mich an, nur um sich im nächsten Augenblick wieder wegzudrehen. Verstehen Sie, einfach so ein typischer "Was war jetzt, war jetzt was?"-Moment. Ich drehte mich um und sah der Dame ins Gesicht. Sie lächelte nur. Ich fragte sie, ob sie gerade etwas gesagt hätte und sie zwinkerte mir zu. Verstand ich schon wieder nicht. Ich meine, warum sagt eine ältere Frau - und sie war wirklich mindestens sechzig, wenn nicht älter - aus heiterem Himmel so einen Satz zu einem Wildfremden und zwinkert einem dann auch noch dämlich zu? Die beiden anderen sahen mich wieder an und eine musste dann anscheinend irgendwie grinsen, ob des Satzes oder wegen mir oder wegen der ganzen bescheuerten Situation, ich weiß es nicht. Ich forderte die Dame also freundlich auf, den Satz zu wiederholen, weil ich ihn nicht richtig verstanden hatte. Sie lachte aber nur und stieg dann auch gleich in den Bus, der mittlerweile gekommen war. Ich stieg jetzt natürlich nicht ein. Machte mich doch hier nicht zum Blödian. Wart ich halt auf den nächsten oder geh zu Fuß. Ja, wart ich jetzt auf den nächsten oder geh ich zu Fuß? Gute Frage. Eigentlich musste ich ja gar nirgends hin. Ich meine, nicht wirklich. Ich hätte natürlich wohin fahren wollen, aber musste ich ja nicht. Vor allem jetzt nicht mehr.

Was hatte sie gesagt? War es das, was ich glaubte zu hören? Wenn ja, gehörte die Alte doch in's Irrenhaus. Je länger ich über den Satz oder zumindest über das, was ich mir eingebildet hatte gehört zu haben, nachdachte, umso mehr ärgerte ich mich über die alte Kuh. Wie kam sie dazu, so etwas zu mir zu sagen, noch dazu in aller Öffentlichkeit und wo sie mich doch überhaupt nicht kannte? Es half nichts. Es ließ mich zwar nicht los, aber ich würde jetzt sowieso nicht mehr herausfinden, was und warum sie es gesagt hatte. Ich ging also quer über die Straße, steckte meine Hände in die Hosentaschen und ...

Wie soll ich das jetzt beschreiben? Sie wissen sicher nicht wie das ist. Man weiß einfach nicht, wie so etwas ist, weil so etwas ganz einfach nicht passiert. Jeder hat sich so etwas schon mal gedacht, aber es passiert ja nicht. Nie. Bis auf einmal. Dieses lächerliche, dämliche, zum Himmel schreiende, blöde eine Mal. Was macht man dann? Was würden Sie tun? In Ohnmacht fallen? Schreien? So schnell laufen, wie einem die Beine tragen? Oder einfach lachen? Na, ich werde ihnen sagen, was ich getan habe.

Ich ging also quer über die Straße, meine Gedanken noch bei der Alten und ihrem saublöden Satz, steckte meine Hände in die Hosentaschen ... wollte(!) meine Hände in die Hosentaschen stecken und ... ich muss es wohl nicht beim Namen nennen.

Mein Körper erstarrte augenblicklich. Ich tat für einige Sekunden rein gar nichts. Wagte es nicht, an mir herab zu sehen. Ich stand einfach da, mitten auf der Kreuzung, mitten im Leben, mitten in der Bewegung eingefroren. Einen Moment zuvor hatte ich noch das Schaufenster gegenüber im Visier gehabt. Meine Augen waren zwar immer noch auf diesen Punkt gerichtet, nahmen aber nichts mehr wahr. Nur noch stumpfe Knöpfe in einem hohlen Kopf. Mein Gehör war betäubt. Wären meine Ohren aufnahmebereit gewesen, hätten sie jetzt allmählich das Lachen und vereinzelte Hupen rings um mich, an mein doofes Hirn weitergeleitet. Es kam aber nichts. Auch meine Fähigkeit zu denken, kam erst viel später wieder auf. Die nächsten Augenblicke erlebte ich wie in Trance. Ich richtete mich langsam auf und stellte meinen Fuß, der ja noch aus der Bewegung heraus dreissig Zentimeter vor mir stand, neben mein anderes Bein. Ich hob meinen Kopf und zog jetzt, zum ersten mal nach einer Ewigkeit, wieder etwas Luft in meine dünnen Lungen. Mein Kopf wandte sich nach rechts, mein Körper folgte. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich spürte den warmen Asphalt unter meinen Sohlen. Meine zaghaften Schritte führten mich quer über die Straße, vorbei an den langsamer werdenden Autos, zurück auf den Gehsteig. Vereinzelt dachte ich, Pfiffe oder Rufe zu hören, kann aber auch gut sein, dass ich das mehr an den Gesichtern der Menschen abzulesen glaubte, die ich jetzt kaum, aber eben doch, wahrzunehmen schien. Sie sahen mich an. Blieben stehen und drehten sich nach mir um. Gedanken wie "Was, wenn mich jemand sieht, der mich kennt?" oder "Was, wenn mir jemand androht, mich zu verprügeln?" oder "Was, wenn ein Polizist aufkreuzt und mich verhaftet?", Gedanken also, die jedem normalen Menschen in den Sinn gekommen wären, blieben mir in diesen Augenblicken völlig fern. Je länger sich diese Sekunden auch hinzogen, desto ruhiger wurde ich innerlich sogar.
Ich spazierte die Einkaufsstraße hinunter und genoß den warmen Wind, der sich zwischen meinen Beinen hindurchzwängte. Die Blicke der Passanten kümmerten mich zusehends immer weniger. Mein Gang wurde immer beschwingter, fast hätte ich Lust gehabt zu springen und zu laufen, aber ich hatte es ja nicht eilig. So tänzelte ich einfach nur den Weg entlang und ein dickes, fettes Grinsen machte sich in meinem Gesicht bemerkbar, während ich mir den, jetzt gar nicht mehr so seltsam klingenden Satz der Alten, ins Gedächtnis rief: "Ja ja ... das hab ich früher auch mal gemacht. Befreit, gell?"

 

Tja, was soll ich sagen?
Was sagt man, wenn man nicht weiß, was man sagen soll?

Sehr gute Geschichte bis zu dem kurzen Hosentaschen-Absatz kurz nach der Mitte. - Wirklich ausgezeichnet!
Ab da ist die Geschichte zwar noch immer sehr gut erzählt, aber leider auch unglaubwürdig.

Was mir sehr gut gefällt, ist die Tatsache, dass du mit keiner Silbe beschreibst, was wirklich los ist, obwohl es allen Beteiligten klar vor Augen liegt.
Das ist genau das, was mir an geschriebenen Geschichten so gefällt, und was mich beim Film oft stört: Der Autor kann den Leser über ganz offensichtliche Dinge im Unklaren lassen, und erziehlt damit oftmals sehr beeindruckende Effekte. Genau das ist Dir wahrlich meisterhaft gelungen!


Liebe Grüße
Hubert

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Hubert,

Danke für's Lesen und Kommentieren!
Genau dieser Umstand, dass man mit geschriebenen Geschichten etwas erzählen kann, was in einem Film auf gleiche Weise niemals möglich wäre, ist es, was mich am Schreiben derzeit wirklich zu faszinieren beginnt.
Ich schreib ja noch nicht wirklich lange, d.h. schreiben an sich schon, aber an Kurzgeschichten versuch ich mich erst seit ein paar Wochen. Eigentlich bin ich Filmer (Animateur-Filmer im NoBudget-Bereich) und hab bis jetzt immer nur im Drehbuchstil gedacht. Aber mit einer Geschichte, die nicht von vornherein für eine Verfilmung gedacht ist, kann man nicht nur viel freier schreiben, sondern auch das ausschließliche Medium (Papier, Bildschirm) gezielt für seine Geschichte nutzen, weil man durch Umschreibungen, Metaphern, Weglassen bestimmter Details, etc. eine Story so verformen kann, dass deren Effekt einzig und allein beim Lesen aufkommt. Das find ich derzeit ziemlich spannend und bin auch heftig am Experimentieren diesbezüglich.
Dass mein Stil noch alles andere als "meisterhaft" ist, ist mir natürlich klar. Tut aber trotzdem gut, das eine oder andere lobende Wort zu hören. :)

Grüße
Visualizer

Ach ja:

Was mir sehr gut gefällt, ist die Tatsache, dass du mit keiner Silbe beschreibst, was wirklich los ist
Danke, dass du das in deinem Posting auch so hältst, dann bleibt den "Antworten-vor-der-Geschichte"-Lesern auch noch ein kleiner Spaß übrig. :thumbsup:

 

Hallo Visualizer!

Ich kenne mich zwar wieder mal nicht aus, aber was solls. Vielleicht gefällt mir diese Geschichte gerade deshalb. Allerdings finde ich, dass die "Leserverwirrung" nicht überstrapaziert werden sollte. In diesem Fall ist die Gratwanderung aber gelungen. :)

Gut finde ich, dass der Prot. plötzlich aus dem Alltag gerissen wird. Alles verläuft "normal" und von einer Sekunde auf die andere scheint nichts mehr so wie es sein soll. Spannendes Thema.

Ein Rätsel bleibt, warum der Prot. durch einen solchen Satz derartig aus der Fassung gerät. Und natürlich frage ich mich, was denn nun so erleichtert. Tja, da bleibt wohl einiges an Interpretationsspielraum. Hast du eigentlich ein bestimmtes Bild im Kopf, was in der Geschichte passiert, oder hast du selbst keine genaue Vorstellung?

Sprachlich ist die Geschichte ok. "Die Alte" oder "die Kuh" finde ich allerdings nicht zum Text passend. Das wirkte auf mich beim Lesen eher abstoßend.

lg
klara

 

Hi klara,

schön, dass du wieder zu einer meiner Geschichten gefunden hast und dass sie dir sogar gefällt (obwohl du scheinbar gar nicht so genau weisst, warum). ;)

Hast du eigentlich ein bestimmtes Bild im Kopf, was in der Geschichte passiert, oder hast du selbst keine genaue Vorstellung?
Also bisher hatte ich immer ein ziemlich genaues Bild, was in meinen Geschichten passiert. :)
So natürlich auch hier. Nachdem Hubert bereits gesagt hat, dass ich es zwar mit keiner Silbe beschreibe, es aber eh allen Beteiligten klar vor Augen liegt, hatte ich angenommen, dass es diesmal wirklich klar ist. Ursprünglich hatte ich es sogar im Text geschrieben, hab's dann aber wieder gelöscht, weil ich es so unterhaltsamer fand.
Sag halt noch einmal Bescheid, falls du es wissen willst und dir deine Interpretation nicht reichen sollte, um gut schlafen zu können. ;)

Grüße
Visualizer

Vielleicht noch ein kleiner Hinweis: Der Schlüssel ist, dass der Protagonist seine Hände in die Hosentaschen stecken wollte(!) ... :D

 

Ähm Visualizer,

nach einer schlaflosen Nacht ersuche ich um Aufklärung. Also, ich meine, ich kam ja schon auf ein paar Interpretationen, aber irgendwie ergaben sie keinen richtigen Sinn bzw. gefiel mir so die Geschichte nicht mehr.

Vielleicht lässt du mich lieber im Unklaren. Andernfalls könnte ich den Text, naja, vielleicht komplett daneben finden. Hmm, dein Risiko .. ;)

klara

 

Tja, das möcht ich natürlich nicht, dass du einen meiner Texte komplett daneben findest. Also behalt ich's wohl doch lieber für mich. :D
Denn dass die Geschichte keinen "richtigen Sinn" ergibt bzw. streng genommen äußerst unrealistisch ist, das ist schon so. Deshalb steht sie ja auch nicht umsonst unter "Seltsam".
Aber ist sie deswegen wirklich weniger interessant? :hmm:

Grüße
Visualizer

 

Aber ist sie deswegen wirklich weniger interessant?

Das könnte ich wiederum nur klar beantworten, wenn ich genau wüßte, worum es geht. Ich gebs auf ... Vielleicht checken den Inhalt ja andere.

lg
klara

ps: :bonk:

 

Hallo Visualizer!

Wer die Kritiken zuerst liest, ist selber schuld, wenn ihm dann der Überraschungsmoment fehlt. Aber diskutieren muß man schon können. ;)

Also mir schien klar, worum es sich handelt, bis ich das Zitat las.
Übrigens solltest Du das Rufzeichen bei "wollte entfernen - daß es kursiv ist, reicht völlig aus.
Für mich las es sich so, als hätte Dein Protagonist irgendwie die Hose vergessen. Steht er in der Unterhose bei der Haltestelle?
Wenn Du das so meintest, paßt das Zitat wahrlich nicht. Warum sollte es befreiend sein? Daß es "befreit" läßt eher auf anderes schließen, wozu aber dann die Geschichte nicht so passen würde.
Aber ich denke doch, daß Du die Hose meintest, da ja auch der Wind um die Beine weht...

Hab ich gewonnen? :D

Alles liebe,
Susi

 

Nicht aufgeben, klara! :lol:

Hallo Häferl!

Ich hab jetzt kurz überlegen müssen, was du mit "Zitat" meinst, dachte kurz du meinst meinen Hinweis auf den Satz mit wollte(!) (das Rufzeichen bleibt übrigens, wie man sieht reicht das ja auch noch nicht ;D), denke jetzt aber, dass du den Satz der "Alten" meinst. Versteh allerdings nicht, warum du den Satz unpassend findest.

Also, aufgepasst liebe klara: In meiner Phantasie ist der Protagonist ... und ich nenn es jetzt beim Namen ... ganz schlicht und ergreifend nackt!

Oh Mann! Visualizer, du Idiot! Was soll denn dieser unrealistische Schwachsinn?! Wie kann denn dein Protagonist nackt sein, ohne es zu merken? Das ist doch einfach nur Blödsinn!!! :mad:

@ Häferl
Ob's jetzt nur die Hose oder doch die ganze Kleidung ist, ist mir ehrlich gesagt egal, kannst du dir vorstellen, wie du möchtest, seh ich nicht so eng. Ich hatte es so gedacht, dass die "alte Frau" in ihrer Jugend "geflitzt" ist und jetzt, da sie den Nackten an der Bushaltestelle sieht, ihm seine augenzwinkernde Verbundenheit ausdrücken möchte.

@ klara
Da hast ein Pflaster, für den wunden Kopf ... :sealed: ... ups, bisschen tief gerutscht.

Grüße
Visualizer

 

@Visualizer, ja, ich hab mit "Zitat" den Satz der Alten gemeint. Und ich finde ihn wirklich unpassend.
Es ist unglaubwürdig, daß eine alte Frau in ihrer Jugend geflitzt ist, sie wäre vermutlich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses weggeräumt worden...

Vielleicht fällt Dir ja ein sinnvollerer Satz ein? Z.B. "Ihr Männer arbeitet jetzt aber auch schon mit allen Mitteln."

Alles liebe,
Susi

 

Also wenn's nur das ist, was dich stört ...
Die ersten ("dokumentierten") Flitzer sind meines Wissens nach in den 60ern aufgetaucht (wird's aber wohl, in der einen oder anderen Form, "immer" schon gegeben haben, denkst du nicht?). Wenn sie damals, sagen wir mal 25 war (denn Teenager hätten sich das damals vermutlich noch nicht getraut), wäre sie heute runde 60. Aber auch wenn sie nur 50 wär, fänd ich's nicht so schlimm, denn immerhin erzählt der Protagonist aus seiner subjektiven Empfindung heraus. Da kann man, aus purem Ärger heraus, doch gern schon mal eine 50-Jährige als "alte Kuh" bezeichnen oder? ;)
Ausserdem: Was spricht denn dagegen, wenn sie wegen "Erregung öffentlichen Ärgernisses" verhaftet worden wäre? Kann ja so gewesen sein. Wer weiß das schon alles so genau. ;)

Dein Alternativ-Satz ist aber auch nett.

Grüße
Visualizer

 

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