Beerdigung Ost-West
Ein langer Weg liegt hinter uns. Das Wetter ist trüb. Grauer Novemberhimmel über naßkalter Landschaft. Beklommenheit im Herzen. Wir haben sie lange nicht gesehen. Sie haben uns lange nicht gesehen. Wie werden sie sein? Wie werden wir für sie sein? Kalter Wind fegt durch unsere Haare. Traurigkeit windet sich wie eine Ranke um die Brust. Beerdigungswetter.
Unsere Mäntel sind uns Wetterschutz. Doch wer schützt unsere Herzen?
Da kommen sie. Sie tragen schwer an Blumengestecken. Kostbare Schleifen mit Abschiedssprüchen verkünden Trauer.
Wo ist denn meine Schwester? ...Die hätte ich nicht erkannt.
Aber natürlich hättest du.
Meinst du?
Ganz bestimmt. Hätte ich ja sogar.
Und der, der sieht ja gut aus. Gar nicht so alt wie er ist. Wir haben immer nur geschrieben in den letzten Jahren. ...Doch, zum Geburtstag und so.
Die Witwe ist Hauptperson, heute, und sich ihrer Rolle bewußt. Ihr Gesicht – angemessen traurig. Ihre Tränen – alle schon geweint. Man begrüßt sich. Man hat sich lange nicht gesehen. Die Zeiten ändern sich. Damals gab es Mauern mitten im Land. Doch was zusammen gehörte, konnten sie nicht trennen. Unsichtbare Mauern gab es auch damals schon. Sie trennten langsam und schleichend. Sie trennen heute mehr denn je. Mancher wünscht sich Mauern, Stacheldraht, Hunde, Wachtposten, Todesstreifen und Schießbefehl zurück. Dann wäre wenigstens der Stolz noch geblieben. Aber jetzt? Stolz? Worauf? Auf vierzig Jahre Irrtum? Marschieren für feige Idole? Bespitzeln der eigenen Leute? Apfelsinen vom Westbesuch? Heimliches Fernsehen? Auf Kinderhort und Abtreibungsrecht, gleichberechtigte Frauen und Arbeitsplätze für alle – auf all die mit einem einzigen Federstrich dahingemetzelten sozialen Errungenschaften? Oder hieß es sozialistisch? Dann wenigstens: Stolz auf das Parteibuch – auch wenn es aus Verwandten Fremde machte?
Befangen schaut man sich ins Gesicht – oder auch nicht. Blicke weichen Blicken aus. Hände werden trotzdem geschüttelt. Dem Anlaß konnte keiner ausweichen. Mußten wir uns begegnen?
Kennt ihr uns noch?
Dumme Frage. Natürlich! Kennt ihr uns etwa nicht mehr? Hallo! Wir sind’s. Wir brachten Nylonstrümpfe, Puddingpulver, Kaffee und Ananas in Dosen. Ihr habt gejubelt. Wir waren beschämt, weil wir mehr hatten als ihr. Heute fahrt ihr die gleichen Autos wie wir und glaubt, wir kennen euch nicht. Oh, wenn ihr wüßtet. Wir kennen euch gut. Wir sehen uns – in euch. Heute sind wir alle gleich.
Nur die Löhne nicht. Und die Preise. Natürlich, die auch nicht.
Ach, lieber Onkel, wärst du doch noch nicht gestorben. Du hättest uns manches erspart. Den kalten Novemberwind, zum Beispiel.
Wir rätseln. Wer ist die junge Frau, da drüben? Es ist die Cousine. Apart, apart. Sie floh in den Westen. Als Kind. Im versiegelten Lkw. Mit Mutter und Geschwistern. Dann ist die daneben die Mutter. Es ist die Tante, die Schwester. Lange nicht gesehen. Trotz Westen. Oder gerade deswegen? Oder weshalb sonst?
Ach, sie ist ja so viel jünger. Sie war Omas Liebling. Der Irrtum eines alternden Mutterherzens.
Ist das nicht ein bißchen zu hart?
Meinst du? Ja, vielleicht.
Das Kondolenzbuch wird aufgestellt. Man soll sich eintragen. Was schreibt man denn da? Den Namen, ach so. Tausend krampfhaft gestapelte Sprüche purzeln erleichtert auseinander. Die haben es gut. Wir gehen – zusammen. Wie die Perlen an der Schnur. Wie die Kinder im Kindergarten. Immer zwei beieinander. Die Treppe ist so schmal.
Die Kapelle ist kühl, die Urne vor lauter Blumen kaum zu sehen, die Ansprache gut und lang. Die Witwe schneuzt sich, dem Sohn zittern die Schultern, dem Enkel das Zöpfchen im Nacken. Keiner weint. Man hält sich preußisch. Das war schon immer so in der Familie. Der Duft der Blumen macht schwindelig. Oder liegt es an etwas anderem? Die rote Rose liegt ruhig auf unserem Schoß; der Asparagus daneben zittert.
Gesittet geht man zum Grab. Sehr feierlich das alles. Öllichter hinter Glas spenden keine Wärme. Aber Trost.
Die Rose wechselt den Schoß.
Mutter Erde hat ihre Arme geöffnet. Sie nimmt, was ihr gegeben wird. Urne, Rosen, Erde und Tränen. Beklommenheit gibt sie zurück.
Das Grab liegt am Ende einer Sackgasse. Sie füllt sich mit denen, die kondoliert haben. Verlegenheit kommt auf. Man weicht aus durch die Büsche. Einer der Träger ist behilflich. Man steht und wartet. Die Witwe verharrt vor dem Grab.
Zaghafte Gespräche.
Und so sehen wir uns wieder?
Laß uns nicht darüber reden.
Nein, ist schon gut.
Wir haben demnächst Goldene Hochzeit.
Ach so?
Ja, wie wär’s?
Wie soll ich dahin kommen? - Ist das hier nicht der falsche Ort für fröhliche Einladungen?
Ich wollt’s ja nur sagen.
Na laß, er war schon immer so.
Wer ist die junge Frau?
Die?
Ja?
Die Schwiegertochter seiner Lebensabschnittsgefährtin.
Nicht seine Tochter?
Nein, seine Tochter ist die mit dem Zopf.
Hertalein! Ja, Hertalein. Du bist alt geworden. Daß du gekommen bist. ...Das ist meine Tochter. ....Und das ist meine Cousine.
Cousine? Von welcher Tante die Tochter?
Na, von Tante Helga.
Ach, von Omas Schwester
Ja, genau.
So, so.
Na, kommt man. Jetzt gehen wir einen Kaffee trinken.
Die Sitzordnung. Oh die Sitzordnung!
Wer sitzt wo? Die Witwe bei ihren Kindern. Und die mit den Enkelkindern.
Und deine Geschwister, Onkel, wo sitzen die?
Man sah sich, man sieht sich nicht. Da soll man nun zusammen sitzen? Es wird eine Lösung gefunden. Salomonisch geradezu: Wir nehmen die neuen Verwandten. Die Kinder der Lebensabschnittsgefährtin. Keine gemeinsame Geschichte mit uns. Unverfänglich ungefährlich. Erleichterung auf allen Seiten. Wozu Mauern, wenn es neue Familienmitglieder gibt? Eineinhalb Stunden nettes Gespräch. Man lernt sich kennen, entdeckt Gemeinsamkeiten.
Dickköpfiger Sohn? Ja, genauso mach ich das auch. Aber nachts schläft er durch? Ja, unserer auch. Klettert überall hoch? Kennen wir.
Man hört ja von Beerdigungsfeiern, da geht es lustiger zu als auf Hochzeiten.
Soll es geben! ...Blick in die Runde. ...Aber hier?
Ihr versteht euch aber gut.
Tun wir. Uns trennte ja auch keine Mauer. Weil wir nicht wußten, daß wir hüben und drüben waren. Weil wir jung sind und die alten Parolen nicht lange in unseren Köpfen verweilen konnten.
Wozu alte Parolen auf Fahnen vor uns tragen, wenn wir neue gemeinsame Sorgen haben?
Abschied.
Kommt gut nach Hause - ihr habt ja eine lange Fahrt.
Das werden wir schon.
Die Witwe und den Sohn gedrückt, den Enkel verabschiedet. Allen die Hand gegeben. Haben wir keinen vergessen? Doch den einen oder anderen wohl.
Seid nicht böse, war keine Absicht.
Wir sahen uns zuletzt vor dreißig Jahren.
Kurz danach verließet ihr das Land hinter der Mauer und suchtet ein besseres Leben.
Deshalb hatten wir mit Euch nichts, mit denen hinter der Mauer aber immer noch genug zu tun.
Was also hätten wir uns nun zu sagen?
Guten Tag und Aufwiedersehen.
Was hätte der Onkel zu all dem gesagt?
Er hatte eine schöne Trauerfeier.
Er hätte seinen Spaß gehabt.