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Beelzebub
Als wir uns das erste mal nach den Semesterferien wieder sahen und Melanie nebst ihren Reiseerlebnissen in Ghana von ihrer neuen afrikanischen Zwiebelsuppe schwärmte, hatten wir sie zuerst belächelt, aber schliesslich gelang es ihr, uns davon zu überzeugen, dass es sich um einen besonderen Gaumenschmaus handelte, und wir es bis an unser Lebensende bereuen würden, wenn wir ihrer Einladung zum Essen nicht folgten.
Ich brachte das Brot mit, und Susanne die Getränke. Auf dem Herd kochte schon der Wassertopf, und wir sahen zu, wie Melanie aus einem braunen Stoffsack viele kleine rote Kugeln ins Wasser kullern liess.
„Sind aber komische Zwiebeln", fand ich.
„Sehen eher aus wie Kirschen", bestätigte Susanne.
„Ja, ihr habt recht. Ich nenne sie nur Zwiebeln, weil sie so zwiebelig schmecken", erklärte Melanie. „Der richtige Name für diese Früchte ist Öhf le Volo oder so ähnlich. Ich war nie gut in Französisch."
Und mit diesen Worten gab sie die klein geschnittenen Möhren und die Kartoffeln dazu.
„Na, hoffentlich landen wir nicht gleich mit grünen Gesichtern in der Ambulanz", grinste ich.
„Nur keine Angst, ich ess das Zeug schon seit einer Woche und lebe noch, wie ihr seht. Leider sind sie bald alle, und hier in Deutschland gibt´s die nicht zu kaufen."
„Tust du da kein Salz rein?", fragte Susanne.
„Nein, das darf man nicht. Die Dinger sind sehr empfindlich. Der Verkäufer hat mir das erklärt. Hab ich trotzdem mal gemacht, und dann sind sie verschrumpelt, waren ungeniessbar. - So, das muss jetzt eine halbe Stunde kochen."
Das Telefon klingelte, und Melanie ging ins Wohnzimmer. Nach dem, was sie sagte, zu urteilen, war am anderen Ende der Strippe ihre Ma und fragte die all die Dinge, mit denen gewisse Mütter ihre Töchter so gerne in den Wahnsinn treiben: Ob man auch fleissig lernt, genug zu essen hat, sich nicht zu kalt anzieht und welche Jungs man kennen gelernt hat.
Während Melanie litt, machten wir uns über ihre CD-Sammlung her. Es mussten an die hundert Scheiben sein, die da in der Vitrine standen, Melanie hatte im Gegensatz zu mir und Susanne stinkreiche Eltern. Deswegen konnte sie sich auch eine eigene Wohnung leisten, während wir in der WG abhängen mussten. Aber zu unserer Enttäuschung fand sich im Regal nur wenig Aufregendes, Melanie stand offenbar auf Jazz und Typen, von denen keine Sau je was gehört hatte.
Dafür waren ihre DVDs Mainstream. Sogar „Resident Evil" war dabei, was Susanne ganz toll fand, wegen der coolen Hauptdarstellerin. Na ja, ich selbst finde Zombies blöd. Wenn schon Horror, dann lieber á lá „Interview mit einem Vampir". Aber da ich keine Spielverderberin sein wollte, liess ich mich breitschlagen, als Susanne darauf bestand, den Film gemeinsam an zu gucken und sich zwischen zwei „Ja"s von Melanie die Erlaubnis holte, ihn ein zu schalten.
Das ziemlich lange Telefongespräch war erst zu Ende, als auf der Mattscheibe schon die Szene mit dem Laser kam, der die Leute im Vorraum klein schnibbelte. Eigentlich kompletter Blödsinn, aber ziemlich spannend gemacht.
„Hey, Sandra", sagte Melanie plötzlich zu mir, „wann hast du dir denn den Bauchnabel machen lassen?" Sie meinte mein Piercing, das durch hoch Rutschen meines T-Shirts sichtbar geworden war.
„Jetzt in den Ferien", erklärte ich.
„Cool. Ich wünschte, ich würde mich das auch trauen."
„Trau dich ruhig. Ich hab kaum was gespürt."
„Nee, nicht deshalb. Ich meine wegen meiner Eltern. Die würden mir das nie erlauben!"
„Red keinen Scheiss, du bist doch über 18! Wenn du willst, gehe ich mit. Ist ganz easy."
„Also ich find Piercings abartig", warf Susanne ein.
„Und was ist dann in deinen Ohren?", fragte Melanie belustigt.
Susanne verdrehte genervt die Augen. „Das ist doch ganz was Anderes."
Im Handumdrehen waren wir in einer hitzigen Debatte über Ohrringe, Piercings und Tattoos, bis plötzlich Melanie wie von der Tarantel gestochen aufsprang:
„Scheisse, ich hab die Eieruhr vergessen!"
Und damit rannte sie in die Küche. Wir hinterher. „Was ist denn los?" fragte ich.
Der Topf brodelte, die roten Kügelchen schwammen obenauf. Allerdings waren sie inzwischen nur noch blassrosa und viel, viel grösser. Melanie riss den Topf von der Herdplatte, dabei bekam sie einen Spritzer ab.
„Ahh, Scheisse!" Sie hielt den verbrühten Finger unter kaltes Leitungswasser.
„Jetzt mach mal wegen der paar Minuten nicht den Stress hier", meinte Susanne. „Sieht doch auch gar nicht so schlecht aus."
„Aussehen nicht, aber der Geschmack ist kaputt", erklärte Melanie. „Ich hab das schon mal um ein paar Minuten verbummelt, und das Zeug wurde ganz hart und roch nach Verwese-Fisch. Und jetzt haben die fast eine ganze Stunde gekocht! Die können wir weg schmeissen."
Sie nahm ein Sieb, goss das Wasser ab, kippte die festen Bestandteile der Suppe in eine Mülltüte, und die Mülltüte kam in den Eimer unter der Spüle.
„Und jetzt?" fragte ich.
„Um die Ecke hab ich einen Italiener gesehen", schlug Susanne vor.
„Nichts da!", rief Melanie energisch. „Ich habe euch extra für diese Suppe eingeladen, und die werden wir auch essen!"
Noch bevor Susanne oder ich was sagen konnten, hatte Melanie auch schon wieder Rüben, Kartoffeln und den braunen Stoffsack hervorgeholt und neues Wasser aufgesetzt.
„Ich schlage Arbeitsteilung vor", sagte Susanne. „Ich kann ja die Möhrchen abkratzen."
„Und ich helf dir die Kartoffeln pellen", fügte ich hinzu.
„Das ist echt nett von euch. Hier." Melanie gab uns je ein Messer, und innerhalb von fünf Minuten waren wir soweit, das kochende Wasser neu zu befüllen.
Diesmal dachten wir alle daran, die Eieruhr, welche übrigens ironischerweise der Form einer Kirsche nachempfunden war, auf „30" aufzuziehen.
Im gleichen Augenblick fing der Mülleimer an, komische Geräusche zu machen. So, als würde jemand drinhocken und grunzen. Wir drei erschraken so synchron, als hätten wir es vorher einstudiert.
„Scheisse, was ist das denn jetzt?", meinte Melanie.
„Deine Zwiebeln sind beleidigt, dass wir sie nicht essen wollen", erwiderte Susanne grinsend.
Das Grunzen ging in ein mehrstimmiges Summen und Klopfen über, und der Eimer begann leicht zu wackeln.
„Hast du Ratten oder Mäuse?", fragte ich.
„Nicht dass ich wüsste."
„Aber irgendwas ist da wohl drin, würde ich mal sagen."
„Hört sich ziemlich aggressiv an, was auch immer das ist", bemerkte Susanne. „Wenn du mir ein grösseres Messer gibst, kann ich ja mal nachsehen."
„Kommt nicht in Frage! Nachher läuft das hier rum! Ich hol lieber braunes Tesa und kleb den Eimer zu!" Melanie lief ins Wohnzimmer, und wir hörten sie in einer Schublade kramen.
In der Zwischenzeit löste sich die Frage nach dem „was" von selbst: Langsam hob sich der Deckel, und drei fingerlange, behaarte Insektenbeine schoben sich aus dem entstehenden Spalt.
„Boah, ne fette Vogelspinne!", rief Susanne so laut, dass es Melanie auch hören konnte. „Wo hast du denn sowas her?"
Doch als mehr von dem Insekt zum Vorschein kam, sahen wir beide, dass es keine Spinne war. Es war eine Fliege.
Wenn auch die grösste Fliege, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Mit roten Augen und blau-glänzendem Panzer.
In normalgrosser Version kannte ich solche blau-metallic-lackierten Ausführungen von Fliegen vom Bauernhof meiner Tante in Paderborn. Dort umkreisten sie mit Vorliebe die Kuhfladen. Oder den Kopf dessen, der da versehentlich reintrat. Aber dieses Ding hier war so gross wie ein Hamster, mir lief es kalt den Rücken runter!
Die Fliege flog mit einem grausig lauten Summen an die Decke und umkrabbelte träge die Deckenleuchte.
„Das nenn ich mal eine Fliege!", meinte Susanne fasziniert. Ich für meinen Teil hatte schon eher zuviel gesehen und ging in den Flur. Fliegen waren auch schon, wenn sie klein waren, nicht mein Ding.
„Na? Angst?", rief Susanne mir hinterher. „Gebt mir eine Fliegenklatsche, und ich löse das Problem." Ich fragte mich, ob sie das ernst meinte.
„Eine Bratpfanne wäre vielleicht besser", schlug ich vor.
Melanie kam zurück, in der Hand eine Rolle braunes Paket-Klebeband. „Baaah!", war alles, was sie zu sagen hatte.
„Hast du ne Fliegenklatsche?", wollte Susanne wissen.
„Nein, sowas besitze ich nicht. Ich mach dann immer das Fenster auf und scheuch die Viecher raus."
„Das ist vielleicht ein Fehler", meinte Susanne. „So eine Fliege legt tausend Eier, und die tausend neuen Fliegen wieder tausend Eier. Ich bin dafür, diesen Apparat zu killen."
„Baaah!", rief Melanie schon wieder. Und diesmal hätte ich es fast auch gerufen: Aus dem Mülleimer kamen weitere Riesen-Fliegen gekrochen und krabbelten aus dem Fussraum unter der Spüle auf den schwarz weiss gefliesten Küchenboden. Einige erhoben sich brummend und summend in die Luft, liessen sich auf den Schränken nieder oder umkreisten die Lampe.
Eine umkreiste den Kopf von Susanne, und jetzt bekam auch sie es mit der Angst zu tun. Sie duckte sich und lief zu uns. Ihre Fliege folgte ihr und setzte sich auf ihren Kopf. Susanne schrie und lief ins Wohnzimmer. Wir hinterher. Ich machte die Tür hinter uns zu.
Inzwischen hatte Susanne sich die Fliege vom Kopf gerissen und in eine Ecke geschleudert. Doch das Insekt erhob sich sofort wieder in die Luft, und nun kam es zu mir! Es landete auf meinem unbedeckten Unterarm, und sofort spürte ich einen stechenden Schmerz.
Meine beiden Freundinnen glaubten wahrscheinlich, ich schrie nur vor Ekel und kamen mir nicht zu Hilfe, als ich das Monster packte und mir versuchte, vom Arm zu reissen. Es war schwerer, als ich dachte, warum tat das denn nur so weh? Der Fliegenrüssel schien fest zu kleben. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass er nicht fest klebte, sondern ein gutes Stück in meine Haut gebohrt war.
In dem Moment war mir der Schmerz egal, und ich zog, so fest ich nur konnte.
Der Rüssel riss ab, und die Beine der Fliege schwirrten erregt. Ich drückte so fest zu, wie ich nur konnte, aber es gelang mir nicht, das Vieh zu zerquetschen. Es fühlte sich an wie eine Blechdose. Also donnerte ich den hässlichen Kopf mit den roten Augen gegen die Wand. Er platzte und hinterliess eine rote Blume auf der weissen Tapete.
„Tut mir leid", murmelte ich gewohngheitsmässig und kam mir gleich darauf ziemlich blöd vor. Gar nichts tat mir leid, immerhin hatte ich gerade ein Monster vernichtet. Eine Mutanten-Fliege. Verdammt, war das eklig, mir war schlecht. Und der Rüssel steckte noch in meiner Haut! Meine Knie wurden weich.
Jetzt kapierten die beiden anderen auch, dass es mir nicht gut ging, und stützen mich auf meinem Weg zur Couch.
„Krass!", fand Susanne. „Was machen wir jetzt?"
„Bitte, einer soll mir dieses Ding rausziehen - sofort!", rief ich, vor Ekel fast vergehend. In meiner Fantasie malte ich mir aus, wie der Rüssel immer noch lebte und irgendein Gift in mich pumpte.
„Ja, klar, nur wie?", meinte Susanne. „Wenn das wieder abreisst, kommen wir ans letzte Stück nicht mehr dran."
„Ist mir gleich, wie ihr das rausholt, aber macht schnell, sonst kotz ich den Teppich voll!!"
Susanne, die zweifellos Mutigste von uns dreien, fing also vorsichtig an, zu ziehen. Ich konnte nicht hinsehen, biss die Zähne zusammen und erwartete den Schmerz.
Und er kam...
Und ich schrie...
Das einzige, was in meinem Leben noch schrecklicher gewesen war, als dieser Schmerz, war, als ein Jahr zuvor beim Zahnarzt der Bohrer in meiner Wurzel abgebrochen war. Aber viel Abstand war nicht dazu.
„Ich lass es besser", meinte Susanne.
„Nein!" Ich kreischte wahrscheinlich wie eine Irre. „Raus damit! Raaaaus!"
Und dann machte es „Plopp", und der Schmerz zog sich langsam zurück.
„Das war´s", sagte Susanne, und ich wagte einen vorsichtigen Blick.
Aus dem Arm floss Blut wie aus einer kaputten Dose mit roter Grütze, aber zumindest war er noch dran. Ich wusste, ich würde noch eine Weile Alpträume haben, dass ich dusche und mir plötzlich dicke schwarze Haare aus dem Arm wachsen. Aber ich war in dem Moment so erleichert, dass ich anfing zu weinen. Na ja, nur für eine Sekunde.
„Hast du Verbandszeug da?", fragte Susanne Melanie. Die hatte sich inzwischen auf dem einen Sofa zusammengerollt wie ein Embryo und schielte vorsichtig zwischen den Knien zu uns rüber.
„Nur Pflaster", antwortete sie. „Aber in der Küche."
„Na, das lassen wir mal besser."
Aus der Küche und aus dem Flur drang ein bedrohliches Summen. Es wurde immer lauter. Die Biester schienen gerade erst richtig wach zu werden.
„Du lagerst wohl radioaktive Abfälle", meinte Susanne grinsend.
Melanies Antwort war nur ein undeutliches Gemurmel.
„Wir sollten machen, dass wir hier rauskommen", schlug ich vor.
„Dazu müssen wir durch den Flur", gab Susanne zu bedenken.
Das Fenster schlug keiner vor, die Wohnung lag im fünften Stock.
„Dann rufen wir eben die Feuerwehr", sagte ich. „Melanie, wo ist das Telefon?"
Wieder nur Gebrabbel.
„Hey, was ist los mit dir? Erde an Melanie, aufwachen! Wir brauchen dein Telefon!"
Melanie sprang auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie lief ein paar Sekunden ziellos im Zimmer umher, als würde sie etwas suchen, dann erbrach sie sich in den Fikuskübel und begann hemmungslos zu heulen.
Sofort war ich bei ihr. „He, was ist denn los?"
„Du hast doch gar nichts abgekriegt", meinte Susanne.
„Von wegen nichts abgekriegt", schluchzte Melanie. „Ich hab das Zeug eine Woche lang gefressen. - Am liebsten würde ich mir den Magen rausreissen."
„Hey, ganz easy", versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Wir wissen doch gar nicht, ob die Viecher wirklich aus deinen Zwiebeln gekommen sind. Es ist sogar ziemlich unwahrscheinlich, du hast sie doch gekocht."
„Ach red doch keinen Scheiss!", erwiderte Melanie. „Das ist doch offensichtlich!"
„Und was sollen das dann für Fliegen sein? Afrikanische Speisefliegen?"
„Warum nicht?", fand Susanne. „Die da unten essen doch, soweit ich weiss, gerne Insekten."
„Ziemlich gefährliche Delikatesse, findest du nicht?"
„In Japan essen sie Kugelfisch. Wenn man den falsch zubereitet, wird man zum Zombie. Und wenn man diese Fliegeneier zu lange kocht, wird man gestochen. Vielleicht sind das ja die berühmten Tsetse-Fliegen. Sandra, fühlst du dich irgendwie müde?"
„Nein!", antwortete ich genervt. „Melanie, verrat doch mal endlich, wo dein Telefon ist."
„Im Flur."
„Satz mit X: Das war wohl nix", seufzte Susanne.
Darauf wusste keiner mehr was zu sagen. Ausser Melanie, die fing nämlich an zu jammern, dass wir alle sterben würden. Susanne brachte sie mit einer gezielten Ohrfeige zum Schweigen.
Susanne, ja... - plötzlich kam mir eine Idee:
„Du hör mal", sagte ich zu ihr, „Die Fliege, die mich so zugerichtet hat. Die hat sich doch zuerst auf deinen Kopf gesetzt."
„Erinner mir bloss nicht daran."
„Ja, aber pass auf: Als sie sich auf meinen Arm gesetzt hat, hat sie sofort zugebissen. Aber in deinen Kopf hat sie nicht gebissen."
„Wahrscheinlich schmeckten ihr meine Haare nicht."
„Genau. Das könnte unsere Rettung sein."
„Hä?"
„Wir ziehen uns dicke Hosen, Jacken und Handschuhe an. So müssten wir es bis ins Treppenhaus schaffen. - Melanie?"
Melanie glotzte nur und schüttelte den Kopf.
„Was ist?"
„Ich... ich geh da nicht raus. Eher warte ich hier drin eine Woche, bis man mich vermisst."
„In einer Woche sind wir alle verdurstet", sagte Susanne. „Ach ja, und noch was, ich muss mal dringend für kleine Mädchen."
„Das Klo ist im Flur."
„Das weiss ich. Ich muss aber trotzdem mal."
„Scheisse."
Susanne grinste. „Wenn wir hier eine Woche abhängen sollen, das auch."
Nach kurzer Diskussion ernannten wir den Fikusbaum, der ohnehin schon was abgekriegt hatte, zu unserer neuen Toilette. War aber einfacher gesagt als getan, Susanne pinkelte sich dabei halb in die Hose und halb auf den Boden.
„Mann, was für eine Sauerei!", ärgerte sie sich.
Ich musste auch mal, das ging aber glimpflich ab, bei Melanie lief der Kübel dann über. Lecker.
Währenddessen hatten wir meine Idee diskutiert. Susanne fand sie gut, und auch Melanie weichte etwas auf. Wir beschlossen, es zu wagen. Susanne perfektionierte den Plan mit dem Vorschlag, dass wir uns auch etwas über den Kopf zogen.
„Ich hab aber nur ein einziges Paar Handschuhe", sagte Melanie.
„Das wird schon gehen", meinte ich. „Die erste von uns muss die Klinken drücken, die anderen können ja die Hände in die Taschen stecken."
Gesagt, getan. Melanies Kleiderschrank war gut gefüllt, so dass neben festen, langen Hosen auch jeder einen Pullover und eine Jacke abkriegte. Wir hatten etwa alle die gleiche Grösse, damit gab es keine Schwierigkeiten.
Ein Problem gab es nur mit mir, ich trug nämlich Sandalen, und das konnte so nicht bleiben, aber Melanies Schuhgrösse war zwei Nummern kleiner als meine Füsse. Irgendwie schaffte ich es schliesslich, mich in ein Paar Stiefel von ihr zu quetschen, die leider auch noch hohe Absätze hatten. - Na ja, bis zum Treppenhaus würde ich das ja wohl schaffen.
Susanne übernahm die Führerschaft und bekam die Handschuhe.
„Also dann, machen wir die Schotten dicht", sagte sie, als wir uns vor der Wohnzimmertür versammelt hatten.
Ich zog mir die Jacke über den Kopf, so dass ich nichts mehr sehen konnte. Dann hörte ich, wie die Klinke runtergedrückt wurde. Es ging los.
Das Summen, bisher gedämpft durch die Tür, schwoll an zu einem Inferno, als sie aufschwang. Es war, als hätte jemand einen Kasten voller Fliegen vor ein Mikrofon gesetzt und den Verstärker aufgedreht.
Und es dauerte auch nicht lange, da hörte ich Summen nicht nur vor mir, sondern auch hinter mir. Keine Frage, ein paar der Fliegen hatten sofort ihren Weg ins Wohnzimmer gefunden.
Susanne ging voran, dicht gefolgt von Melanie, und ich mit meinen ortopädischen Stiefeln bildete das stolpernde Schlusslicht. Gar nicht so einfach, mit gequetschten Füssen auf Stilettos das Gleichgewicht zu halten, während man die Hände in den Hosentaschen hatte und nichts sah.
Ich fühlte, wie ich mehrfach angestossen wurde, als würde mich jemand mit Tischtennisbällen bewerfen. Natürlich wusste ich, was es wirklich war, aber ich stellte mir vor, es seien tatsächlich nur Tischtennisbälle. Das machte es ein wenig erträglicher.
Irgendwann hörte ich Susanne fluchen: „Diese blöde Tür geht nicht auf!"
„Oh Gott, ich habe abgeschlossen!" rief Melanie.
„Wieso das denn?"
„Mach ich immer so. Gewohnheit."
„Und wo ist der Schlüssel?"
„Hängt neben der Tür an der Wand."
„Fuck!"
„Hast du ihn?"
„Nein! Wo an der Wand?"
„Links. In Augenhöhe."
Danach hörte ich eine Weile lang nichts, und es passierte auch nichts. Das Summen um mich herum blieb, ebenso die kleinen Stösse gegen meinen Körper. Mein Unwohlsein stieg sekündlich. Irgendetwas stimmte nicht.
„Was ist los?" fragte ich.
„Ach, verdammt, so geht das nicht, ich muss was sehen!" rief Susanne.
„Nein! Was hast hast du vor?"
„Ah, da ist das Ding ja! Von wegen ‘hängt neben der Tür’!"
Ich hörte das Klacken eines sich öffnenden Schlosses, und dann spürte ich, wie es im Raum deutlich kühler wurde. - Susanne hatte die Tür ins Treppenhaus geöffnet.
Aber zugleich wurde mir klar, dass der Plan unvollständig war. Jetzt konnten die Fliegen auch ins Treppenhaus. Wir würden dort auch noch keine Ruhe vor ihnen haben.
„Ah, verdammt!" hörte ich plötzlich Susanne rufen.
„Was ist?" riefen Melanie und ich wie aus einem Munde.
„Aaaa! Nein! AAAAH!"
Dann spürte ich, wie jemand gegen mich fiel und mich zu Boden riss.
„Helft mir! Mein Auge!", brüllte der Körper. Ich erkannte Susannes Stimme. Dann ging ihr Rufen in unartikuliertes Geschrei über.
Ich brauchte nichts zu sehen, um zu wissen, was geschehen war: Susanne hatte ihre Augen freigemacht, um den Schlüssel zu finden, und nun hatte sie wahrscheinlich einen blau-metallic lackierten Rüssel im Gesicht. - Ich musste ihr helfen, sie hatte auch mir geholfen - aber wie?
Obwohl ich wusste, dass es ein Fehler war, zog ich den Reißverschluss vor meinem Gesicht herunter und wagte einen Blick. Was ich sah, würde mich für den Rest meines Lebens verfolgen:
Susanne wälzte sich auf dem Rücken. Auf ihrem Körper krabbelten vielleicht zehn oder zwanzig Fliegen, kamen jedoch nicht durch den Stoff der Kleidung. Das gleiche galt auch für mich selber. Susannes Kopf aber war frei, und ihr Gesicht teilweise verdeckt von drei Fliegen. Was sie taten war eindeutig.
Ohne gross darüber nachzudenken, riss ich die Hände aus der Tasche, packte eine der Fliegen in ihrem Gesicht und riss sie weg. Blut spritzte mir aus einer leeren Augenhöhle entgegen, und im gleichen Moment landete ein weiteres Mistvieh auf meiner linken Hand.
Ich verlor die Nerven und rannte in Richtung Treppenhaus. Dort sah ich Melanie, wie sie leblos auf dem nächsttieferen Treppenabsatz lag. Drei Fliegen auf ihr. Sie musste wohl versucht haben, die Treppe hinunterzulaufen und war dabei gestürzt. Noch eine Person, der ich vielleicht helfen hätte sollen, aber ich dachte in dem Moment nur an mich selbst.
Ich spürte ein Stechen in der Hand und schlug mit der Handkante gegen die Wand. Das Stechen liess nach, die Fliege fiel von meiner Hand ab und gnädigerweise blieb nichts von ihr in mir stecken.
Ich sah noch, wie mich ein Dutzend Fliegen umkreisten, dann war der Reissverschluss wieder oben, und ich steckte meine Hände wieder in die Taschen. Nichts wie weg hier, war alles, woran ich denken konnte.
Ich hörte, wie eine Tür aufging, und eine ältere Männerstimme beschwerte sich über den Lärm. Sekunden später machte sie selbst welchen.
Die Treppe hinunterlaufen zu wollen, war mir zu risikoreich, ich entschloss mich daher zu einer anderen Vorgehensweise: Ich setze mich auf die Stufen und rutschte auf meinem Hinterteil langsam vorwärts-abwärts. Das war alles andere als angenehm, aber immer noch besser als ein Schädelbruch.
Etwa zehn Fliegen schienen mich zu verfolgen. Ich hörte, wie sie mich umkreisten, während ich mich Stufe für Stufe die Treppe hinunterquälte. Sie lauerten. Warteten, dass ihre Beute einen Fehler machte. Ich beeilte mich, weiterzukommen.
Ich weiss nicht, wann mein Pullover und die Hose auseinanderrutschten, so dass ein Streifen meines Bauches und Rückens freilagen. Aber als ich den kühlen Lufthauch bemerkte, war es schon zu spät.
Es war, als würden mich Hände, die spitze Fingernägel hatten, anfassen.
Und mir dann mehrere Spritzen verabreichen...
Schmerzen und Ekel wetteiferten miteinander um meine Aufmerksamkeit, ich weiss noch, wie ich versuchte, aufzustehen, dann weiss ich nichts mehr.
Ich erwachte in einem Krankenhausbett, meine Eltern an der Bettkante. Mein rechter Arm und meine linke Hand waren verbunden, mein Bauch auch.
Man sagte mir, ich hätte eine Woche lang geschlafen.
Eine weitere Woche lang blieb ich noch in der Klinik. Meine Wunden verheilten ganz gut, auch wenn ich wohl nie wieder einen Bikini anziehen werde.
Melanie ging es gut, sie hatte eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen und besuchte mich einmal. Wir sprachen aber nicht sehr viel. Es hatte sich etwas verändert zwischen uns. Etwas, das schwer in Worte zu fassen ist.
Susanne war tot, und ein paar andere Leute aus dem Haus ebenfalls. Das Gesundheitsamt hatte einige Fragen.
Im Nachhinein schien es mir ziemlich gedankenlos, unbedingt aus der Wohnung entkommen zu wollen, und dabei diesen Horror auch auf andere Menschen loszulassen. Und ich fragte mich, wieso keine von uns dreien auf den Gedanken gekommen war, aus dem Fenster um Hilfe zu rufen. Na ja, nachher weiss man immer alles besser.
Ein paar Lokalzeitungen und RTL berichteten über das Auftreten von Monsterfliegen im Raum Köln. Allerdings ohne Bilder und ohne Tote. Das Gesundheitsamt wusste seine Geheimnisse gut zu hüten. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich über den stümperhaft gemachten Schwachsinn nur gelacht.
Ich habe dieses Erlebnis nicht verarbeitet und bin immer noch in psychiatrischer Behandlung. Aber ich glaube, ich werde die Therapie abbrechen. Etwas sagt mir, dass man mir nicht glaubt, und auf dieser Basis kann ich keine Hilfe erwarten. Auch mit Melanie habe ich schon lange nicht mehr gesprochen. Ich bin allein.
Es war schon September gewesen, und als der Herbst über das Land kam, verebbten auch die Sensationsmeldungen über die Mutanten-Fliegen.
Ich erinnerte mich daran, was Susanne gesagt hatte: Eine Fliege legte tausend Eier, und die dann wieder tausend Eier.
Nächstes Jahr würden wir es ja wissen.